Kapitel 8
Es war bereits Abend, als Jackman endlich mit Marie zusammentraf, und ihrer beunruhigten Miene nach zu schließen, war ihr Gespräch mit Kinder alles andere als gut verlaufen.
Sie setzten sich in sein Büro, und er erzählte ihr von dem zweiten Opfer.
»Die Superintendentin versucht, nichts nach außen dringen zu lassen, bis wir den gerichtsmedizinischen Befund haben. Dann wissen wir mehr.«
»Und wie will sie das machen?« Marie wirkte müde und besorgt.
»In der Gegend um Bracken Holme gab es heute glücklicherweise eine Razzia unter den Feldarbeitern. Unsere Leute bekamen den Tipp, dass neue illegale Einwanderer erwartet werden. Die Superintendentin nimmt es als Erklärung für die erhöhte Polizeipräsenz vor Ort. Bis jetzt funktioniert es, aber es lässt sich natürlich nicht ewig verheimlichen.« Jackman lehnte sich in seinem Stuhl zurück und streckte die Arme über den Kopf, um seine schmerzenden Schultern zu entspannen. »Das Pub liegt abgelegen, und die Leiche befindet sich im Keller, weshalb wir kein Zelt oder sonstigen Sichtschutz brauchen. Das ist von Vorteil.«
»So viel zur letzten Anweisung, möglichst transparent zu arbeiten. Im Moment geht es wohl eher um ein möglichst diplomatisches Vorgehen. Glauben Sie, dass wir es mit dem zweiten Opfer desselben Täters zu tun haben?«
Jackman nickte. »Jacobs hat es angedeutet. Natürlich inoffiziell. Obwohl …« Er hielt inne.
»O nein! Ich höre da ein riesiges Aber!«
Jackman lächelte müde. »Nein, das ist es nicht. Ich bin mir sicher, dass es derselbe Mörder ist. Aber heute hatte ich nicht das Gefühl, dass die Leiche sorgfältig ›präsentiert‹ wurde, wie es bei Alison Fleet der Fall war. Die Frau wurde einfach im Keller entsorgt. Punkt.«
»Dann glauben Sie, dass sie an einem anderen Ort umgebracht wurde?«
»Ja, vermutlich. Es gibt keine Kampfspuren, keine Blutspritzer. Ich würde sagen, der Mörder hat die Leiche ins Drover’s Arms gebracht, weil er wusste, dass dort niemand hinkommt.«
»Und es ist mitten im Nirgendwo.«
»Genau. Sobald wir Jacobs’ Bericht haben, können wir rausfahren und die Anwohner befragen. Aber ohne Panik zu verbreiten. Sobald das Wort ›Serienmörder‹ einmal gefallen ist, bricht ein Orkan los. Und es besteht immerhin die minimale Chance, dass wir den Mörder bereits in Gewahrsam haben.«
»Sicher!«
»Ja, ja. Ich weiß, Ihrer Meinung nach ist er bloß verrückt. Aber meine Tante sagte immer: ›Wenn du glaubst, dass du es kannst, dann kannst du es auch!‹«
»Da hatte Ihre weise Tante natürlich recht, Sir, aber ich glaube immer noch, dass Kinder von dem Gedanken besessen ist, Françoise Thayers teuflische Brut zu sein. Und dass er Skye Wynyard früher oder später zu Hackfleisch verarbeiten würde, wenn er mit ihr allein gelassen wird.« Marie gähnte. »Hat die Superintendentin einem externen Psychologen zugestimmt?«
»Ja, auf ihre eigene barsche Art. Ich glaube, sie ist in dieser Frage auf unserer Seite. Aber das Budget verlangt, dass sie woanders Geld einspart, um die Kosten zu decken.«
»Ich weiß nicht, ob noch etwas zum Einsparen übrig ist«, erwiderte Marie finster. »Wir machen doch bereits eine Fastenkur. Wir sind chronisch unterbesetzt, und unsere Autos sehen aus wie vom Schrottplatz. Selbst unsere tolle Hundestaffel besteht nur noch aus PC Nobby Clarke und seinem halb blinden Deutschen Schäfer Itchy.«
»Der ist wenigstens niedlich.«
»Welchen der beiden meinen Sie?«
»Seien Sie nicht albern!« Jackman warf ihr einen vernichtenden Blick zu. »Nobby Clarke natürlich.«
Marie grinste. Doch dann musterte sie ihn besorgt. »Ist alles in Ordnung, Sir? Der Anblick der toten jungen Frau kann nicht gerade angenehm gewesen sein.«
»Das ist es nie. Aber es geht mir gut. Man gewöhnt sich zwar nicht daran, aber man findet Wege, um damit klarzukommen, nicht wahr?«
Marie nickte. »Ja. Aber vielleicht sollten Sie jetzt trotzdem nach Hause fahren und eine lange, heiße Dusche und einen großen Scotch genießen. In welcher Reihenfolge auch immer.«
»Ja, gleich. Ich glaube, ich habe alles in die Wege geleitet. Ein Beamter geht gerade die Vermisstenanzeigen der letzten zwei, drei Wochen durch, und die Spurensicherung wollte noch einen Bericht schicken. Sobald ich diese Infos habe, kann ich heute ohnehin nichts mehr tun.« Er kratzte sich am Kopf. »Außer vielleicht noch einmal ein Wörtchen mit Daniel Kinder zu reden …«
»Na dann, viel Glück, Sir. Er hat total zugemacht, als ich ihm meine Vermutung an den Kopf geworfen habe.« Marie erhob sich. »Aber vielleicht ist es trotzdem noch einen Versuch wert. Soll ich vielleicht mitkommen? Er hatte gerade sein Abendessen und einen starken Kaffee und sollte wieder glücklich und zufrieden sein.«
Doch Daniel war alles andere als glücklich und zufrieden.
Marie beobachtete ihn, während Jackman ihn befragte, und er wirkte immer noch angespannt.
»Meine Kollegin hat vorhin scheinbar einen Nerv getroffen. Hatte sie recht, was Ihre Sorge um Skye Wynyard betrifft?«
Daniel reckte trotzig das Kinn und schwieg. Dann sagte er: »Nein, der Sergeant hatte nicht recht. Sie hat meine Vermutung, Françoise Thayers Sohn zu sein, ins Lächerliche gezogen. Das hat mich wütend gemacht. Ich verstehe nicht, warum Sie die Wahrheit nicht akzeptieren können!« Seine Augen wurden schmal. »Ich würde vorschlagen, Sie sehen sich mal die Akte im Mordfall Haines und die Gerichtsprotokolle von Françoise Thayers Prozess an. Sie werden feststellen, dass es starke Ähnlichkeiten zum Mord an Alison Fleet gibt. Und nachdem ich das weiß, muss ich wohl dort gewesen sein, oder?«
Jackman schwieg, doch Marie konnte sich nicht zurückhalten. »Ich dachte, Sie könnten sich an nichts erinnern? Der überaus praktische Gedächtnisverlust …«
»Sehen Sie sich einfach mal den alten Fall an. Mehr sage ich heute Abend nicht mehr.« Daniel Kinder verschränkte die Hände im Schoß und starrte, ohne zu blinzeln, auf seine langen, bleichen Finger hinunter.
Jackman warf einen Blick auf die Uhr und erhob sich abrupt. »Ende der Befragung: acht Uhr fünfzehn.«
Vor der Tür schnaubte er wütend. »Ich weiß, wie wir diesem Schwachsinn ein für alle Mal ein Ende bereiten können. Morgen fordern wir sämtliche Unterlagen zu Françoise Thayer aus dem Archiv an und machen einen DNA -Abgleich mit Kinder. Selbst wenn er nichts gefunden hat, was ihm Klarheit verschaffen könnte – wir werden das Rätsel verdammt noch mal lösen!«
PC Kevin Stoner war mittlerweile seit drei Tagen krankgeschrieben und hatte bisher kein einziges Mal das Haus verlassen. Die Arbeit mit Zane Prewett machte ihn beinahe irre, und er hatte keinen blassen Schimmer, was er tun sollte. Andauernd krank zu sein war keine Lösung, aber bis er wieder einen klaren Gedanken fassen konnte, fiel ihm nichts Besseres ein.
Er machte sich auf den Weg, um seine neunjährige Nichte vom Taekwondo abzuholen, und war froh, endlich aus dem Haus zu kommen. In den letzten Stunden hatte er eine unglaubliche Abneigung gegen den Menschen entwickelt, zu dem er geworden war. Zwei Monate mit Prewett hatten einen ziemlich guten Polizisten in einen veritablen Loser verwandelt.
Auf dem Weg zur Sporthalle überlegte er, was seine Kollegen wohl über ihn dachten. Vermutlich hielten sie ihn für einen Schlappschwanz. Niemand mochte Prewett, nicht mal die Vorgesetzten. DI Jackman hatte Kevin letzte Woche sogar beiseitegenommen und ihn gewarnt, sich mit Zane Prewett zusammenzutun. Kevin steckte die Hände tiefer in die Taschen seiner Jeans und seufzte. Er wollte nichts lieber, als endlich von diesem Scheißkerl loszukommen, aber so einfach war das nun mal nicht.
Zwar wusste Kevin einige schlimme Dinge über Prewett, aber der hatte ebenfalls etwas über ihn herausgefunden, und genau darin lag das Problem. Vom ersten Tag an hatte Kevin sorgfältig darauf geachtet, sein Privatleben nicht mit in die Arbeit zu nehmen und vor allem nicht über den Beruf seines Vaters zu reden. Glücklicherweise hatte ihn nie jemand gefragt, ob er mit dem Diözesanbischof Michael Stoner verwandt wäre. Was allerdings kein Wunder war. Die Hälfte seiner Kollegen waren kulturlose Banausen, und die andere Hälfte ging nur zu Hochzeiten und Beerdigungen in die Kirche.
Kevin näherte sich der hässlichen Sporthalle aus grauem Beton und beschloss, mit seinem älteren Bruder zu reden, nachdem er Sophie nach Hause gebracht hatte. Er konnte die Sache nicht mehr länger mit sich herumschleppen, sonst landete er noch im Irrenhaus. Ralph wurde bald dreißig und hatte einen gesunden Menschenverstand, weshalb ihn Kevins Enthüllungen vielleicht nicht mal überraschen würden.
Der schmale Weg führte an einer Reihe von Gartenzäunen vorbei und wurde erst direkt am Spielfeld breiter. Auf der anderen Seite des Feldes lag die Sporthalle. Er war wie üblich zu früh dran, aber in der Halle gab es ein Café, wo es einen hammermäßigen doppelten Espresso gab, und Sophie wusste, dass er dort auf sie warten würde.
»Hallo, Kevin.«
Er war sich nicht sicher, was zuerst kam: die Begrüßung oder der Schlag in die Magengrube.
Er stöhnte schmerzerfüllt auf, sackte nach vorne und schlang sich die Arme um den Oberkörper.
»Auf ein Wort, Kumpel.«
Bevor Kevin wusste, wie ihm geschah, wurde er gepackt und durch ein offenes Tor in einen mit Unkraut überwucherten Garten gezerrt.
»Was zum Teufel …?«, keuchte er. Der Griff um seine Handgelenke war wie Stahl; im nächsten Moment fiel das Gartentor ins Schloss, und er landete mit dem Gesicht nach unten in dem lehmigen Gras. Ein Knie bohrte sich zwischen seine Schulterblätter, und er schrie vor Schmerzen auf.
»Sosehr ich kleine Schlägereien liebe – wir müssen reden.«
Der Druck ließ nach, und Kevin röchelte und wäre beinahe an der feuchten Erde und dem Unkraut in seinem Mund erstickt.
Sein Angreifer riss ihn hoch und steckte ihm einen Finger in den Mund, um auch den letzten Unrat herauszuholen.
Kevin hustete und spuckte.
»Rein da! Das Haus steht schon seit Monaten leer, aber der Schuppen gibt einen netten Rahmen für unsere kleine Unterhaltung.«
Es war eigentlich kein Schuppen, sondern eher ein verfallenes, modriges Sommerhaus, aber ein paar passable Plastikstühle standen noch herum, und in einen davon wurde Kevin nun unsanft gedrückt.
»Rühr dich nicht vom Fleck. Ich will, dass du mir zuhörst.«
Zane Prewett starrte mit kalten, erbarmungslosen Augen auf ihn hinunter. »Ich dachte, wir hätten eine Abmachung, Kev, mein Freund?«
Kevin konnte nichts erwidern. Sein Mund war immer noch voller grobkörniger Erde.
»Weißt du, es wirft kein gutes Licht auf mich, wenn du so oft krankfeierst. Alle auf dem Revier wissen, dass du genau das tust, und schon bald wird ein neugieriger Mistkerl anfangen, Fragen zu stellen, kapiert?«
Kevin nickte kaum merklich.
»Ich will dich zurück. Ich will, dass es wieder kuschelig wird. Und ich will dich wieder lächeln sehen.« Zane grinste, und Kevin wurde übel.
»Bei dir weiß ich, woran ich bin, und ich will nicht dauernd mit irgendwelchen Idioten arbeiten, die sie mir zuteilen. Sie behindern mich in meiner Arbeit, wenn du verstehst?«
O ja, Kevin verstand nur zu gut, was Zane meinte. Er befürchtete, dass jemand seine schmutzigen kleinen Deals melden könnte. Deals, bei denen Kevin jedes Mal ein Auge zudrückte.
Zane zog einen weiteren Stuhl heran, knallte ihn vor Kevin auf den Boden und ließ sich darauf nieder. »Offenbar muss ich dir die Angelegenheit noch mal erklären, aber das ist schon in Ordnung. Wir haben …« Er warf einen Blick auf die riesige Uhr an seinem Handgelenk. »Wir haben noch fünfzehn Minuten, bis die süße kleine Sophie fertig ist.«
Wut kochte in Kevin hoch, aber er wusste, dass er gegen Zanes Größe und schmutzigen Kampfstil nicht ankam. Also biss er sich auf die Zunge und schwieg.
»Gut, ich sehe, wir verstehen einander. Und ich hasse den Gedanken, dass einem so hübschen Kind etwas zustoßen könnte, also lassen wir sie erst mal aus dem Spiel, okay?« Zane lehnte sich zurück und starrte ihn an. »Aber der Rest der Vereinbarung steht. Du bleibst mein ergebener Partner, mein ständiger Begleiter, mein vertrauenswürdiger Helfer, und dein Vater – der Herr sei seiner heiligen Seele gnädig – wird nie erfahren, mit wem du es in deiner Freizeit treibst. Deal?«
Kevin wollte sterben, und es war nicht bloß ein pathetischer Gedanke, sondern erschien ihm wie eine wirklich gute Idee.
»Und falls das nicht reicht …« Zane griff in die Innentasche seiner Jacke und zog einen Umschlag hervor. »Es überrascht mich immer wieder, was Menschen für Geld alles tun. Und manche machen es sogar gratis, wenn man die richtigen Knöpfe drückt. Man hilft immerhin einem aufrechten Polizisten wie mir, die Straße von den schmutzigen Bullen zu säubern …« Zane kicherte. »Das Bewusstsein der Bevölkerung wird immer stärker, und die Leute sind froh, wenn sie helfen können.« Er zog einen Stapel Computerausdrucke aus dem Umschlag und hielt Kevin das oberste Bild unter die Nase.
Vorhin wäre er am liebsten gestorben – doch jetzt waren seine Gefühle einfach unbeschreiblich.
Zwei junge Männer waren in einen leidenschaftlichen Kuss vertieft. Der eine lehnte mit dem Rücken an einer Mauer in einer dunklen Gasse, während ihm der andere eifrig die Hand in die Jeans schob.
Kevin schloss die Augen und wurde im nächsten Moment von einem brennenden Zorn gepackt. »Du Hurensohn! Gib das her!« Er wollte sich auf Zane stürzen, doch dieser war bereits aufgesprungen.
»Keine Angst, Süßer, die Bilder gehören dir.« Er warf sie in die Luft, und sie segelten auf den verdreckten Boden des ehemaligen Sommerhauses. »Die Originale sind in Sicherheit, und weitere Kopien werden an den Bischof versendet, falls du morgen früh nicht gesund und munter zur Arbeit erscheinst.« Seine Augen waren nur noch Schlitze. »Verstanden? Und jetzt beweg deinen schwulen Arsch und mach den Dreck hier sauber!« Er marschierte zur Tür, und Kevin warf sich auf den Boden, um die Bilder einzusammeln.
»Es wird weder deiner hübschen Nichte noch dem Blutdruck deines frommen Vaters etwas passieren – solange du weiterhin mit mir unter einer Decke steckst. Allerdings nicht wortwörtlich. Ich bin nicht so einer .« Er warf einen Blick auf die Fotos und hob eine Augenbraue. »Also, die Sache bleibt unter uns, okay?«
Er grinste lasziv und warf Kevin eine Kusshand zu.
Es war beinahe zehn, als Lisa Hurley schließlich auf die Uhr sah und nach Luft schnappte. »Mein Gott! Ich muss gehen! Ich habe morgen einen Einführungskurs.«
Skye hatte die ganze Zeit über gewusst, wie spät es war, es aber ignoriert. Es fühlte sich gut an, endlich nicht mehr allein in dem riesigen Haus zu sein. Sie gab sich schockiert, dass die Zeit so schnell vergangen war, und machte sich zögerlich auf den Weg, um Lisas Jacke zu holen.
»Ich kann dir gar nicht genug danken«, erklärte sie und meinte es auch so. »Von dem Augenblick an, als die Polizei an der Tür läutete, habe ich …« Sie schüttelte den Kopf. »Es war schrecklich. Aber das Gespräch mit dir hat mir etwas Normalität zurückgegeben. Ich bin mittlerweile überzeugt davon, dass Daniel und ich es schaffen können.«
Lisa nahm ihre Jacke und berührte sanft Skyes Arm. »Da bin ich mir sicher. Und ich bin gerührt, dass du dich mir anvertraut hast. Das war sicher nicht einfach.« Sie lächelte freundlich. »Skye, ich bin immer für dich da, wenn du mich brauchst.« Sie wandte sich der Tür zu. »Und ich werde dafür sorgen, dass du so lange wie möglich fortbleiben kannst, ohne Schwierigkeiten zu bekommen.« Sie öffnete die Tür, und ein plötzliches Blitzlicht ließ beide Frauen zusammenzucken.
»Scheiße!« Lisa trat eilig zurück ins Haus und warf die Tür zu. »Die ersten Reporter sind da – und es werden in den kommenden Tagen nicht die letzten sein. Tut mir leid, Skye, aber der Medienzirkus hat gerade begonnen.« Sie holte tief Luft. »Okay, dann mal los! Versperre die Tür, ignoriere die Klingel und aktiviere die Alarmanlage, sobald ich fort bin.« Sie hielt inne. »Kommst du zurecht?«
»Damit habe ich gerechnet. Ich halte das schon aus. Und morgen verlasse ich dieses Mausoleum und gehe wieder zurück in meine Wohnung.«
»Schlaues Mädchen. Pass gut auf dich auf.« Lisa trat in die feuchte Luft hinaus und eilte mit gesenktem Kopf zu ihrem Wagen. Skye versperrte die Tür hinter ihr, deaktivierte die elektronische Klingel und machte die Alarmanlage an. Darauf wäre sie auch ohne Lisas Ratschläge gekommen.
Sie hatte Lisa zwar versichert, dass es ihr gut ging, aber das stimmte nicht. Ihre Gedanken waren jetzt klarer, und sie fühlte sich besser, was Daniel und seinen unsinnigen Kreuzzug betraf, aber sie wollte trotzdem nicht allein in diesem riesigen Haus bleiben.
Sie ging in ihr Zimmer und setzte sich erschöpft auf die Bettkante. Sie wollte sich nicht einmal ausziehen. Lisa und sie hatten sich unterhalten, während sie das Haus geputzt hatten, und Skye hatte ihr immer mehr anvertraut, bis sie beinahe die ganze Geschichte kannte.
Und es hatte ihr tatsächlich geholfen. Lisa hatte Daniels »Mission« und die ziemlich verworrenen Hintergründe kein einziges Mal ins Lächerliche gezogen, und sie hatte Skye einige Denkanstöße geliefert und psychologische Einblicke gewährt. Lisa hatte einmal eine Vorlesung zur genetischen Prägung besucht, in der besonderes Augenmerk auf adoptierte Kinder und das Umfeld der leiblichen Eltern und der Adoptiveltern gelegt worden war. Auch die Intelligenz und die unterschiedlichen Reaktionen der Betroffenen, wenn sie von der Adoption erfuhren, waren behandelt worden. Skye konnte das alles sehr gut nachvollziehen, obwohl sie es Lisa gegenüber nicht erwähnt hatte. Sie war auch ein Adoptivkind, aber bei ihr war es vollkommen anders als bei Daniel. Er war davon besessen, die Identität seiner leiblichen Eltern zu entschlüsseln, während es Skye vollkommen egal war. Sie hatte eine sehr glückliche Kindheit in einer wunderbaren, liebevollen Familie erlebt. Der Grund, warum ihre leibliche Mutter sie nicht gewollt hatte, war völlig irrelevant und vermutlich auch ziemlich schmerzhaft und unangenehm. Also wollte sie es lieber gar nicht erst wissen.
Skye schlüpfte gähnend aus ihren Schuhen, wickelte sich in die Decke, schloss die Augen und versuchte, das permanente Klopfen an der Haustür zu ignorieren. Sie schaffte es nicht einmal, die Nachttischlampe auszuschalten.
Lisa Hurley saß in ihrem Auto, das auf der gegenüberliegenden Straßenseite parkte. Mehrere Männer lungerten vor Skyes Haus herum und unterhielten sich. In regelmäßigen Abständen trat einer auf die Tür zu und hämmerte dagegen, anschließend war der Nächste an der Reihe.
Lisa lehnte sich im Autositz zurück und beobachtete die Männer regungslos. Morgen früh würde es in der gepflegten Kiesauffahrt nur so von Reportern und Übertragungswagen wimmeln.
Sie sah zu einem der oberen Zimmer hoch. Sie war Skye vorhin mit dem Blick durchs Haus gefolgt, als sie nacheinander in allen Räumen die Fenster überprüft, die Vorhänge zugezogen und das Licht gelöscht hatte. Nun war nur noch ein Fenster erleuchtet.
Lisa betrachtete es lange Zeit, bevor sie schließlich den Motor startete und langsam davonfuhr.
Daniel träumte von seiner Mutter. Es war kein angenehmer Traum.
Er ging mit Skye an einem der schnurgeraden Wasserläufe in der Nähe seines Elternhauses entlang. Er hielt ihre Hand, und sie näherten sich einem bunten, golden lackierten und kunstvoll verzierten Karussell, wie es sie in Paris überall gab. Er hörte die beschwörenden Klänge der elektrischen Orgel, und Skye fragte, ob sie auf einem der Pferde reiten konnten.
Sie zog ihn lächelnd auf das Karussell zu, doch plötzlich überkam ihn eine schreckliche Vorahnung, und seine Füße wurden schwer wie Blei.
Irgendwo hinter ihm rief jemand seinen Namen, aber er hatte zu große Angst, um sich umzudrehen. Die Musik war verstummt, der Wind heulte, und das Ding hinter Daniel zog ihn mit unheimlicher Kraft zu sich. Er brüllte Skye zu, sie solle verschwinden, doch ihre Hand war ihm bereits entglitten, und sie schwebte über ihm. Sie klammerte sich an den Hals eines vergoldeten Holzhengstes mit flammend roten Augen.
Plötzlich begannen die Pferde zu galoppieren und verschwanden mit Skye in einem Wirbel aus Farben.
Das Karussell drehte sich immer schneller und schneller, bis es in die Luft stieg und davonflog. Daniel rief nach Skye, doch sie war nur noch eine spielzeuggroße Gestalt, die langsam in den dichten weißen Wolken über dem Wasserlauf verschwand.
»Mein Junge.«
Die Worte drangen durch das Heulen des Windes, und Daniels Herz gefror zu Eis. Er wollte fortlaufen, doch seine Füße waren wie festgeklebt, und er konnte der unheimlichen Erscheinung hinter ihm nicht entkommen. Er entdeckte, dass er von einem dicken Seil zurückgehalten wurde, und wollte bereits versuchen, sich davon zu befreien, als er sah, dass es gar kein Seil war. Es war eine pulsierende, schleimige, violett-blaue Nabelschnur.
»Nein!«, schrie er. »Skye!«
»Sie muss fort.«
»Nein!«, schrie er erneut, aber etwas zog ihn langsam rückwärts.
»Komm, mein Junge«, lockte sie ihn sanft.
Die Dunkelheit breitete sich aus. Er roch ihren fauligen Atem. Und als er in den dunklen Abgrund fiel, der sich unter ihm auftat, hörte er ihre Worte: »Komm zu Mummy.«