Kapitel 13
»Geile Hütte, was?«
Kevin Stoner starrte missmutig aus dem Autofenster und betrachtete das teure Haus. »Ja, schon. Wenn man auf so was steht.«
Zane Prewett leckte sich über die Lippen. »Ach, komm schon, Kumpel! Du hättest doch sicher nichts gegen eine solche Protzbude einzuwenden! Ich war zwar nicht im oberen Stock, als die Spurensicherung da war, aber ich wette, im Schlafzimmer gibt es ein riesiges Wasserbett und jede Menge Spiegel. Und dann noch die Blockhütte mit Whirlpool hinter dem Haus und das Spielzimmer mit der Bar …« Er stieß Kevin in die Seite. »Genau das Richtige für dich und deine hübschen kleinen Freunde.«
Kevin hielt den Blick auf das Haus der Familie Kinder gerichtet und versuchte sich einzureden, er wäre allein im Auto.
»Also, auch wenn deine Fantasie scheinbar gerade Sendepause hat, meine jedenfalls nicht. Ich sehe schon eine feuchte kleine Schlampe vor mir, die mich nackt zu sich in die Wanne winkt.«
»Halt’s Maul, Prewett! Ich habe genug von deinen dreckigen Sprüchen. Mach mal Pause, ja?« Kevin ließ sich in den Autositz sinken und biss die Zähne zusammen.
»Oh, sind wir heute vielleicht schlecht gelaunt?« Prewett sah Kevin an. »Aber ich wäre an deiner Stelle lieber vorsichtig, Mary-Jane. Deine ›Ich bin ja so heilig‹-Masche geht mir langsam gehörig auf den Sack. Ich weiß, wie ›scheinheilig‹ du bist. Ich darf nicht schmutzig daherreden, aber du darfst eine Schwuchtel an die Wand nageln?«
»Aber bei mir dreht sich nicht das ganze Leben um Sex, Zane! Es ist bloß ein kleiner Teil, und leider hast du ausgerechnet davon Wind bekommen.«
»Ja, das ist echt scheiße, was?«
Kevin war klar, dass er nicht mehr lange so weitermachen konnte. Wäre es hier nur um Zane und ihn gegangen, hätte er den Hurensohn vielleicht auflaufen lassen. Er hätte sich ergeben und seinem Vater einfach erzählt, dass er erpresst wurde, weil er schwul war. Und dann hätte er den Spieß umgedreht und alle Deals aufgedeckt, in die sein korrupter Partner verwickelt war. Aber Prewett hatte Sophie, Kevins kleine Nichte, ins Spiel gebracht, und dieses Risiko war ihm zu groß. Kevin wusste zwar, dass Kerle wie Prewett im Grunde Feiglinge waren, aber bei seinem Partner hatte er trotzdem das Gefühl, er könnte seine Drohungen wahr machen. Kevin wollte weder Sophie noch andere Familienmitglieder in Gefahr bringen – er musste also einen anderen Weg finden.
Er rollte langsam die dreispurige Straße entlang und versuchte, sich zu konzentrieren. Als er auf die River Road bog, entspannten sich seine Nackenmuskeln langsam. Er musste aufhören, wie ein Bischofssohn zu denken. Er hatte schon viel zu oft die andere Wange hingehalten. Gegen Zane Prewett brauchte er offensichtlich eine andere Strategie.
Als sie zurück zur Dienststelle kamen, machte sich langsam eine Idee in ihm breit, und PC Kevin Stoner sah zum ersten Mal seit Monaten wieder Licht am Horizont.
Jackman wollte gerade ins Verhörzimmer, als ihm eine Sekretärin einen braunen Umschlag in die Hand drückte. »Das ist gerade gekommen, Sir. Aus der Gerichtsmedizin.«
Jackman brach das Siegel und überflog den toxikologischen Befund. »Was zum Teufel …?«
Marie sah ihn fragend an.
»Alison Fleet hatte genug Pillen eingeworfen, um das halbe Land in einen Glückstaumel zu versetzen.«
»Antidepressiva?« Marie wirkte verwirrt. »Aber Bruce Fleet meinte doch, dass sie keine Medikamente nahm, oder?«
»Er sagte, er wüsste von nichts, das ist offenbar ein Unterschied. Ich dachte immer, sie wäre von Natur aus so aufgedreht, aber sie war anscheinend ständig high.«
»Wir sollten mit ihrem Arzt reden.«
»Laufen Sie noch mal zurück und bitten Max oder Charlie, sich sofort darum zu kümmern.« Er drückte Marie den Bericht in die Hand. »Solche Medikamente nimmt man nicht ohne guten Grund.«
»Vielleicht hat es etwas mit ihrem Ex-Mann zu tun. Der, von dem Bruce Fleet nichts weiß.«
»Entweder er weiß nichts, oder er will nicht darüber reden«, erwiderte Jackman nachdenklich. »Wir sollten auf alle Fälle noch mal mit ihm sprechen. Normalerweise weiß man solche Dinge doch über seine geliebte Frau, oder?«
»Ja, wir sollten ihn nach dem Verhör anrufen.«
Wie sich herausstellte, brachte die Befragung auch dieses Mal nicht den ersehnten Durchbruch.
Daniel Kinder hatte sich vollkommen in sich zurückgezogen und wirkte beinahe depressiv. Er stimmte einer weiteren Zusammenarbeit mit Dr. Preston nur zögerlich zu, und seine Antworten waren lustlos, als hätte er seine Situation kampflos akzeptiert.
Jackman beobachtete Kinder, während der Arzt mit ihm sprach. Der leidenschaftliche junge Journalist war verschwunden, und da war nicht einmal ein Fünkchen Wut. Selbst auf das Wiedersehen mit Skye schien er sich nicht zu freuen.
Nach einer Stunde brach Jackman das Verhör ab und bat Preston und Marie in sein Büro.
»Wir haben einfach nicht genug Beweise, um ihn hierzubehalten.« Die Verzweiflung war ihm deutlich anzuhören. Er wandte sich an Guy Preston. »Ganz ehrlich – was halten Sie von ihm?«
Der Psychologe holte tief Luft und stieß sie pfeifend wieder aus. »Er hat schwerwiegende psychische Probleme, aber im Grunde kann ich mir nicht vorstellen, dass er Alison Fleet getötet hat.«
»Und die andere Frau?«
»Nein. Ich glaube, er hat überhaupt niemanden umgebracht.«
Sie hatten Daniel von Jane Doe erzählt, doch er hatte bloß mit den Schultern gezuckt und resigniert geantwortet: »Ich kann nicht behaupten, ich hätte sie umgebracht, weil ich es schlichtweg nicht weiß. Es liegt wohl an Ihnen, meine Schuld oder Unschuld zu beweisen. Das kann doch nicht so schwer sein, oder? Mit der heutigen Technik lässt sich sicher feststellen, wo jemand zu einer bestimmten Zeit war …«
»Das hier ist nicht CSI «, hatte Marie gefaucht. »Wachen Sie auf, Daniel! Wir leben in den Fens, nicht in Miami. Unser Budget reicht nicht mal für ein Surfbrett.«
Woraufhin Daniel Kinder erneut mit den Achseln gezuckt hatte.
Jackman seufzte. »Ich muss bis zehn Uhr eine Entscheidung treffen, aber ich habe immer noch ein schlechtes Gefühl, wenn wir ihn gehen lassen.«
»Ja, ich auch«, stimmte Marie ihm zu. »Auch wenn ich inzwischen nicht mehr glaube, dass er bloß hier ist, um für einen Artikel zu recherchieren.«
»Falls es so ist, macht er eine ziemlich große Show, um uns zu beweisen, dass er nicht alle Tassen im Schrank hat.« Er warf dem Psychologen ein entschuldigendes Lächeln zu. »Tut mir leid, das war jetzt keine rein wissenschaftliche Einschätzung.«
Preston lächelte ebenfalls. »Ich glaube auch nicht, dass er etwas vortäuscht. Aber ich wette bei meinem guten Ruf, dass er kein Serienmörder ist.« Sein Gesicht wurde ernst. »Falls Sie von einem Serienmörder ausgehen, ist es ganz sicher nicht Kinder. Die tauchen nicht plötzlich auf und beginnen zu morden. Es dauert Jahre, bis sie ›die erste Stufe des Tötens‹ erreichen, wie ich es nenne. Kinders Verhalten passt nicht ins Muster.«
»Aber das heißt nicht, dass er keinen Mord begehen könnte. Er kommt bloß nicht als Serienmörder infrage.«
»Genau. Obwohl ich bezweifle, dass er es überhaupt in sich hat. Vielleicht, wenn er tatsächlich krank wäre. Oder felsenfest daran glaubt, dass er Françoise Thayers Sohn ist …« Er schüttelte den Kopf. »Wovon ich nicht überzeugt bin.«
Sie wurden von einem Klopfen an der Tür unterbrochen, und kurz darauf stürzte Max ins Zimmer. »Das hier wollen Sie sicher sehen!«, sagte er aufgeregt und reichte Jackman einen Computerausdruck. »Jane hat ein Gesicht.«
Jackman betrachtete das Foto. Die Frau war blond und sehr attraktiv. Sie hatte graublaue Augen, schulterlange Haare, hohe Wangenknochen und einen vollen, wohlgeformten Mund mit geraden, strahlend weißen Zähnen. Sie war nicht blond genug für eine Skandinavierin und nicht kantig genug für eine Deutsche, sondern eher eine typische ›englische Rose‹ mit hellen Haaren und weichen Gesichtszügen. »Hallo, Jane«, flüsterte er und reichte das Foto an die anderen weiter.
»Wow«, staunte Marie.
»Mein Gott! Es ist schwer vorstellbar, dass diese Schönheit die Frau auf eurem Whiteboard sein soll«, murmelte Preston.
»Und dafür hat Orac wirklich nicht mehr als ein paar Stunden gebraucht?«, fragte Jackman Marie.
»Es ging sogar noch schneller. Ich würde sagen, es wäre ein großes Danke angebracht!«
»Mhm, klar. Echt gute Arbeit.« Maries Augen wurden schmal, und Jackman wandte eilig den Blick ab. »Wir sollten es Daniel zeigen, oder was meinen Sie?«
Die drei kehrten ins Verhörzimmer zurück, wo Charlie und ein uniformierter Beamter Daniel und Skye Wynyard bewachten.
»Kennen Sie diese Frau?«, fragte Jackman rundheraus und legte das Foto auf den Tisch, sodass es beide sehen konnten.
Zu seiner Überraschung schnappten sowohl Daniel als auch Skye nach Luft.
»Jules! Das ist Julia Hope!«, rief Skye schockiert.
»Und Sie, Daniel? Kennen Sie sie auch?«
Daniel schüttelte den Kopf. »Nicht direkt … Ich bin mir sicher, dass sie eine der Schwestern war, die ich für den Artikel über das Krankenhaus und das staatliche Gesundheitssystem interviewt habe.« Er biss sich auf die Unterlippe. »Ich habe nicht lange mit ihr gesprochen, aber ich erkenne sie wieder. Ist sie … Ist sie die Frau …?«
»Die Frau, die Sie vielleicht umgebracht haben? Und vielleicht auch nicht? Die Frau, deren Tod unsere Sache ist und nicht Ihre? Ja, Daniel, das ist sie!« Jackman wandte sich an Skye. »Aber Sie kennen sie näher?«
»Ja, sie arbeitet in der Orthopädie, war aber die letzten paar Wochen in den Ferien.«
»Schöne Ferien«, murmelte Marie. »Sie hat drei Wochen lang tot in einem Keller gelegen und konnte nicht mal identifiziert werden! Hat sich denn niemand gewundert, warum sie nicht zur Arbeit gekommen ist?«
»Ich … Ich weiß nicht«, stammelte Skye. »Sie arbeitet nicht in meiner Abteilung. Sie ist Krankenschwester, keine Ergotherapeutin.« Sie sah Marie mit weit aufgerissenen Augen an. »Sind Sie sicher, dass sie tot ist? Das Foto ist ein wenig … Na ja, sie sieht darauf irgendwie anders aus als sonst.«
»Das Gesicht wurde rekonstruiert, nicht wahr?«, bemerkte Daniel mit leerer Stimme. »Anhand der Fotos ihrer Leiche.«
Skye schob das Bild mit spitzen Fingern von sich.
»Genau«, bestätigte Jackman und sah erneut die verwesende Tote auf dem Kellerboden vor sich.
»Was können Sie uns über die Frau erzählen, Skye? Ist sie verheiratet? Single? Hat sie Familie?«, fragte Marie.
»Ich weiß nur, dass sie nicht verheiratet ist, aber das ist mehr oder weniger auch schon alles. Außer dass sie mit ihrer Schwester Anne irgendwo in der Innenstadt wohnt.«
»Aber warum hat Julias Schwester sie nicht als vermisst gemeldet?«
»Anna ist Militärärztin. Sie ist vermutlich irgendwo unterwegs. Als ich das letzte Mal mit Jules geredet habe, hat sie etwas von Afghanistan erzählt. Aber das ist schon länger her.« Skye warf einen weiteren Blick auf das Foto. »Sie war wirklich hübsch.«
Nicht, als ich sie das letzte Mal gesehen habe, dachte Jackman. »Was ist mit Ihnen, Daniel? Haben Sie Julia seit dem Interview, für das Sie das ganze Krankenhaus so abgöttisch liebt, noch einmal gesehen?«
Daniel sah aus, als würden ihm jeden Moment die Augen zufallen. »Woher zum Teufel soll ich das denn wissen? Ich leide unter Gedächtnisstörungen, verdammt. Schon vergessen?«
»Ach ja, tun Sie das? Da bin ich mir nicht so sicher.«