Kapitel 14
»Die Verbindung zwischen Daniel Kinder und den beiden Opfern ist zu dürftig, um ihn hierzubehalten, Jackman.« Superintendentin Ruth Crooke kaute auf ihrem Bleistift herum. »Zu Alison Fleet hatten sogar Sie
engeren Kontakt als er. Sie müssen ihn gehen lassen.«
Jackman wusste, dass es keinen Sinn hatte, auf seinem Standpunkt zu beharren. Crooke hatte recht. Es gab keinen einzigen noch so kleinen Beweis. Der Staatsanwalt würde sie auslachen, wenn sie mit einem solchen Fall vor Gericht erschienen – abgesehen davon, dass sie erst gar nicht so weit kommen würden.
»Leichter gesagt als getan, Ma’am.« Es war das erste Mal, dass Jackman einen Mordverdächtigen hatte, der freiwillig in Polizeigewahrsam bleiben wollte. Kinder würde sich sicher nicht über seine Entlassung freuen. Die Frage war lediglich, wie sehr ihn die Nachricht aus der Bahn werfen würde.
»Stellen Sie sicher, dass er psychiatrische Hilfe erhält und wir immer wissen, wo er sich aufhält.«
Jackman nickte. »Er wird ohnehin in der Nähe bleiben wollen. Und Guy Preston erstellt ein umfangreiches Gutachten. Wir sind gerade dabei, sämtliche Informationen über Françoise Thayer zu sichten. Wir müssen diesen Teil der Ermittlungen abschließen – und zwar so schnell wie möglich. Falls dort draußen wirklich ein anderer Mörder herumläuft, dürfen wir uns nicht zu lange auf Daniel fixieren.«
»Ich bin froh, dass Sie das auch so sehen, Jackman. Geben Sie Gas! Nachdem wir mittlerweile Jane Does Namen kennen – deren Schwester übrigens später noch vorbeikommt, um sie zu identifizieren –, muss ich wohl mal eine Pressekonferenz geben.« Sie presste ihre ohnehin bereits viel zu schmalen Lippen aufeinander. »Sie haben bis morgen früh Zeit, um sich zu überlegen, was ich sagen soll.«
Jackman erhob sich. Ein riesiges Gewicht lastete auf seinen Schultern, und er war immer noch nicht glücklich darüber, dass er Daniel entlassen musste. »Dann mache ich mich besser an die Arbeit, Ma’am. Ich muss einen Mann aus seiner Zelle werfen.«
Es war beinahe elf Uhr abends, als Daniel Kinder endlich bereit war, das Revier zu verlassen. Wobei »bereit« nicht das richtige Wort war, denn er schlug immer noch wild um sich und brüllte wie von Sinnen.
Marie vermutete, dass sie ihn ohne Skye Wynyards unendliche Geduld und sanftes Zureden nur mit Gewalt losgeworden wären.
Daniel weigerte sich rundheraus, nach Hause zu fahren oder bei Skye zu bleiben, weil er offenbar Angst hatte, sie zu verletzen. Am Ende schlossen sie einen Kompromiss – und auch das war Skyes Verdienst. Daniel würde in ihrer Wohnung übernachten, wo bereits seine geliebte Katze auf ihn wartete, während Skye bei einer Freundin schlafen würde. Am nächsten Morgen wollten sie sich treffen und versuchen, eine zufriedenstellende Lösung zu finden. Daniel stimmte letztlich zu, denn die einzige Alternative zu Skyes Vorschlag wäre gewesen, die ganze Nacht durch die Straßen zu streifen.
Inzwischen war auch im Ermittlungsraum Ruhe eingekehrt, und nur Marie und Jackman hielten noch die Stellung.
»Haben wir gerade einen Mörder laufen lassen?«, fragte Jackman leise.
»Selbst wenn – wir hatten keine andere Wahl. Außerdem werden wir ihn keine Sekunde aus den Augen lassen. Egal, was er tut und wohin er geht, er wird nicht allein sein.«
»Warum beruhigt mich das nicht?«
»Weil wir beide wissen, dass er eine wandelnde Zeitbombe ist. Auch wenn er niemanden umgebracht hat.« Marie seufzte. »Ich habe noch nie einen derart instabilen Menschen kennengelernt, dessen Stimmung so schnell umschlagen kann. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, dass er auf Drogen ist.«
»Aber er war clean«, murmelte Jackman. »Was den Verdacht einer psychischen Störung nahelegt. Doch das beruhigt mich auch nicht gerade …«
Marie gähnte. »Zeit fürs Bett.« Sie nahm die dicke Mappe, die Orac ihr gegeben hatte. »Ist es okay, wenn ich mir etwas Feierabendlektüre mit nach Hause nehme?«
»Kein Problem. Sie müssen mir nur versprechen, das Licht anzulassen und mich nicht um zwei Uhr morgens anzurufen, weil Sie bibbern vor Angst. Françoise Thayer ist als abendlicher Lesestoff denkbar ungeeignet, glauben Sie mir. Das habe ich am eigenen Leib erfahren. Sie war ein kaltblütiges Ungeheuer, und vermutlich hat Orac mehr Details zusammengetragen, als ich im Internet gefunden habe – Sie wissen also, worauf Sie sich einlassen.«
Bevor Marie etwas erwidern konnte, klingelte Jackmans Telefon. Er stöhnte, verzog das Gesicht und hob ab.
»DI
Jackman.«
Marie hörte eine aufgeregte Frauenstimme, die ihr irgendwie bekannt vorkam. Jackman machte den Lautsprecher an.
»Es tut mir so leid, aber ich wusste nicht, wen ich sonst anrufen soll! Das sieht ihm gar nicht ähnlich. Ich bin mir sicher, dass er zu Hause ist, aber er reagiert nicht auf meine Anrufe. Inspector, ich habe Angst, dass ihm etwas zugestoßen ist. Er verhält sich so seltsam, seit Alison gestorben ist.«
Die Verbindung war schlecht, und Marie konnte die Stimme nicht zuordnen. Sie warf Jackman einen fragenden Blick zu, und er kritzelte etwas auf seinen Notizblock: Lucy Richards, Bruce Fleets Schwester. Marie erinnerte sich sofort an das besorgte Gesicht der Frau, die bei Fleet gewesen war, als sie ihm von dem Mord an seiner Frau erzählt hatten.
»Wahrscheinlich ist er unterwegs und hat zu viel getrunken«, erwiderte Jackman ruhig. »Was macht Sie so sicher, dass er zu Hause ist?«
»Er durfte heute Nachmittag zum ersten Mal wieder ins Haus und hatte furchtbare Angst vor der ersten Nacht. Sein Auto steht in der Einfahrt, und mein Bruder geht nie zu Fuß, wenn es sich vermeiden lässt.«
»Woher wissen Sie von dem Auto?«
»Mein Mann ist vorhin vorbeigefahren. Er hat geklopft, aber es hat niemand aufgemacht.« Die Stimme der Frau begann zu zittern. »Er war nicht gerade begeistert davon, dass ich Sie anrufe, Inspector Jackman, aber ich habe ein wirklich schlechtes Gefühl wegen Bruce.«
»Gut. Normalerweise würde ich ein paar uniformierte Kollegen vorbeischicken, aber nachdem ich ohnehin gerade nach Hause gehen wollte, fahre ich selbst hin. Damit Sie beruhigt sind.« Er hob eine Augenbraue und warf Marie einen leidgeprüften Blick zu. »Ich rufe Sie an, sobald ich Näheres weiß.«
Er legte auf.
»Das müssen Sie nicht machen, Sir. Wir schicken einen Streifenwagen hin.«
Jackman zuckte mit den Schultern. »Vielleicht hat Ihr schlechtes Gefühl auf mich abgefärbt. Außerdem wollte ich ohnehin mit Bruce Fleet über die Dinge sprechen, die er uns verschwiegen hat. Es ist also ein guter Grund, um noch mal bei ihm anzuklopfen. Falls er wirklich betrunken ist oder ich ihn aus dem Bett klingle, kann ich vielleicht sogar noch mehr aus ihm herausquetschen.«
»Ich komme mit, wenn Sie mich nachher wieder ins Revier oder gleich nach Hause fahren.«
Jackman warf einen Blick auf die Uhr an der Wand. »Es ist beinahe Mitternacht. Gehen Sie lieber schlafen.«
»Blödsinn, Sir. Dawn Haven Marsh liegt ziemlich weit draußen. Wenn etwas faul ist, brauchen Sie Verstärkung, auf die Sie sich verlassen können. Und falls Fleet bloß besoffen ist, dann liegen wir in einer Stunde bereits in unseren Betten.«
Jackman zog den Autoschlüssel aus der Tasche. »Warum kommt man eigentlich nie gegen Sie an, Marie?«
Sie grinste selbstgefällig. »Weil ich immer recht habe, Sir.«
Marie liebte es, im Dunkeln durch die Fens zu fahren. Die einsamen, teilweise in dichten Nebel gehüllten Straßen hatten etwas Surreales, und man verlor mit der Zeit jegliche Orientierung. Die Straße führte eine Zeit lang geradeaus, bevor sie plötzlich in eine vollkommen andere Richtung abbog, und wenn man die engen, kurvigen, von hohem Schilf gesäumten Wege nicht kannte oder über einen außergewöhnlichen Orientierungssinn verfügte, konnte man sich hoffnungslos verirren.
Die Fahrt dauerte etwa zwanzig Minuten, aber es fühlte sich an wie eine Ewigkeit.
»Warum haben wir eigentlich keinen uniformierten Beamten beim Haus stationiert?«
»Das hätte wenig Sinn. Die Spurensicherung hat alles auseinandergenommen, und wenn sie nicht sicher gewesen wären, dass es hier nichts mehr zu entdecken gibt, hätten sie Bruce nicht wieder einziehen lassen.«
Kurz darauf waren sie da. Das Haus lag ruhig und friedlich vor ihnen. Im Treppenhaus ins obere Stockwerk und in einem der Zimmer im Erdgeschoss brannte Licht, ansonsten gab es keinerlei Lebenszeichen.
»Da ist das Auto.« Jackman deutete auf einen wuchtigen Toyota Land Cruiser. »Aber wir probieren es zuerst trotzdem auf die sanfte Tour.« Er zog sein Handy heraus, scrollte durch die Kontakte und tippte auf Bruce Fleet.
Marie lächelte in sich hinein. Jackman hatte die Angewohnheit, sämtliche Nummern zu speichern, die auch nur im Entferntesten mit dem aktuellen Fall zu tun hatten, und sie erst zu löschen, wenn die Ermittlungen abgeschlossen waren. Während er darauf wartete, dass jemand abhob, ging Marie zur Haustür, klingelte und klopfte. Es war deutlich zu sehen, dass die Polizei erst vor Kurzem hier gewesen war: zertrampelte Blumenbeete, erdige Furchen auf dem Rasen und eingetrocknete, schlammige Fußabdrücke auf der Veranda. Doch Marie vergaß die umgeknickten Blumen, als sie plötzlich im Inneren des Hauses ein Geräusch hörte. Sie trat näher an die Tür heran, öffnete den Briefschlitz und beugte sich hinunter, um besser zu hören.
Leise Musik, die immer wieder von vorne begann. Fleets Handy. »Sir, das Telefon klingelt irgendwo im Haus. Ich kann es genau hören.«
Jackman hastete zu ihr. »Sehen wir uns zuerst noch auf der Rückseite um, und wenn wir dort auch kein Glück haben, müssen wir uns gewaltsam Zutritt verschaffen.«
»Einverstanden, Sir.« Marie bewegte sich zügig um das Haus herum. »Inzwischen weiß ich, warum Lucy Richards ein schlechtes Gefühl bei der Sache hatte. Mir gefällt das Ganze auch nicht.«
Skye saß in ihrem Auto und starrte zu den dunklen Fenstern der Wohnung hinauf. Sie hatte Isabel eine kurze Voicemail-Nachricht hinterlassen, dass sie auf dem Weg war, doch erst nachdem sie vor dem Haus geparkt hatte, war ihr eingefallen, dass ihre Freundin ihre Mutter in Cardiff besuchte. Und zu ihrem Entsetzen hatte sie in dem vereinbarten Versteck auch keinen Schlüssel gefunden. Isabel und Skye hatten sich angewöhnt, immer einen Ersatzschlüssel füreinander zu hinterlegen, auch wenn Skyes neue Freunde von der Polizei das sicher nicht gerade ratsam gefunden hätten. Bloß für den Fall, sagten sie immer, und jetzt, wo Skye den Schlüssel tatsächlich einmal gebraucht hätte, hatte Isabel ihn vergessen.
Skye ließ sich in den Fahrersitz zurücksinken. Sie war müde, und ihr war übel. Das Treffen mit Daniel war eine einzige Qual gewesen, und es hatte sie erschöpft, ihn in einem so eigenartigen emotionalen Zustand zu erleben. Doch anstatt in ein weiches, warmes Bett zu kriechen, saß sie nun einsam und allein auf der Straße.
Sie zog ihr Telefon heraus und scrollte durch die Kontakte. Es war bereits Mitternacht, und sie hatte sehr wenige Freunde, die in der Nähe wohnten und die sie um diese Zeit noch anrufen konnte. Penny hatte vor Kurzem ein Baby bekommen, Richard hatte eine neue Freundin, und Paul und Andrea durchlebten gerade eine schwierige Phase in ihrer ohnehin stürmischen Beziehung. Gina? Ja, vielleicht. Sie war zwar keine enge Freundin, aber sie war eine nette, aufrichtige Kollegin, die sicher nicht wollte, dass Skye die Nacht ohne Dach über dem Kopf verbringen musste. Es war jedenfalls einen Versuch wert.
Nachdem das Telefon einige Male geklingelt hatte, legte Skye auf, ohne auf den Anrufbeantworter zu warten. Es hatte keinen Sinn, eine Nachricht zu hinterlassen.
Sie seufzte entnervt. Sie hatte immer noch die Schlüssel zu Daniels Haus, aber da schlief sie lieber im Auto. Ihre innere Stimme beharrte darauf, dass sie einfach nach Hause fuhr. Sie würde Daniel erklären, was los war, und ihm klarmachen, wie lächerlich seine Angst war, ihr womöglich wehzutun. Andererseits war Daniels Zustand viel zu labil, um vernünftig mit ihm zu reden. Sie musste entweder einen anderen Unterschlupf finden oder sich einen Parkplatz suchen und sich auf den Rücksitz legen. Wobei sie in ihrem kleinen KIA
vermutlich bereits nach zehn Minuten unerträgliche Rückenschmerzen bekommen würde. Sie ging noch einmal ihre Kontakte durch, und plötzlich war da ein kleiner Hoffnungsschimmer. Sie wählte den Eintrag aus, und Lisa hob bereits nach dem dritten Klingeln ab.
Sie platzte mit der ganzen Geschichte heraus und war unheimlich erleichtert, als Lisa antwortete: »Mein Gott, Mädchen! Mach, dass du herkommst. Das Gästezimmer steht bereit, und du bist herzlich willkommen.«
Skye startete lächelnd den Wagen und spürte, wie ihr die Last von den Schultern fiel. Warum war ihr Lisa Hurley nicht gleich eingefallen? Ihre Chefin hatte ihr geholfen, Daniels Haus zu putzen, und sie hätte sie gleich als Erste fragen sollen. Skye lachte kurz auf und ließ Isabels dunkle Wohnung hinter sich, um sich auf den Weg in den sicheren Hafen zu machen.
Marie eilte um das Haus herum. Als sie in den Garten trat, schlug der Bewegungsmelder an, und sie wurde in helles Licht getaucht. Sie stand auf einer hübschen, mit Natursteinplatten ausgelegten Veranda, und in den Hochbeeten blühten bunte Blumen. Auf einer Seite des Gartens befand sich eine längliche, mit Klematis und Rosen überwucherte Laube. Aber jetzt war nicht die Zeit, um ins Schwärmen zu geraten.
»Überprüfen Sie die Terrassentür!«, rief Jackman, während er an ihr vorbeilief. »Ich versuche es an der Hintertür.«
Marie versuchte, die Terrassentür zu öffnen. »Verschlossen, Sir.«
»Hier auch. Verdammt!« Jackman klang angespannt.
»Dort drüben ist noch ein Eingang.« Marie trat an Jackman vorbei. Die kleine Tür hatte ein Glasfenster und führte in einen Haushaltsraum mit Waschmaschine und Trockner. Marie drückte die Klinke, und die Tür schwang auf. »Okay, wir sind drin«, flüsterte sie. »Solange die Verbindungstür nicht auch verschlossen ist.«
Das war sie nicht, worauf sie das Haus systematisch durchsuchten. »Im Erdgeschoss ist alles sauber.«
Sie traten auf die breite Treppe zu, und Maries Herz schlug schneller. Im Lauf der Jahre war sie bei solchen Hausdurchsuchungen auf einige sehr unangenehme Dinge gestoßen. Es war noch nie vorgekommen, dass alles in Ordnung war.
Das Haus der Fleets bildete allerdings eine Ausnahme. Die Schlafzimmer waren leer, und alles schien an seinem Platz. Nach der Hausdurchsuchung herrschte natürlich eine gewisse Unordnung, aber abgesehen davon war alles normal. Sie überprüften sämtliche Zimmer gleich zwei Mal, und Jackman kletterte sogar die Dachbodenleiter hoch und warf einen Blick in die Dachkammer. Danach kehrten sie ins Erdgeschoss zurück.
Marie stand an derselben Stelle, an der sie vor ein paar Tagen neben Alison Fleets brutal zugerichteter Leiche gestanden hatte, und holte tief Luft.
Irgendetwas stimmte hier nicht.
»Spüren Sie es auch?«, fragte Jackman leise.
Marie nickte. Bruce Fleets Autoschlüssel lag auf dem Kieferntisch. »Der Schlüssel«, murmelte sie. »Der Autoschlüssel.« Ihr Kopf fuhr hoch. »Bruces Auto steht in der Einfahrt. Aber hatte Alison nicht auch ein Auto? Wo ist der Wagen?«
Jackman war mit einem Mal hellwach. »Auf der anderen Seite des Grundstücks gibt es eine Garage.« Er eilte zur Hintertür und öffnete sie. »Kommen Sie!«
Sie rannten nebeneinander um das Haus herum in die Schottereinfahrt und waren noch nicht einmal bei der Garage angekommen, als sie bereits ein vertrautes brummendes Geräusch im Inneren hörten.
Kaum sichtbarer Abgasnebel sickerte unter der Garagentür hindurch.
»Scheiße!«, rief Jackman und rüttelte an der schweren Holztür. »Abgesperrt!«
»Zur Zugangstür!« Marie rannte bereits weiter um das Gebäude herum. »Die lässt sich leichter aufbrechen!«
Glücklicherweise war die obere Hälfte der Tür aus Glas, das Jackman mühelos mit dem Ellbogen einschlug.
Marie streckte ihre Hand durch die verbliebenen Scherben und drehte geschickt den Schlüssel.
»Halten Sie sich etwas vor Mund und Nase. Das Zeug ist selbst in kleinen Dosen gefährlich.« Jackman zog seine Jacke bis über die Nase. »Und atmen Sie so flach wie möglich. Sie laufen zum Auto und stellen den Motor ab, und ich versuche, das Garagentor zu öffnen, damit so viel Luft wie möglich hereinkommt.«
Marie war sofort klar, dass sie zu spät kamen. Bruce Fleet saß hier schon seit Stunden. Trotzdem blieb ihnen nichts anderes übrig, als ihre Gesundheit für einen Toten aufs Spiel zu setzen.
»Verdammt, wer hätte gedacht, dass so etwas heutzutage überhaupt noch möglich ist? Dafür gibt es doch Katalysatoren!«
»Sehen Sie sich das Auto mal genauer an.«
Marie zog ihre Jacke ebenfalls hoch und warf dann einen Blick auf den uralten Morris Minor Traveller. Alison Fleets Auto war ein regelrechtes Museumsstück. »Na toll!« Sie wandte sich an Jackman. »Dann mal los!«
Sie atmeten beide noch einmal tief ein, dann liefen sie in die Garage.
Bruce Fleet hatte ganze Arbeit geleistet und nicht nur das Garagentor von innen versperrt, sondern sich auch noch in dem alten Wagen eingeschlossen. Der Vorteil war allerdings, dass es ein wirklich altes Auto war. Marie warf einen Blick auf den Schlauch, der über einen Spalt im hinteren Fenster ins Innere des Wagens führte, nahm einen Spaten von der Wand mit den Gartengeräten, schob ihn in den Spalt und drückte nach oben. Der Kurbelmechanismus des alten Autofensters gab nach, das Fenster fiel nach unten, und sie konnte die Tür entriegeln.
Ihre Lungen brannten bereits, doch sie lehnte sich trotzdem über den Fahrersitz und machte den Motor aus, bevor sie den Puls des Mannes kontrollierte.
»Tot?«, stieß Jackman durch die fest aufeinandergepressten Lippen hervor.
Marie nickte. Sie war sich zwar ziemlich sicher, dass sie recht hatte, aber sie beugte sich trotzdem über Bruce Fleet und öffnete die Tür auf der Beifahrerseite.
Jackman hatte bereits beide Türflügel aufgestoßen, und frische Luft strömte herein, doch sie wagten immer noch nicht zu atmen. Sie zogen den regungslosen Körper aus dem Wagen und schleppten ihn nach draußen, wo sie hustend und keuchend auf dem Schotter zusammenbrachen.
Jackman kontrollierte noch einmal die Vitalfunktionen des Mannes, dann zog er sein Handy aus der Tasche und meldete den Vorfall in der Zentrale.
»Für ihn ist es zu spät, aber ich fürchte, wie beide müssen uns durchchecken lassen.«
»Aber man atmet doch ohnehin ständig Kohlenmonoxid ein, oder?« Marie dachte an schwere Raucher und schlecht belüftete Räume.
»Ja, aber dabei sterben jedes Mal ein paar rote Blutzellen, die den Sauerstoff durch Ihren Körper transportieren.« Jackman lächelte. »Keine Sorge, der Krankenwagen ist bereits unterwegs, und dann bekommen wir ein wenig Sauerstoff. Wie fühlen Sie sich?«
»Ich habe leichte Kopfschmerzen, aber sonst ist alles okay. Und bei Ihnen?«
»Ähnlich. Ich denke, wir werden es überleben.« Er warf einen Blick auf den toten Mann mit dem hochroten Gesicht, der neben ihnen auf dem Boden lag. »Im Gegensatz zu Bruce Fleet. Das wirft eine Menge neuer Fragen auf, finden Sie nicht auch? Glauben Sie, dass er es nur aus Trauer getan hat?«
Marie hob die Augenbrauen. »Oder wurden die Schuldgefühle übermächtig?« Sie beugte sich vor, um Fleets Brusttasche näher zu untersuchen, aus der ein Stück Papier ragte. Sie streifte einen Handschuh über und zog einen gefalteten Zettel heraus. »Er hat es uns zwar beinahe unmöglich gemacht, ihn zu retten, aber er war scheinbar so freundlich, uns eine Nachricht zu hinterlassen.« Sie faltete den Zettel auseinander. »Ich brauche mehr Licht.«
Jackman holte eine kleine Taschenlampe aus seiner Jacke und richtete sie auf die Nachricht.
Marie las laut vor:
Es tut mir leid. Er tut mir leid, dass ich mich für den leichteren Weg in den Tod entschieden habe, anstatt ein Leben voller Qualen weiterzuleben. Es tut mir leid, was passiert ist. Es tut mir leid für meine Freunde. Falls sie mich wirklich geliebt haben, werden sie um mich trauern. Falls nicht, werden sie zumindest schockiert sein. Und letztlich tut es mir auch leid für die, die mich finden, aber ein Erstickungstod ist immer noch schöner anzusehen als die tödlichen Wunden, die ein Messer seinem Opfer zufügt. BSF
Jackman stieß einen leisen Pfiff aus. »Reuevoll und poetisch. Aber kein Wort über seine geliebte Frau.«
»War er vielleicht krank? Ein ›Leben voller Qualen‹ bedeutet doch meistens, dass jemand den Schmerz nicht mehr erträgt.«
»Auf mich wirkte er fit wie ein Turnschuh. Womöglich spricht er von der Qual, Alison verloren zu haben?«
»Oder der Qual, sein Leben in den Sand gesetzt zu haben?«
»Oder der Qual, als Mörder weiterzuleben? Vielleicht hat die Erwähnung des Messers eine tiefere Bedeutung. ›Es tut mir leid, was passiert ist.‹ Das ist nicht gerade eindeutig, oder?«
Sie betrachteten die Nachricht, als würde sie dadurch verständlicher werden. Als nichts geschah, faltete Marie sie vorsichtig und steckte sie zurück in die Hemdtasche. »Der Spurensicherung ist sicher lieber, wenn der Zettel hierbleibt.« Sie ließ sich zurücksinken und hoffte, dass die Kopfschmerzen bald vergingen.
»Dann war es also tatsächlich Selbstmord?«
Marie wunderte Jackmans Frage nicht. Sie beide hatten schon einige seltsame Dinge gesehen und kannten Mord in allen Variationen. Es war durchaus möglich, dass er als Selbstmord getarnt wurde.
»Mein Bauchgefühl sagt Ja.«
Jackman trat gegen ein paar Schottersteine. »Ja, das würde ich auch sagen. Aber wirklich überzeugt bin ich erst, wenn Jacobs es bestätigt.«
»Max soll gleich morgen früh alles zusammentragen, was er über Bruce Fleet findet. Er hat schon in Alison Fleets Leben einige Ungereimtheiten aufgedeckt. Vielleicht war ihr Mann auch darin verwickelt.«
Jackman setzte sich neben Marie auf den Boden. »Und ich werde mit Lucy Richards reden. Ich habe ihr versprochen, dass ich mich melde, aber ich kann ihr das doch nicht am Telefon sagen. Das wäre nicht fair.«
Marie legte sanft eine Hand auf seinen Arm. »Wenn Kohlenmonoxid tatsächlich so gefährlich ist, wie Sie sagen, dann brauchen Sie Sauerstoff und Ruhe, bevor Sie losfahren, um einer Angehörigen die Todesnachricht zu überbringen. Lassen Sie das doch die Streife erledigen. Die verstehen ihr Handwerk.« Sie betrachtete sein besorgtes Gesicht und bewunderte sein Verantwortungsbewusstsein. Jackman war äußerst pflichtbewusst, und nachdem er Lucy versprochen hatte, sich bei ihr zu melden, würde er ihr die Nachricht vom Tod ihres Bruders persönlich überbringen. Ende der Geschichte.
»Nein, ich gehe. Ein wenig Sauerstoff bringt sicher wieder alles in Ordnung.« Er ließ den Kopf sinken, und seine Stimme war nur noch ein Flüstern. »Dieser Fall ist eine einzige Katastrophe.«
Marie seufzte. »Er ist ziemlich verwirrend, aber ich bin mir sicher, dass uns ein paar Hintergrundinfos über die Fleets ein großes Stück weiterhelfen werden. Max und Charlie sind mit den Nachforschungen schon ziemlich weit – es sollte also nicht mehr allzu lange dauern.«
Jackman lächelte müde. »Für Sie ist das Glas immer halb voll, nicht wahr?«
Sie grinste. »Klar, einer muss ja positiv denken.« Sie sah auf. »Und ich glaube, ich höre bereits den Krankenwagen mit unserem Sauerstoff.«
Das Blaulicht in der Ferne weckte Maries Lebensgeister von Neuem. Sie hatte langsam echt genug von diesem Haus. Zwei Mal war sie mittlerweile hier gewesen, und jedes Mal hatte es eine Leiche gegeben. Ihr ruhiges kleines Häuschen in Church Mews erschien ihr plötzlich sehr verlockend.