Kapitel 16
Kevin wählte den Zeitpunkt, an dem er am nächsten Tag zur Arbeit erschien, mit Bedacht, und auch die Trauermiene, die in den letzten Monaten zu seinem Markenzeichen geworden war, saß perfekt.
Seine Kolleginnen und Kollegen, die bald ihre Nachtschicht beenden würden, huschten breit grinsend durchs Büro und beglückwünschten sich gegenseitig.
»Was ist denn hier los?«, fragte Kevin einen jungen PC
namens Gus Bannon.
»Deine Schicht hat letzte Nacht echt was verpasst! Drew Wilson und seine Leute wollten sich das Haus der Kinders vornehmen. Aber wir haben einen anonymen Tipp bekommen und konnten beinahe alle einkassieren.« Er runzelte kurz die Stirn. »Zwei sind uns durch die Lappen gegangen, aber vier sitzen unten im Knast. Darunter auch Drew höchstpersönlich.«
»Echt?« Kevin versuchte, überrascht und beeindruckt auszusehen. »Wir versuchen schon seit Monaten, ein paar von ihnen hopszunehmen, aber sie waren uns immer einen Schritt voraus.«
»Ich weiß, aber letzte Nacht lief bei ihnen nicht alles nach Plan. Du hättest es sehen sollen. Sie sind in alle Richtungen davongerannt. Richtig cool.«
Kevin klopfte ihm auf die Schulter. »Tolle Arbeit, Kumpel. Gut gemacht!«
Er ging zum Umkleideraum, wo Zane sicher schon auf ihn wartete. Er öffnete die Tür und sah sich um. Prewett hockte allein und mit kalkweißem Gesicht auf einer der Holzbänke. Kevin setzte noch einmal seine Trauermiene auf, obwohl er innerlich vor Freude tanzte.
»Ich habe gerade von der Sache letzte Nacht gehört.« Er klang ausdruckslos und sah Zane Prewett verwirrt an. Dann senkte er die Stimme zu einem Flüstern. »Ich dachte, Drew Wilson wäre einer von deinen Leuten. Was ist passiert?«
Zane sprang auf und wanderte auf und ab. »Keine Ahnung, verdammt! Aber wenn Wilson sich einbildet, dass ich schuld an diesem Mist bin, bin ich tot.«
Kevin hoffte von Herzen, dass das früher oder später der Fall sein würde. »Aber du hast ihm doch sämtliche Infos gesteckt, oder? Ich habe gesehen, wie du den Sicherheitscode aufgeschrieben hast. Außerdem habe ich dich gedeckt, als du einen Ersatzschlüssel hast machen lassen.«
»Ja. Und ich habe ihm eine Nachricht geschickt, dass er die Sache abblasen soll, nachdem Daniel Kinder entlassen wurde. Ich habe keine Ahnung, warum er es trotzdem durchgezogen hat, verdammt noch mal!«
Kevin starrte Zane an. »Hat er die Nachricht überhaupt bekommen?«
»Er hat sie bestätigt wie immer.« Zane stöhnte. »Aber dann ist der verfluchte Hurensohn trotzdem hingefahren.« Er wandte Kevin sein teigiges Gesicht zu. »Und das ist noch nicht mal das Schlimmste! Mein verdammtes Handy ist auch weg.«
Kevin tat schockiert. »Um Himmels willen, Zane! Wenn es gefunden wird, steckst du echt in der Scheiße.« Er schwieg einen Augenblick, dann fragte er: »Glaubst du, dass Drew Wilson dich verpfeift?«
»Was glaubst du denn, du Vollidiot?« Zane verzog wutentbrannt das Gesicht. »Ich wette, du genießt das gerade, was?«
Kevin schwebte im siebten Himmel. Er wollte laut herausschreien, dass er glücklicher war als je zuvor, doch er erwiderte mit ernster Miene: »Du bist korrupt, Zane, und du gibst dich mit Gesindel ab. Selbst du musst gewusst haben, dass das nicht ewig so weitergeht.«
Zane fuhr herum, packte Kevin am Revers und drückte ihn gegen den Spind. »Okay, aber du, mein kleiner, schwuler Freund, wirst trotzdem dein Maul halten, verstanden?«
Kevin roch Zanes sauren Atem und sah die Wut und Angst in seinen Augen.
»Unsere Vereinbarung gilt, sonst bekommt deine geliebte kleine Sophie zu spüren, dass man sich lieber nicht mit Zane Prewett anlegt! Du wirst schon sehen, Kevin.« Er verzog das Gesicht. »Mit einem so hübschen jungen Ding kann man eine Menge anstellen. Lebensverändernde Dinge.« Er schubste Kevin unsanft auf den Boden. »Abgesehen von den hübschen Fotos, die ich an deinen Daddy schicken werde. Auch wenn er sie wahrscheinlich nicht ins Familienalbum kleben wird.«
Kevin stemmte sich hoch. »Mach dir wegen mir keine Sorgen. Ich werde tun, was du von mir verlangst. Von mir erfährt keiner ein Sterbenswort. Diese Scheiße hast du ausschließlich dir selbst zu verdanken, Zane.« Er strich seine Jacke glatt. »Du kannst von Glück reden, dass es nicht während unserer Schicht passiert ist. Kannst du dir vorstellen, welche Katastrophe es gewesen wäre, wenn ausgerechnet du sie einkassiert hättest? Drew Wilson hätte dich kaltgemacht. Aber jetzt würde ich vorschlagen, dass wir rausgehen und so tun, als wäre alles wie immer.« Er ging zur Tür und musste einfach hinzufügen: »Auch wenn du dir vor Angst gerade in die Hose machst.«
Es war zehn Uhr vormittags, und Skye wünschte sich bereits, die Polizei hätte Daniel nicht entlassen. Er hatte sie um halb neun auf dem Handy angerufen und ihr mit zitternder Stimme erzählt, dass in das Haus seiner Mutter eingebrochen worden war. Ihr erster Gedanke war, dass sie nicht ordentlich abgesperrt oder die Alarmanlage nicht aktiviert hatte, obwohl es eigentlich unmöglich war. Das Haus gehörte ihr nicht, daher war sie extra vorsichtig gewesen.
»Die Polizei ist da, und die Spurensicherung trampelt wie Zombies überall herum. Zum zweiten Mal schon! Meine Mutter wird ausflippen.« Er klang wie ein Kleinkind kurz vor einem Wutanfall.
»Daniel, deine Mutter ist Tausende Kilometer weit fort und unterhält sich im Dschungel mit Pflanzen und Libellen. Wir räumen einfach noch einmal auf.« Sie betonte die Worte »noch einmal«. Sie freute sich nicht gerade darauf, den Putzmarathon zu wiederholen. Die thailändische Polizei versuchte noch immer, Ruby Kinder aufzuspüren, und sobald sie es geschafft hatten, würde sie sicher mit dem ersten Flugzeug nach Hause kommen. »Haben sie etwas Wertvolles erbeutet? Ist der Schaden sehr groß?«
»Nein. Jemand hat rechtzeitig die Polizei verständigt. Die Einbrecher wurden gefasst, bevor sie mit Mutters halbem Hausrat abhauen konnten.«
»Gott sei Dank!«, seufzte Skye. Die Lage war schon schlimm genug, da mussten nicht auch noch Diebe sämtliche Wertsachen mitgehen lassen. »Und wie geht es dir, Liebling? Konntest du ein wenig schlafen?«
Daniel schnaubte. »Keine Ahnung. Ich dachte, ich hätte geschlafen, aber die Polizisten meinten, sie wären hier gewesen, um mir von dem Einbruch zu erzählen. Ich habe …« Seine Stimme zitterte. »Ich habe nichts gehört.«
»Na, dann hast du aber wirklich gut geschlafen!«
»Nein, du verstehst nicht, Skye! Ich glaube, ich war gar nicht da.«
Mehr musste er nicht sagen. Skye spürte einen plötzlichen Druck hinter den Augen. Sie hätte am liebsten losgeheult, doch stattdessen fragte sie ruhig: »Wo warst du, als du aufgewacht bist?«
»Hier. Im Bett. Aber als ich aufstand, waren meine … Meine Schuhe waren schmutzig.«
»Bleib, wo du bist«, erwiderte Skye. »Ich komme zu dir.«
Das Team saß zusammen mit Guy Preston in Jackmans Büro. Sie tranken gerade die zweite Runde Kaffee und besprachen den versuchten Einbruch in Daniel Kinders Haus.
»Hätten wir nicht den anonymen Tipp bekommen, wäre es der perfekte Coup gewesen«, meinte Marie. »Die Presse ist mittlerweile abgezogen, die Mutter ist im Ausland, Daniel saß vermeintlich immer noch in Untersuchungshaft, und Skye war auch nicht da. Sie hatten also freie Bahn. Es war ja nicht mal die Katze zu Hause!«
Jackman runzelte die Stirn. »Ja, so ein anonymer Anruf ist schon praktisch, was? Unsere Jungs hatten gerade genügend Zeit, um hinzufahren und die Einbrecher mit dem Diebesgut im Van auf frischer Tat zu ertappen.«
»Wenn es ein Nachbar gewesen wäre, hätte er doch seinen Namen gesagt, oder?«, gab Charlie zu bedenken.
»Ein Freund von mir war letzte Nacht dort und meinte, es wäre Daniel gewesen.« Max rieb sich das Kinn.
»Daniel?«
»Ja. Er ist sich ziemlich sicher, dass er ihn am Tatort gesehen hat. Nicht im Haus, aber auf der Straße. Später sind sie zu Skye Wynyards Wohnung gefahren, um ihm von dem Einbruch zu erzählen, aber er war entweder nicht da oder hat nicht aufgemacht. Sie konnten ihn jedenfalls erst am frühen Morgen erreichen.«
»Was hat er gesagt?«, fragte Jackman.
»Er meinte, er hätte ein Schlafmittel genommen. Hat wohl geschlafen wie ein Bär.«
Jackman schnaubte besorgt. »Mann! Der Kerl bereitet mir immer noch gehörige Sorgen. Aber wir müssen uns auf unseren Fall konzentrieren. Wir brauchen sämtliche Infos über die Fleets und das zweite Opfer, Julia Hope. Und wir müssen noch mehr über Françoise Thayer herausfinden.«
Jackman malte dicke schwarze Kreise in sein Notizbuch, um Ordnung in das Chaos in seinem Gehirn zu bringen. »Okay, schreiben wir erst mal auf, was wir haben, und dann entscheiden wir, wie wir weitermachen.« Er wandte sich an Max und Charlie. »Was habt ihr bis jetzt über die Fleets in Erfahrung gebracht?«
Max nickte Charlie aufmunternd zu. »Nach dir, Kumpel.«
Charlie warf einen Blick in seine Notizen. »Also erstens hatten sie schwerwiegende finanzielle Probleme. Mit der Brauerei ging es den Bach runter, doch Fleet schaffte es irgendwie, dass niemand davon Wind bekam. Zweitens hat Alison Fleets Arzt ihr nie irgendwelche Antidepressiva verschrieben, aber wir haben ziemlich große Mengen in ihrem Kleiderschrank gefunden. In ihren Schuhen.«
»Waren die Pillenpackungen denn etikettiert?«, fragte Guy Preston.
»Nein, die Tabletten waren lose in Plastiktüten verpackt.« Charlie blätterte um. »Laut Gerichtsmedizin handelte es sich um Clomipramin Hydrochlorid, und es sieht so aus, als hätte sie es bereits längere Zeit genommen.«
»Das ist ein trizyklisches Antidepressivum«, erklärte Preston. »Es wird häufig bei Depressionen und einer Menge anderer psychischer Probleme verschrieben. Aber wenn sie es nicht von ihrem Arzt hat, von wem dann?«
Charlie nahm erneut seine Notizen zu Hilfe. »Ihr Arzt hat angegeben, dass Alison Fleet nie ernsthaft krank war. Er hat sie in den fünfzehn Jahren als seine Patientin kein einziges Mal an einen Facharzt überwiesen.«
»Wahrscheinlich hat sie sich die Pillen aus dem Internet besorgt«, meinte Preston wütend. »Dabei ist das verdammt gefährlich. Manche Menschen werden es nie lernen – und am Ende dürfen wir die Scherben aufsammeln.«
Max beugte sich vor. »Ich habe zwar keine Ahnung, wie sie an die Medikamente gelangt ist, Prof, aber ich weiß, glaube ich, was sie so fertiggemacht hat.« Er fuhr sich mit der Hand durch die dichten, dunklen Haare. »Unsere Jungs haben ihre Konten gecheckt – vor allem den Wohltätigkeitskram –, und es herrscht komplettes Chaos. Das Geld wurde wie verrückt zwischen den einzelnen Fonds hin- und herüberwiesen, und große Beträge sind einfach verschwunden. Es sieht aus, als wollte sie die Bücher frisieren. Und zwar im großen Stil.«
»Um ihrem Göttergatten aus der Patsche zu helfen?«, fragte Marie.
»Vielleicht …« Max runzelte die Stirn. »Aber es gibt weder auf dem Brauereikonto noch auf seinem persönlichen Konto Eingänge, die zu den Abbuchungen passen.«
»Sie hat es aber auch nicht für schlechte Zeiten beiseitegelegt«, fuhr Charlie fort. »Ihr Konto ist total leer geräumt, und sie hatte auch keine Offshore-Konten.«
»Was uns wiederum zu ihrem ersten Mann bringt«, sprang Max ein. »Er heißt Ryan Skinner, und Alison Fleet hat seine Nummer auf ihrem iPad gespeichert. Wir vermuten, dass sie erst kürzlich mit ihm Kontakt hatte, aber er ist ziemlich schwer aufzuspüren.«
»Wissen wir, warum sich die beiden getrennt haben?«, fragte Jackman.
»Sie haben sehr jung geheiratet, und es gibt Hinweise auf häusliche Gewalt, aber offenbar hat sie ihn nie angezeigt. Die Vermutung basiert auf den wenigen Infos, die wir bis jetzt haben, aber da ist nichts Konkretes.«
»Warum hat sie ausgerechnet jetzt erneut Kontakt zu ihm aufgenommen?«, überlegte Marie.
»Ja, warum? Einen solchen Lebensabschnitt will man doch lieber vergessen.«
»Vielleicht hatte er etwas dagegen«, bemerkte Charlie. »Erpressung könnte ein Grund für ihre katastrophale finanzielle Lage sein.«
Jackman nickte. »Dann sucht weiter nach ihm. Vielleicht ist er auch schuld, dass sie die Medikamente nahm.«
Er wollte gerade weitersprechen, als plötzlich das Telefon klingelte. Er wechselte einige Worte mit dem Anrufer, dann legte er auf. »Das war das Labor, und eines steht zumindest fest: Bruce Fleet hat tatsächlich Selbstmord begangen. Seine Fingerabdrücke befinden sich auf dem Schlauch und in der Nähe des Auspuffs. Die Garagentore und das Auto waren von innen versperrt, und die Nachricht war von ihm selbst geschrieben. Bis jetzt haben wir zwar nur die Fingerabdrücke, aber als Todesursache steht Kohlenmonoxidvergiftung fest, und die ersten Untersuchungsergebnisse legen einen Selbstmord nahe.« Er verzog das Gesicht. »Wenigstens bleibt uns ein drittes Mordopfer erspart.«
»Jetzt müssen wir nur noch beweisen, dass er kein toter Mörder ist«, fügte Charlie mürrisch hinzu. »Bruce Fleets Unternehmen ging den Bach runter, und dann fand er heraus, dass seine Frau ihrem Ex-Mann – von dem er nicht einmal etwas wusste – Geld zusteckte. Da hat er vielleicht die Kontrolle verloren.«
»Du vergisst sein Alibi, Charlie«, schaltete sich Max ein. »Er war unterwegs und hatte ein Meeting mit ein paar hohen Brauereibonzen.«
»Dann hat er eben jemanden bezahlt, der die Drecksarbeit für ihn erledigt. Dadurch hat der trauernde Ehemann ein wasserfestes Alibi.« Charlie lehnte sich selbstgefällig zurück.
»Und was ist mit der toten Krankenschwester? Julia Hope? Es war dasselbe Messer, aber es gibt keine Verbindung zwischen ihr und den Fleets. Warum hätte er sie also töten sollen?«
Charlie zuckte mit den Schultern. »So weit war ich noch nicht.«
Jackman lehnte sich zurück und streckte sich. »Bis jetzt wissen wir so gut wie gar nichts über Julia Hope. Wir kennen nicht einmal den Ort, an dem sie umgebracht wurde. Ganz zu schweigen vom Motiv.«
»Ich habe unsere uniformierten Kollegen gebeten, die Videoaufzeichnungen aus dem Krankenhaus von ihrem letzten Arbeitstag zu überprüfen. Sie versuchen, ihren Aufenthaltsort zwischen dem Verlassen des Krankenhauses und dem uns bekannten Todeszeitpunkt zu rekonstruieren«, erklärte Marie. »Außerdem sprechen sie mit sämtlichen Kollegen und Freunden, um die letzte Person ausfindig zu machen, mit der sie Kontakt hatte.«
Preston überlegte. »Könnte das Krankenhaus der gemeinsame Nenner zwischen den beiden Opfern sein? Mal angenommen, dass es überhaupt einen gemeinsamen Nenner gibt.«
Jackman stöhnte. »Das habe ich mir auch schon gedacht.«
»Ja, es wäre möglich.« Marie wandte sich an Jackman. »Aber wäre es auch ein paar diskrete Nachforschungen wert, Chef?«
Er nickte langsam. »Ja, aber wirklich sehr diskret. Die Leute dort haben immerhin einem unserer Constables Abführmittel verabreicht. Gott allein weiß, wozu sie fähig sind, wenn wir sie beschuldigen, mit Medikamenten zu dealen.« Er hielt kurz inne. »Außerdem bleibt noch die Frage, ob Daniel Kinder tatsächlich der Sohn einer Mörderin ist und deren Fetisch für Blut geerbt hat.«
»Vielleicht ist er aber auch nur ein Irrer mit Matschbirne«, fügte Max hinzu.
»Sehr nett formuliert, Max. Obwohl ich glaube, dass seine Probleme etwas tiefer greifen, als die von Ihnen erstellte … ähm … Diagnose vermuten lässt.« Guy Preston schenkte dem jungen Detective ein mildes Lächeln.
»Sorry, Prof, es stimmt doch, oder? Entweder ist er ein gefährlicher Mörder oder verrückt genug, um eine sehr schwierige Mordermittlung zu sabotieren.«
»Wenn man es so sieht, muss ich Ihnen zustimmen.« Preston zog einen Laptop aus der Aktentasche. »Übrigens habe ich einen Großteil meiner Nachforschungen über Françoise Thayer eingescannt. Vielleicht könnte einer von Ihnen beiden für jeden von uns ein Exemplar ausdrucken? Ich habe sie in einem Ordner mit ihrem Namen abgespeichert.«
»Kein Problem.« Charlie nahm den Laptop und machte sich auf den Weg. »Bin gleich wieder da.«
»Ich habe mir inzwischen Oracs Unterlagen angesehen. Sie hatten recht, Chef. Es ist wirklich keine leichte Kost.« Marie verzog das Gesicht. »Ich habe versucht, mich auf ihr Privatleben zu konzentrieren. Vor allem auf die Tatsache, wo und wann sie schwanger wurde.«
»Es war ein Junge, und er kam zu Pflegeeltern, oder?«, fragte Preston.
»Genau. Er bekam zu seinem eigenen Schutz eine neue Identität und stand während der ersten Jahre unter strenger ärztlicher und psychiatrischer Beobachtung. Er ist im Moment unauffindbar – es sei denn, Orac kann ein weiteres Wunder vollbringen.« Marie zuckte mit den Schultern. »Wir haben kein Geburtsdatum, weil Thayer ihn nie offiziell gemeldet hat. Das Alter würde zu Daniel Kinder passen, aber das trifft auch auf eine Menge anderer junger Männer zu.«
»Ich weiß nicht, ob das auch in Ihren Akten steht, aber der Junge musste Unglaubliches ertragen«, fügte Preston hinzu. »Körperliche Misshandlungen, psychische Folter und vermutlich noch einiges mehr. Als er endlich aus ihren Klauen befreit wurde, war er ein Wrack.«
»Hatte er denn keinen Namen?«
»Nein. Er wird in sämtlichen Berichten nur Junge Nummer sechs genannt.«
»Warum ausgerechnet sechs?«, fragte Max verwirrt.
»Das habe ich leider nie herausgefunden. Bloß, dass er vermutlich am 6. des Monats zu den Pflegeeltern kam. Vermutlich war der Grund tatsächlich so banal.«
Marie blätterte durch Oracs Mappe. »Hier steht dasselbe. Junge Nummer sechs war so schwer traumatisiert, dass er sich vermutlich nie mehr an die Dinge erinnern können wird, die ihm in seiner frühesten Kindheit zugestoßen sind.«
»Scheiße«, murmelte Max. »Wie bei Daniel.«
Bevor jemand etwas erwidern konnte, kam Charlie Button mit den Kopien von Guy Prestons Nachforschungen zurück.
Marie war noch immer in Oracs Unterlagen vertieft und sagte an Jackman gewandt: »Mich beunruhigt vor allem die Vorstellung, dass Thayer bis zu sieben weitere Morde begangen haben könnte. Die französische Polizei führt noch einige ungelöste Fälle, die ihr zugeschrieben werden, aber es fehlen die entscheidenden Beweise. Sämtliche Taten waren extrem grausam und brutal und wurden mit Waffen mit scharfer Klinge begangen. Sie scheint eine Vorliebe für Messer, Rasierklingen und Äxte gehabt zu haben. Alles, was bei den Opfern möglichst viel Schaden anrichtet.«
»Und einen größtmöglichen Blutverlust herbeiführt«, ergänzte Preston. »Wie Sie in meinen Unterlagen sehen, bin ich mir ziemlich sicher, dass Thayer unter einer psychischen Störung namens Hämatomanie litt. Das ist eine krankhafte Faszination für Blut.«
Charlie riss die Augen auf. »Was? Wie bei Dracula?«
Preston lachte auf. »Damit liegen Sie näher, als Sie vielleicht denken, mein Junge. Menschen mit dieser Art Störung ähneln Vampiren, obwohl nicht alle das Blut auch tatsächlich trinken.«
Jackman nickte. »Davon habe ich schon mal gehört. Ist es nicht etwas Ähnliches wie Hämatolagnie?«
Preston sah ihn überrascht an. »Entschuldigen Sie, wenn ich das so sage, aber nicht viele DI
s sind mit solchen psychologischen Fachausdrücken vertraut.«
Jackman zuckte mit den Schultern und fuhr fort: »Blutfetisch bezeichnet den Glauben innerhalb einer Gesellschaft oder Kultur, dass Blut mächtige oder sogar magische Fähigkeiten besitzt. Die Blutlust ist vor allem sexuell geprägt und eine Spielart des Sadomasochismus.«
»Genau. Aber selbst in seiner sexuellen Form ist dieser Fetisch sehr gefährlich. Nicht nur, weil er Verletzungen und Narben zur Folge hat, sondern auch aufgrund der Krankheiten, die durch das Blut übertragen werden können.«
»Das ist ja abartig«, erklärte Max angewidert.
»Glauben Sie mir«, erwiderte Preston ernst, »es war damals eine gute Sache, dass die Medien den Fall Françoise Thayer heruntergespielt haben. Hätten die Leute erfahren, was sie wirklich getan hat, hätten sie sämtliche Türen versperrt und sich zu Hause verbarrikadiert, bis sie gefasst wurde. Das ganze öffentliche Leben wäre zum Stillstand gekommen.«
»Laut Oracs Nachforschungen stellten die Pathologen damals ein spezielles Muster fest. Sie fügte ihren Opfern Schnittwunden zu, sodass sie eine Menge Blut verloren, aber nicht unmittelbar in Lebensgefahr gerieten. Anschließend wurden die Wunden immer tiefer, und es flossen noch größere Mengen Blut, bis sie das Opfer schließlich tötete oder einfach wartete, bis es verblutete.« Marie schluckte. »Der Name ›blonde Schlächterin‹ war eine ziemliche Untertreibung.« Sie las weiter. »Hier steht, dass ›in den Blutfluss eingegriffen wurde‹. Was soll das heißen?« Sie sah Preston fragend an.
»Sie tauchte ihre Hände in das warme Blut und vollführte langsame, kreisförmige Bewegungen. Was sie nach ihrer Verhaftung auch jedem bereitwillig zeigte, der krank genug war, ihr zuzuhören.« Er blähte die Wangen. »Sie trank das Blut nicht und badete auch nicht darin. Für Thayer war es der erste Kontakt, das Gefühl des frischen Blutes auf ihren Händen. Das war die einzige Möglichkeit, Befriedigung zu erfahren.«
»Kranke Schlampe«, knurrte Max.
»Das kannst du laut sagen!«, stimmte Charlie ihm zu.
»Okay, so informativ dieses Gespräch auch ist, bringt es uns in der Frage nach Daniels Herkunft keinen Schritt weiter«, seufzte Marie.
»Nein, aber ich habe da eine Idee.« Jackman kratzte sich nachdenklich am Kopf. »Orac war so nett, den Kontakt mit dem Detective herzustellen, der die damaligen Ermittlungen leitete. Es kann nicht schaden, mit ihm zu sprechen. Ich kann mich natürlich auch täuschen, aber es besteht die klitzekleine Möglichkeit, dass er etwas für sich behalten hat, das nie den Weg in einen Beweisbeutel fand.«
»Ein Erinnerungsstück?«, fragte Charlie skeptisch. »Aber warum?«
»Das kommt oft vor. Vor allem, wenn ein Fall ungelöst bleibt und er den Detective nicht mehr loslässt.«
»Solche Andenken können große Macht besitzen, wie Sie sicher wissen, DI
Jackman.« Preston betrachtete Jackman mit unverhohlenem, neu erwachtem Interesse.
Charlie schnaubte. »Ich wusste, dass Serienmörder gerne eine Trophäe mitnehmen. Aber ich hätte nie gedacht, dass ein Polizist sich ein Andenken an eine Leiche behält.«
»Es ist kein Andenken an eine Leiche, Charlie«, entgegnete Jackman geduldig. »Es ist eine Erinnerung an einen Fall, den dieser Mensch nie mehr vergessen wird. An einen Fall, der ihn Monate oder vielleicht sogar Jahre seines Lebens kostete. Vielleicht war er sogar der letzte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Der zum Ende einer Ehe führte oder der Grund für den Griff zur Flasche war. Es ist eine sehr persönliche Sache, Charlie.«
»Ich rede mit ihm«, beschloss Marie. »Ich rufe ihn an, und wenn er Zeit hat, fahre ich sofort los. Wenn ich das Motorrad nehme, bin ich bis zur Nachmittagsbesprechung wieder da. Hoffentlich mit ein paar Antworten.« Sie wandte sich an Jackman. »Ich weiß genau, worauf Sie hoffen, Chef. Keine Sorge.«
Jackman nickte lächelnd. »Aber immer schön die Geschwindigkeitsbeschränkungen einhalten, ja?«
Marie warf ihm einen entnervten Blick zu, legte ihre Unterlagen auf den Tisch und verließ das Zimmer. Jackman sah den Blick der anderen drei Männer. Natürlich hoffte er auf eine DNA
-Probe.
Falls der alte Detective tatsächlich ein Erinnerungsstück behalten hatte, bestand die geringe Chance, dass es Thayer gehört hatte, und mit den neuesten technischen Errungenschaften war es vielleicht möglich, es auszuwerten. Es war weit hergeholt, aber selbst mithilfe von Oracs übermenschlichen Fähigkeiten konnte es Wochen dauern, bis sie die alten Beweismittel ausfindig gemacht hatten, die vielleicht ohnehin bei dem Brand im Lager zu Asche zerfallen waren. Es war jedenfalls einen Versuch wert, damit sie das Geheimnis um Daniel Kinder endlich lösen konnten.
»Dann fährt sie also immer noch Motorrad?«
Prestons Stimme holte Jackman zurück in die Wirklichkeit.
»Ja, sie ist schnell wie der Wind«, erwiderte Max und erschauderte übertrieben dramatisch. »Also mich würde man für kein Geld der Welt auf so ein Ding bringen.«
Jackman hörte seinen Kollegen zu, die sich über die Gefahren des Motorradfahrens unterhielten, und wurde plötzlich wütend. Was sollte Prestons salopper Kommentar über Marie? Er tat so, als wären sie die besten Freunde, und Jackman störte das gewaltig.
Er kratzte sich erneut am Kopf und fragte sich, was der Grund dafür war. Marie und er waren immerhin kein Paar, und er hatte diesbezüglich auch keinerlei Ambitionen. Trotzdem hatten sie eine Beziehung. Er konnte die Verbindung zwischen ihnen nicht beschreiben, aber sie war sehr stark, und er wusste, dass Marie es ebenfalls spürte. Sie waren Partner, und er hätte sein Leben für sie riskiert. Ihre Beziehung basierte auf gegenseitigem Respekt, und er bewunderte Marie sehr. So etwas hatte er noch nie zuvor in einem Team erlebt, und nach allem, was ihm Marie über ihre bisherigen Vorgesetzten erzählt hatte, ging es ihr genauso. Er beschloss, dass er durchaus das Recht hatte, wütend zu werden, wenn sich Leute in ihr Leben einmischten. Prestons Kommentar hatte beinahe abfällig geklungen, als wüsste er am besten, was gut für sie war.
»Erzähl dem Professor, was sie getan hat, nachdem ihr Mann gestorben ist.« Charlie sah Max an, und ein ehrfürchtiger Ausdruck machte sich auf seinem Gesicht breit.
Jackman versteifte sich. Er überlegte, ob er das Gespräch beenden sollte, aber im Grunde stand es ihm nicht zu. Das, was Marie getan hatte, war sehr persönlich und hatte eine Menge Mut erfordert.
»Wussten Sie, dass Bill Evans mit Oldtimer-Bikes Rennen fuhr, Prof?«, fragte Max.
Guy Preston schüttelte den Kopf. »Ich wusste, dass sie gemeinsam als Zuschauer zu Motorradrennen fuhren, aber ich hatte keine Ahnung, dass er selbst mitmachte.«
»Bill war ein richtig guter Motorradpolizist und fuhr in seiner Freizeit Rennen. Bis er vor etwa zehn Jahren verunglückte.«
Jackman zuckte zusammen, und Max verzog das Gesicht. »Er fuhr eine alte Vincent Black Shadow, die sein ganzer Stolz war. Die Fahrbahn war ölverschmiert, und der Hinterreifen rutschte weg. Er war sofort tot.«
Preston wurde blass. »War Marie dabei? Hat sie es gesehen?«
Jackman ergriff das Wort, um es endlich hinter sich zu bringen.
»Es passierte direkt vor ihr. Aber Charlie geht es vor allem darum, was Marie nach dem Unfall getan hat.« Jackman holte tief Luft. Es berührte ihn noch immer. »Sie reparierte das demolierte Motorrad. Und an Bills erstem Todestag nahm sie in seinem Namen an dem Rennen teil und fuhr dieselbe Strecke. Sie hat nicht gewonnen, aber das war auch nicht der Sinn der Sache. Sie kam ins Ziel und stand als Dritte auf dem Podest. Es war mehr, als sie sich erwartet hatte, und sie ging zufrieden nach Hause. Sie hatte die Sache abgeschlossen.«
Soweit Jackman wusste, befand sich das Motorrad immer noch in Maries Garage. Mittlerweile fuhr sie eine Kawasaki Ninja ZX-6R
und war vermutlich bereits auf dem Weg nach Rutland.
»Aber wir schweifen ab. Wir haben immer noch zwei tote Frauen, und der Fall ist noch lange nicht gelöst.«