Kapitel 17
Skye betrachtete Daniel, der mit der Katze im Arm auf dem Boden saß. Er ließ den Kopf hängen und hatte die Knie bis zur Brust hochgezogen. Bei seinem Anblick empfand Skye tiefe Verzweiflung.
Daniel brauchte Hilfe, und wenn er sie nicht bald bekam, würde er noch zwangseingewiesen werden. Wie war es möglich, dass sich ein intelligenter junger Mann mit einer brillanten Zukunft derart veränderte? Dass er sich in einen unerreichbaren, tragischen Fremden verwandelte? Vermutlich war seine langjährige Besessenheit von einer kranken Mörderin durch Alison Fleets Tod verschlimmert worden und sein Gehirn damit nicht mehr klargekommen.
Aber wie konnte sie ihm helfen? Es war schön und gut, dass sie mit dem Polizeipsychologen arbeiten würden, und sie war sehr erleichtert gewesen, dass sich Daniel dazu bereit erklärt hatte. Aber selbst wenn sie Glück hatten, würde die Therapie nicht länger als eine Stunde am Tag dauern, und nach einer gewissen Zeit würden die Sitzungen vermutlich nur noch einmal in der Woche und schließlich nur noch einmal im Monat stattfinden.
Skye ließ sich neben Daniel auf den Boden sinken und schloss ihn in die Arme. Sie saßen wohl lange Zeit schweigend nebeneinander, denn als es schließlich an der Tür läutete und sie sich hochstemmte, waren ihre Arme und Beine steif.
Daniel hatte die Klingel offenbar nicht gehört – genauso wenig wie er merkte, dass sie ihn losgelassen hatte. Skye machte sich mit einem schlechten Gefühl auf den Weg zur Tür. Wer würde es dieses Mal sein? Welchem besorgten Gesicht würde sie bald gegenüberstehen? Welche schrecklichen Neuigkeiten gab es dieses Mal? Wie viel konnte sie noch ertragen?
»Es tut mir leid, wenn ich störe.« Lisa Hurley wirkte beinahe krank vor Sorge. »Aber du hast dein Telefon bei mir vergessen, als du vorhin so übereilt aufgebrochen bist.«
Skye starrte auf das dunkelrote Handy in der ausgestreckten Hand und hätte beinahe laut aufgelacht. Vor der Tür stand eine Freundin, die ihr etwas Verlorengeglaubtes wiederbrachte. Sie lächelte, und gleichzeitig traten ihr Tränen in die Augen. »Danke! Ich habe gar nicht bemerkt, dass ich es vergessen habe.«
Lisa Hurley sah aus, als würde sie ebenfalls gleich zu weinen beginnen. »Skye, lass dir helfen! Du kannst das nicht allein. Sonst wirst du auch noch krank.«
Skye schluckte die Tränen hinunter, atmete zitternd ein und winkte Lisa in die Wohnung.
Sie gingen den Flur entlang und hielten vor der Wohnzimmertür inne. Skye deutete auf Daniel, der wie eine regungslose Statue auf dem Boden saß. »Sieh ihn dir an. Sieh dir meinen Daniel an, Lisa! Ich liebe ihn, aber ich weiß nicht mehr, was ich machen soll. Ich weiß nicht, wie ich ihm helfen soll.«
Lisa Hurley betrachtete Daniel, bevor sie sich abwandte und in Skyes Küche trat. Sie setzte wortlos Wasser auf, bevor sie drei Becher aus dem Regal holte. »Wie lange sitzt er schon so da?«
Skye war froh, endlich etwas Alltägliches zu tun zu haben, und öffnete die Dose mit dem Kaffee. »Eine Stunde? Als ich nach Hause kam, war er fahrig und nervös. Er lief ständig auf und ab und machte sich Sorgen, weil er schon wieder nicht wusste, wo er gewesen war. Dann hat er sich auf den Boden gesetzt und sich vollkommen in sich zurückgezogen.«
»Er braucht Medikamente. Und zwar starke, wenn ich mir das so ansehe. Außerdem sollte er unter ständiger Beobachtung stehen.« Lisas Augen wurden schmal. »Wer ist denn der behandelnde Arzt?«
»Professor Guy Preston. Er arbeitet für die Polizei. Wir haben heute Nachmittag einen Termin.«
»Wo?«
»Bei ihm zu Hause.«
»Aber das ist doch sicher ein Missverständnis, oder?« Lisa runzelte die Stirn. »Solche Treffen finden in einer Klinik oder Arztpraxis statt.«
Skye seufzte und gab einen Löffel Kaffee in jeden Becher. »Er empfängt uns privat. Das war eine der Bedingungen, als Daniel entlassen wurde. Soweit ich weiß, soll Guy Preston die neue psychiatrische Station in Frampton Shore übernehmen, aber die ist noch nicht fertig. Deshalb hat er uns angeboten, zu ihm nach Hause zu kommen. Was man so hört, ist er eine Koryphäe.«
»Hast du ihn schon kennengelernt?«
»Ja, und ich mochte ihn. Er war uns eine große Hilfe.« Skye schluckte. »Ich vertraue ihm, und ich glaube wirklich, dass er Daniel helfen kann.« Sie schob die Becher näher an den heißen Wasserkocher heran. »Aber vor allem ist er auf unserer Seite. Er glaubt nicht, dass Daniel jemanden umgebracht hat, und das hat er der Polizei auch gesagt.«
Lisa lehnte sich gegen die Arbeitsplatte. »Das ist toll, aber er sollte ihn unbedingt in diesem Zustand sehen.« Sie sah Skye in die Augen. »Ich sage das nicht gerne, aber das hier ist wirklich bedenklich. Daniel braucht mehr als nur deine Liebe und Unterstützung. Er braucht professionelle Hilfe.«
»Ich werde Guy Preston heute Nachmittag davon erzählen. Vielleicht kann er Daniel in ein Krankenhaus einweisen.«
»Das wäre vermutlich das Beste. Aber jetzt sollten wir versuchen, zu ihm durchzudringen.« Lisa goss Wasser in die Becher und gab Milch und Zucker dazu. »Er sollte nachher unbedingt ansprechbar sein, sonst hat die Sitzung mit dem Psychologen keinen Sinn.«
Skye machte sich auf den Weg ins Wohnzimmer, doch dann hielt sie abrupt inne. Die Katze strich um ihre Knöchel.
»Daniel?« Sie stellte den Kaffee so schwungvoll auf den Couchtisch, dass er überschwappte, und rannte ins Schlafzimmer und anschließend ins Bad. »Er ist weg!«, rief sie.
Lisa eilte zur offen stehenden Hintertür und warf einen Blick hinaus. »Da ist er!«
Skye eilte zu Lisa und entdeckte Daniel, der eine Seitengasse hinunterlief.
»Daniel! Komm zurück!«
Die beiden Frauen rannten hinterher, und einen Moment lang glaubte Skye, Daniel würde vielleicht zu ihr zurückkehren. Er blieb stehen, wandte sich um und sah sie mit traurigen Augen an. »Komm nicht näher, Skye! Halte dich von mir fern!«, flehte er, bevor er sich erneut abwandte und davonlief.
Sie hetzten hinterher, doch er sprang über einen Zaun und verschwand zwischen den alten Eisenbahngebäuden. In diesem Labyrinth würden sie ihn niemals einholen. Skye spürte Lisas Hand auf ihrer Schulter, während sie beide nach Atem rangen.
»Vor dem Haus steht ein Streifenwagen«, keuchte Lisa. »Wir hätten die Polizisten sofort verständigen sollen, anstatt hinter ihm herzulaufen. Ich gehe zu ihnen und erzähle, was passiert ist. Und du rufst Professor Preston an, okay?«
Skye sah einen Moment sehnsüchtig in die Richtung, in die Daniel verschwunden war, dann nickte sie und ging zu ihrem Haus zurück.
Orac hatte recht gehabt, was den pensionierten DI Peter Hodder betraf. Er war wirklich ein netter alter Mann. Er kochte Tee in einer echten Teekanne und seihte ihn dann sorgfältig mit einem silbernen Sieb ab.
Hodder wohnte in einer betreuten Wohneinheit in einem umgebauten Herrenhaus. Die Gärten waren herrlich, wenn auch ein wenig überwuchert, und obwohl das alte Haus von außen kalt und nüchtern wirkte, waren die Wohnungen überraschend einladend, großzügig und sauber. In Hodders Apartment waren sogar noch einige Details von früher erhalten geblieben, darunter ein hohes Flügelfenster, ein gusseiserner Kamin und die hübsche Deckenverzierung.
»Ist das die neue Sergeantuniform?« Hodders Augen funkelten, als sein Blick über Maries Motorradkluft und die schweren Stiefel glitt.
»Nicht ganz«, erwiderte Marie grinsend. Er war eine erfrischende Abwechslung zu den hartgesottenen, verbitterten und übergewichtigen ehemaligen Detectives, die sie bis jetzt kennengelernt hatte, und seinem festen Händedruck und dem klaren Blick nach zu urteilen, hatte er auch nie Zuflucht im Alkohol gesucht.
Sie nippte dankbar an ihrem Tee. »Ich wäre gern aus einem erfreulicheren Anlass hier, aber wir hatten gehofft, dass Sie uns vielleicht helfen können.«
Der alte Mann sank in seinen automatisch verstellbaren Lederlehnstuhl und richtete die Position ein. »Der hier hat ein Vermögen gekostet, Liebes, aber ich schwöre, er war es wert! Nachdem ich weiß Gott wie viele Jahre Verbrecher gejagt habe, brauchen die alten Knochen sämtliche Hilfe, die sie kriegen können.« Er lehnte sich zurück und verschränkte die Hände im Schoß. »Aber wir wollen nicht über Lehnstühle reden, richtig? Sondern über den Teufel in Menschengestalt, Françoise Thayer.«
»Ich fürchte ja.« Marie stellte ihre Tasse ab. »Wir haben zwei Mordopfer in unserem Zuständigkeitsbereich, und ein junger Mann hat beide Morde gestanden. Allerdings gibt es keine Beweise, dass er die Frauen tatsächlich auf dem Gewissen hat. Er glaubt nur, ein Mörder zu sein, weil er sich für Françoise Thayers Sohn hält.«
»Tatsächlich?« Die Augen des alten Mannes weiteten sich. »Also, ich würde das nicht freiwillig rausposaunen.« Er lachte freudlos. »Von der einen Frau habe ich gelesen, aber es gibt noch eine zweite?«
»Ja. Wir haben es unter Verschluss gehalten, bis wir wussten, wer sie ist. Aber heute Abend kommt es in den Nachrichten. Sie war Krankenschwester im örtlichen Krankenhaus.«
»Und beide Frauen wurden brutal erstochen?«
»Es war grausam. Bei beiden.« Marie hielt kurz inne. »Sehr blutig.«
Peter Hodder betrachtete sie gedankenverloren. »Dann wissen Sie also von Françoise Thayers Fetisch?«
»Ja.«
»Und Sie vergleichen ihre Taten mit den neuen Fällen?«
»Das müssen wir, ob wir es wollen oder nicht. Aufgrund des Geständnisses unseres Verdächtigen dürfen wir diese Möglichkeit nicht außer Acht lassen.« Marie griff nach ihrer Tasse und erzählte Hodder von den fehlenden Beweismitteln und Gerichtsprotokollen. »Es ist schwer, Parallelen zu finden, weil sich sämtliche Originalunterlagen in Rauch aufgelöst haben.«
»Es ist sogar unmöglich, würde ich sagen.« Hodder nippte an seinem Tee. »Aber wo komme ich ins Spiel? Der Fall ist Jahre her, und auf mein Gedächtnis ist nicht mehr zu hundert Prozent Verlass.«
»Es war Ihr letzter großer Fall, Sir, und ich nehme an, Sie erinnern sich an jedes kleinste Detail, aber das wäre gar nicht notwendig.« Marie leckte sich über die Lippen und überlegte, wie sie die Frage formulieren konnte, ohne den alten Mann zu verärgern. »Wir müssen unbedingt wissen, ob unser Verdächtiger Françoise Thayers Sohn ist oder nicht. Gäbe es noch irgendwo Beweise, könnten wir einen DNA -Test machen, und damit wäre die Sache erledigt.«
»Aber es gibt nichts mehr, und nun fragen Sie sich, ob ich vielleicht ein kleines Andenken behalten habe, nicht wahr?« Sein Gesicht verfinsterte sich. »Glauben Sie mir, Sergeant Evans, ich brauche nichts, um mich an diese Frau zu erinnern. Meine wiederkehrenden Albträume sorgen schon dafür, dass ich ihr bösartiges, spöttisches Grinsen nie vergessen werde.« Er lehnte sich wieder zurück, und der Ärger war verraucht. »Das Wort ›böse‹ wird oft inflationär verwendet, aber auf Françoise Thayer traf es zu. Sie war die einzige Frau – nein, der einzige Mensch, den ich jemals kennengelernt habe, der über keinerlei Seele verfügte und hoffnungslos verloren war. Sie konnte nicht gerettet werden, weder von Menschenhand noch von Gott. Kein Officer, der an dem Fall arbeitete, blieb davon unberührt, und ich bin mir sicher, dass einige immer noch nicht ruhig schlafen können, obwohl sie bereits lange Zeit tot ist.« Er blinzelte. »Es tut mir leid, Sergeant, aber ich habe nie auch nur das geringste Verlangen verspürt, mir eine Erinnerung an sie aufzubewahren, schon gar keine, die vielleicht noch eine wertvolle DNA -Probe enthält.«
Marie nickte. Das war’s also.
»Aber ich habe noch meine alten Notizbücher.«
Marie versteifte sich.
Peter Hodder lächelte. »Ich habe sie sofort nach dem Gespräch mit der Furcht einflößenden Dame aus Ihrer IT -Abteilung herausgesucht.« Das traurige Lächeln wurde breiter. »Meine Aufzeichnungen waren immer sehr genau, pingelig sogar. Ich habe keine DNA , aber Sie können meinen Albtraum noch einmal mit mir erleben.«
Maries Laune hob sich schlagartig. Das war sogar noch besser! Sie hatte DI Peter Hodder natürlich überprüft, und seine Akte war beispielhaft. Er war ein intuitiver Polizist mit Gespür für die Wahrheit gewesen. Kein Wunder, dass er methodisch und genau vorgegangen war. »Sie sind ein Held, Sir. Und ich versichere Ihnen, dass Sie alles zurückbekommen werden, sobald wir damit fertig sind.«
»Ehrlich gesagt wird es langsam Zeit loszulassen. Verwenden Sie die Notizen für Ihren Fall, und ich hoffe, dass sie Ihnen eine Hilfe sein werden. Danach legen Sie sie in einen Beweismittelkarton, versiegeln ihn und halten die Daumen, dass das Glück uns erneut wohlgesonnen ist und auch noch ein zweites Beweismittellager vom Blitz getroffen wird und niederbrennt.«
»Wir wissen Ihre Hilfe sehr zu schätzen. Es ist ein verwirrender Fall, und bei unserem jungen, geständigen Verdächtigen ist es schwer, Herz und Verstand auseinanderzuhalten.«
»Wenn man Herz und Verstand zusammenzählt, kommt etwas wie Bauchgefühl heraus. Hören Sie immer darauf, was Ihnen Ihr Bauchgefühl sagt, Sergeant Evans! Es irrt sich selten.«
»Ich glaube, er hat schwere psychische Probleme, aber er ist kein Mörder.« Marie seufzte nachdenklich. »Aber ich bin mir nicht sicher, ob ihn ausschließlich seine ungesunde Besessenheit und seine offensichtlichen Gedächtnislücken in eine derart gefährliche Lage gebracht haben.«
»Dann lassen Sie ihn besser nicht aus den Augen. Ich ertrage den Gedanken nicht, dass Françoise Thayer ihre Klauen erneut ausstreckt und weitere unschuldige Leben zerstört.« Er stellte seine Tasse ab und sah sie an. »Würden Sie mir Bescheid geben, falls der Junge tatsächlich ihr Sohn sein sollte?«
Marie erhob sich. »Das wäre wohl das Mindeste, Sir.« Sie nahm den Stapel Notizbücher an sich. »Danke noch mal.«
Er begleitete sie zu ihrem Motorrad und strich mit der Hand über den glänzenden, grellgrünen Lack. »Wunderschön. Wirklich wunderschön.«
Marie nickte verständnisvoll. Der alte Mann hatte offenbar auch einmal ein über alles geliebtes Motorrad besessen. »Was war es bei Ihnen?«
»Eine 350 cc 1957 Matchless G3L. Dicht gefolgt von einer 1960er 600 cc Triton.«
»Sie waren ein Cafe Racer!«, sagte Marie lachend.
Hodder nickte und lächelte glücklich, und Marie sah plötzlich den waghalsigen jungen Mann vor sich, der mit seinem auffrisierten Motorrad mit bis zu 160 km/h vom legendären Ace Cafe bis zum nächsten Kreisverkehr und wieder zurück gerast war, bevor die Jukebox den Song zu Ende gespielt hatte.
»Sagen Sie es nicht weiter, aber ich bin immer noch Mitglied im 59 Club.«
»Das ist doch schön! Einmal Biker, immer Biker!« Marie setzte den Helm auf. »Danke noch mal für Ihre wertvolle Hilfe.«
»Passen Sie auf sich auf«, bat er, bevor sie den Motor anließ. »Und denken Sie daran: Vertrauen Sie auf Ihr Bauchgefühl, und lassen Sie den Jungen nicht aus den Augen!«