Kapitel 20
Kevin Stoner saß in dem leeren Büro und wartete auf den Inspector. Das Zimmer befand sich am oberen Ende der Treppe, die zu den Verwahrungszellen hinunterführte, und durch die einen Spaltbreit geöffnete Tür hörte Kevin seinen ehemaligen Partner brüllen. Seine Drohungen und Flüche hallten durch die ganze Dienststelle.
Sein ehemaliger Partner. Das klang wirklich gut. Kevin machte es nicht einmal etwas aus, dass er bald selbst in die Mangel genommen werden würde. Er hatte sich genau überlegt, was er sagen würde, und er hoffte, dass er sich damit von jedem Verdacht freisprechen würde, Zane Prewetts Verbrechen unterstützt zu haben. Es gab zwei Möglichkeiten, wie die Sache ablaufen konnte: Entweder wurde er den Wölfen zum Fraß vorgeworfen, oder sein bisheriges tadelloses Verhalten kam ihm zugute. Auf jeden Fall aber würden Prewett und er ab jetzt getrennte Wege gehen.
Die Tür ging auf, und der Inspector und sein Sergeant John Cadman marschierten ins Büro. Kevin sprang auf und stand stramm, während der Sergeant die Tür schloss.
»Was zum Teufel ist hier los, Stoner? Wussten Sie davon? Denn falls ja, dann ist es mir egal, ob Ihr Vater der Bischof oder sonst wer ist – dann sind Sie auf jeden Fall dran!«
Kevin atmete tief durch, umklammerte die Hände hinter seinem Rücken und antwortete: »Sir, ich gebe zu, dass ich PC Prewett schon länger in Verdacht hatte, sich ungebührend zu verhalten, aber als ich ihn darauf ansprach, wurde ich mit einigen schwerwiegenden Drohungen konfrontiert. Gegenüber mir selbst und meiner Familie.«
Inspector Jim Gilbert ließ sich in seinen Stuhl fallen und seufzte schwer. »Na toll! Genau das, was wir brauchen. Schießen Sie los, Stoner. Und lassen Sie ja nichts aus, verdammt noch mal!«
Kevin nickte. »Natürlich, Sir, aber bevor ich meine Aussage mache, sollten Sie noch etwas wissen, und ich muss Sie um Ihre Hilfe bitten.« Er zögerte. »Es ist eine ziemlich heikle Angelegenheit.«
Der Inspector warf dem Sergeant einen besorgten Blick zu, und seine Augen wurden schmal. »Ich kann ja wohl kaum zustimmen, wenn ich nicht einmal weiß, worum es geht. Außerdem sind Sie weiß Gott nicht in der Position, um Forderungen zu stellen.«
Kevin stand immer noch stramm, obwohl er sich am liebsten zu einem kleinen Ball zusammengerollt hätte, während er den beiden Polizisten von den Fotos erzählte, die Zane heimlich von ihm hatte machen lassen. Er wählte seine Worte mit Bedacht, wie er es vorab geplant hatte, und seine Geschichte endete mit einer demütigen Entschuldigung: »Ich würde niemals Schande über unsere Dienststelle bringen, Sir. Es war ein privater, sehr intimer Moment, und Prewett hat jemanden bezahlt, um mir hinterherzuspionieren und Fotos davon zu machen. Ich fühle mich gedemütigt und bin zutiefst erschüttert, Sir. Sollten die Fotos in die Hände der Presse gelangen, würden sie einen riesigen Skandal auslösen, und zwar nicht nur, was mich, meine Familie und die ganze Polizei betrifft, sondern auch die andere Person auf den Fotos.«
Die Augen des Inspectors wurden noch schmaler. »Ist uns diese ›andere Person‹ denn bekannt, Stoner?«
»Ja, Sir«, erwiderte Kevin langsam und deutlich. »Er ist der Sohn eines leitenden Polizeibeamten.«
Inspector Gilbert knirschte mit den Zähnen und stieß einen Schwall Flüche aus. Dann wandte er sich an John Cadman: »Sergeant, nehmen Sie sich einen vertrauenswürdigen Officer und fahren Sie sofort in Prewetts Wohnung, um die Fotos sicherzustellen. Außerdem will ich sämtliche Kameras, seine Computerfestplatte und alle anderen Speichermedien, auf denen sich die Bilder befinden könnten. Bringen Sie alles her, und zwar schnell, bevor die Hausdurchsuchung beginnt.«
Der Sergeant nickte knapp und trat auf die Tür zu. »Bin schon auf dem Weg, Sir.«
»Ach, und John? Wenn Sie wiederkommen, will ich, dass ein vertrauenswürdiger Kollege nachsieht, ob die Bilder vielleicht auch online gespeichert wurden. Falls ja, müssen wir mit dem Provider in Kontakt treten, der den Speicherplatz zu Verfügung stellt.« Er grunzte. »Ehrlich gesagt bezweifle ich, dass Prewett gerissen genug ist, um sie zu verschlüsseln und im Darknet hochzuladen, aber man weiß ja nie. Wir können nur hoffen, dass er nicht so schlau war.«
Cadman eilte davon, und Inspector Gilbert wirkte mit einem Mal erschöpft. Er schüttelte den Kopf. »Setzen Sie sich, Kevin. Sie haben erwähnt, dass er auch Ihre Familie bedroht hat, und ich schätze, damit meinten Sie nicht nur diese Fotos, die er Ihrem Vater schicken wollte.«
»Nein, Sir. Obwohl Zane zuerst zu meinem Dad gehen wollte.« Kevin saß kerzengerade auf dem Stuhl. Er wagte nicht, sich zu entspannen, bis alles vorbei war. »Ich habe eine kleine Nichte, Sir. Die Tochter meines Bruders. Sie heißt Sophie und ist erst neun. Zane hat angekündigt, ihr wehzutun, und es klang nicht wie eine leere Drohung.« Er ließ den Kopf hängen. »Ich hatte schreckliche Angst, und nachdem ich keine Beweise für seine illegalen Machenschaften hatte, konnte ich nichts sagen. Ich konnte nicht riskieren, dass der Kleinen etwas zustößt.« Kevin sah seinem Vorgesetzten in die Augen. »Es tut mir leid, Sir. Ich habe alle enttäuscht. Sogar DI Jackman hat gemerkt, dass etwas nicht stimmt, und mir geraten, mich von Prewett fernzuhalten. Ich wollte ihm alles erzählen, aber ich musste immer daran denken, was Prewett Sophie womöglich antun würde. Lebensverändernde Dinge, genau das hat er gesagt.«
»Und Sie schwören, dass Sie nichts mit den Deals zwischen Prewett und Drew Wilson – oder einem anderen Kriminellen – zu tun hatten?«
»Ja, ich schwöre, Sir.«
Der Inspector lehnte sich in seinem Stuhl zurück und faltete die Hände im Schoß. »Ich akzeptiere Ihre Begründung, Kevin. Sie hatten eine reine Weste, bevor ich Sie mit Prewett zusammengespannt habe – was ironischerweise den Zweck hatte, ihn wieder auf Spur zu bringen. Es wird natürlich eine Untersuchung geben, und Sie werden eine Menge Fragen beantworten müssen, aber ich bin guter Hoffnung, dass Ihre Karriere nicht darunter leiden wird.«
Kevin schluckte. »Danke, Sir.« Er zögerte. Er wollte unbedingt wissen, was mit den Fotos passieren würde.
»Ich würde vorschlagen, Sie vergessen, dass die Fotos jemals existiert haben. Wir haben genug Probleme, immerhin ist ein Dreifachmörder in Saltern unterwegs. Wir können uns also keinen weiteren Skandal leisten. Bis morgen sind alle Spuren vernichtet, und ich bezweifle, dass Prewett die Bilder zur Sprache bringen wird. Immerhin hat er einen Kollegen damit erpresst.« Er schnaubte angewidert. »Verdammt! Ich wusste von Anfang an, dass er Probleme machen wird, aber niemand hat geahnt, dass er tatsächlich korrupt ist.« Er warf Kevin einen reumütigen Blick zu. »Es tut mir leid, dass ich Sie zu Prewetts Partner gemacht habe. Ich hatte nur die besten Absichten, aber ich habe Sie damit in eine unmögliche Situation gebracht. Bitte entschuldigen Sie.«
Das war besser, als Kevin zu hoffen gewagt hatte. »Es gibt nichts zu entschuldigen, Sir. Ich hätte schon viel früher den Mut aufbringen sollen, zu Ihnen zu kommen. Es ist also allein meine Schuld.«
Der Inspector musterte ihn eindringlich. »Weiß Ihr Vater von Ihrer sexuellen Orientierung?«
Kevin schluckte hörbar. »Nein, Sir. Er wäre am Boden zerstört.«
»Da bin ich anderer Ansicht.« Gilbert lächelte traurig. »Er hätte sich diesen Weg vielleicht nicht für Sie ausgesucht, aber ich würde vorschlagen, dass Sie ihm ein wenig mehr Verständnis zugestehen. Vielleicht weiß er es schon und wartet nur darauf, dass Sie ihn ins Vertrauen ziehen.« Der Blick des Inspectors war beinahe väterlich. »Sie sollten auf jeden Fall nicht mehr zu lange damit warten. Niemand kann Sie erpressen, wenn alle Bescheid wissen, und wir leben im einundzwanzigsten Jahrhundert, Kevin. Die Leute sind um einiges liberaler als noch vor zwanzig Jahren.«
Kevin nickte. »Ich werde mit ihm reden, Sir. Ich habe genug von der Heimlichtuerei.«
»Ihnen ist doch klar, dass ich Sie suspendieren muss?«
»Natürlich, Sir. Ich werde alles tun, was von mir erwartet wird.« Kevin erhob sich, nahm seine Dienstmarke und legte sie auf den Schreibtisch. »Ist das alles, Sir?«
»Im Moment ja. Gehen Sie nach Hause, reden Sie mit Ihrem Vater, und denken Sie daran, was ich über die Fotos gesagt habe. Kein Wort zu niemandem. Vergessen Sie sie. Sie haben nie existiert.«
Tränen stiegen in Kevins Augen, als er das Zimmer schließlich verließ. Selbst wenn er davonkam – und das war bei Weitem nicht sicher –, hatte Zane Prewett dafür gesorgt, dass es nie wieder so sein würde wie früher. Er würde diese verdammten Fotos sein ganzes Leben lang nicht vergessen.
Jackman fuhr widerstrebend mit dem Aufzug nach unten in den Keller. Er versuchte noch immer, einen Grund für seine irrationale Angst vor Orac zu finden. Gut, Angst war vielleicht nicht das richtige Wort, aber er fand ihre Zusammenkünfte auf jeden Fall verstörend. Marie schien sich hingegen recht gut mit ihr zu verstehen, und wenn man die Menge an Informationen betrachtete, die Orac geliefert hatte, war eine wirklich gute Zusammenarbeit zwischen ihnen entstanden.
Wahrscheinlich waren es die Augen. Oder vielleicht doch ihr außergewöhnliches Selbstvertrauen?
Der Aufzug wurde langsamer, und Jackmans Herz schlug schneller. Vielleicht war es keines von beidem. Orac war einfach einmalig. Sie war ganz anders als alle Menschen, die er bis jetzt kennengelernt hatte, sogar an der Uni. Er schüttelte den Kopf und versuchte, sich zu beruhigen, während er auf die Tür der IT -Abteilung zuging.
Er drückte sie auf, doch Oracs Platz war leer. Einen Moment lang wusste er nicht, ob er erleichtert oder enttäuscht sein sollte.
»Kann ich Ihnen helfen, Sir?«
Eine Frau trat aus dem angrenzenden Büro. Ihre langen dunklen Haare wurden von einem breiten, scharlachroten Haarband zurückgehalten, und sie erinnerte Jackman an eine moderne Alice im Wunderland. »Ähm, ja, danke. Ich brauche Zugang zu HOLMES
»Oh, gut. Ich dachte, Sie suchen Orac. Sie hat sich ein paar Stunden freigenommen.« Die Frau streckte die Hand aus. »Ich bin Sylvia Sherwood, und HOLMES ist mein Baby.«
Jackman lächelte. Er hatte einen Aufschub erhalten. »Wunderbar. Ich bin DI Jackman, und ich brauche Ihre Hilfe. Wir haben drei Mordopfer in unserem Zuständigkeitsbereich und befürchten einen Serienmörder, was ja Ihr Spezialgebiet ist.« Er deutete auf die dicke Mappe, die er dabeihatte. »Das ist alles, was wir bis jetzt haben.«
»Ich habe Sie schon erwartet. Dann sind es also bereits drei Tote?« Ihr Gesicht wurde schlagartig ernst. »Okay, ich mache mich sofort an die Arbeit. Das System ist inzwischen um einiges schneller. Ich starte die Suchanfragen und halte Sie dann auf dem Laufenden, DI Jackman.«
Er gab ihr die Mappe und wandte sich ab. »Ach ja, und wenn Sie Orac sehen, sagen Sie ihr doch bitte, dass ich da war, um mich für die Informationen zu bedanken, die sie uns verschafft hat. Wir wissen ihre Hilfe sehr zu schätzen.«
Die Frau grinste amüsiert. »Ich werde Ihre Nachricht natürlich weiterleiten, Sir. Orac weiß Ihre Aufmerksamkeit sicher zu würdigen, das weiß ich.«
Als sich die Aufzugtüren schlossen, meinte der verwirrte Jackman, leises Lachen im Computerraum zu hören. Er runzelte die Stirn und erkannte entsetzt, dass seine irrationale Angst, sich im selben Raum wie Orac aufzuhalten, bereits auf der Dienststelle die Runde gemacht hatte. Na toll!
Marie sah von Peter Hodders Notizbuch auf und starrte blicklos an die Wand. Sie hatte selbst schon schreckliche Dinge gesehen, aber das war nichts im Vergleich zu dem, womit es dieser Mann zu tun gehabt hatte.
Sie lehnte sich zurück. Es war erstaunlich, dass er mit solcher Würde damit fertiggeworden war. Ohne Peter Hodder, seine ruhigen, gewissenhaften Beobachtungen und seine methodische Polizeiarbeit hätte Françoise Thayer vielleicht noch jahrelang weitergemordet.
Marie schloss das erste Notizbuch, und ihr lief ein Schauer über den Rücken. Sie war sich nicht sicher, ob sie es über sich brachte, die anderen auch gleich zu lesen.
»Sarge?« Max sank in den Stuhl gegenüber. »Hast du kurz Zeit?«
»So viel du willst, mein Freund. Wenn ich noch mehr über Françoise Thayer lese, werde ich selbst noch verrückt.«
»Ich habe versucht, Alison Fleets Vergangenheit aufzudecken. Ich konnte ihren ersten Mann zwar immer noch nicht finden, aber ich habe lange mit ihrer Schwägerin, Lucy Richards, gesprochen, und ich glaube, schön langsam komme ich dahinter, was los war.« Er kratzte sich am Kopf.
»Schieß los«, meinte Marie.
»Bruce Fleets Unternehmen stand vor dem totalen Kollaps. Es war viel schlimmer, als es zunächst den Anschein hatte. Er hatte das Haus ohne das Wissen seiner Frau bis oben hin mit Hypotheken belastet, und die Bank machte bereits ihr Recht geltend. Er hatte allerdings keine Ahnung, dass Alison sehr wohl bemerkt hatte, dass Geld fehlte. Sie vermutete eine Affäre.« Max hob die Augenbrauen. »Sie hat Lucy davon erzählt, die sie aber überzeugen konnte, dass Bruce sie niemals betrügen würde. Er liebte Alison abgöttisch. Es musste also einen anderen Grund geben …«
»Nahm sie deshalb Antidepressiva?«
»Geduld, Sarge, dazu komme ich noch.« Max lehnte sich zurück und fuhr dort: »Alison gestand Lucy, dass während ihrer Ehe mit Ray Skinner etwas Schreckliches passiert war. Ich habe nicht herausgefunden, was es war, und sie hat auch Lucy nichts Genaueres erzählt, aber es muss ziemlich heftig gewesen sein, denn sie hielt bis zum Schluss den Kontakt zu Skinner aufrecht. Vermutlich hat sie ihm das ganze Geld zugesteckt.«
Marie runzelte die Stirn. »Und Bruce Fleet hat davon nichts gemerkt? Seine Schwester hat ihm nichts erzählt?«
Max schüttelte den Kopf. »Lucy und Alison waren so …« Er überkreuzte die Finger. »Sie standen sich echt nahe.«
Marie blähte die Wangen. »Was ist bedeutsam genug, um den Kontakt zu einem möglicherweise gewalttätigen Ex-Mann aufrechtzuerhalten, obwohl man glücklich verheiratet ist?«
»Keine Ahnung, fest steht nur, dass es Alison ziemlich aus der Bahn geworfen hat. Sie hat Lucy gegenüber zugegeben, dass sie Pillen nimmt, aber Lucy weiß nicht, woher sie sie hatte. Außerdem …«, Max legte eine dramatische Pause ein, »… war Alison nach dem tragischen Zwischenfall eine Zeit lang im Saltern General Hospital.«
»Noch eine Verbindung zu diesem verdammten Krankenhaus«, murrte Marie und biss sich auf die Lippe. »Ich dachte, wir hätten die Krankenakten überprüft, als wir herausfinden wollten, woher sie die Medikamente bekam?«
»Haben wir auch. Aber sie hieß damals noch Alison Skinner. Ich habe die Unterlagen angefordert, aber das Ganze ist lange her, und damals waren die Akten noch nicht digitalisiert. Die zuständige Angestellte hat mir versichert, dass sie ihr Bestes geben würde, aber ehrlich gesagt klang sie eher angepisst.«
»Je mehr ich über die Probleme der Fleets erfahre, desto besser kann ich verstehen, warum Bruce Fleet sich umgebracht hat.« Marie seufzte. Langsam bekam sie Kopfschmerzen. Sämtliche neuen Informationen führten nur zu noch größeren Geheimnissen, und dabei geriet man leicht auf eine falsche Fährte. »Na ja, zumindest wissen wir jetzt, dass Alison Fleet die Tabletten tatsächlich nahm, um es etwas erträglicher zu machen, auch wenn wir nicht wissen, worum es sich handelte und woher sie die Medikamente hatte.«
»Ich schätze, wir können ausschließen, dass sie von ihrem Mörder unter Drogen gesetzt wurde.« Max schniefte. »Aber woher hatte sie sie dann? Von Ray Skinner? Vielleicht blieb sie deshalb mit ihm in Kontakt, weil er ihr Dealer war?«
Marie nickte. »Und vielleicht war er auch ihr Mörder.«
»Vielleicht.«
»Wir müssen ihn finden, Max.«
»Ich habe sämtliche Informationen in QUEST eingegeben und ihn mit ›von Interesse‹ markiert.«
»Gut«, erwiderte Marie. Die Suchmaschine QUEST kombinierte die Fingerabdrucksuche mit vorhandenen DNA -Proben. »Wo und wann ist er zum letzten Mal in Erscheinung getreten?«
»Eine Woche vor Alisons Tod. Am Peterborough Market. Das stimmt auch mit dem letzten Eintrag in Alisons Tablet überein. Wir haben versucht, ihn von ihrem Telefon aus anzurufen, aber die Nummer war nicht erreichbar. Er ist also vollkommen vom Radar verschwunden.«
»Weil er ein Mörder ist. Oder ein Drogendealer.«
»Oder beides.« Max verzog das Gesicht.
»Okay. Wir erzählen am besten unserem DI davon. Vielleicht kann er Ray Skinners Namen an HOLMES weitergeben, und das Programm findet eine Verbindung zwischen Skinner und den anderen beiden Opfern.«
»Ja, wäre das nicht toll?« Max lächelte missmutig. »Aber wenn man sich die Ermittlungen bis jetzt so ansieht, ist das Glück nicht gerade auf unserer Seite.«
»Schwarzseher!« Charlie Button legte eine Hand auf Max’ Schulter. »Vergiss QUEST . Rate mal, wer Mr Ray Skinner gefunden hat?«
Max hob die Augenbrauen. »Angesichts deines selbstgefälligen Grinsens würde ich auf dich tippen, du eingebildeter Arsch.« Er boxte Charlie in den Arm. »Also, wie hast du das angestellt?«
»Ich habe es mal von der anderen Seite aus probiert.« Charlie zog sich ebenfalls einen Stuhl heran. »Wir sind so sehr daran gewöhnt, uns mit nichtsnutzigen Mistkerlen herumzuärgern, dass wir dachten, er würde sich verstecken, weil er etwas auf dem Kerbholz hat. Weil er Alison bedroht oder sie mit Drogen versorgt hat, aber ich …« Er hielt inne. »Ich habe mir überlegt, ob er vielleicht ein ganz normaler, netter Kerl ist. Aber warum hielt Alison dann den Kontakt zu ihm aufrecht, ohne Bruce Fleet davon zu erzählen?«
Marie lehnte sich vor. »Und was ist mit dem Verdacht auf häusliche Gewalt?«
»Skinner war nicht das Problem, Sarge. Sondern Alison.«
»Was? Alison Fleet? Die treue Ehefrau und Veranstalterin zahlloser Wohltätigkeitsveranstaltungen?« Maries Augen weiteten sich.
»Sie konnte nichts dagegen machen, Sarge.« Charlie warf einen Blick in seine Unterlagen. »Ihr Tod hat Ray Skinner ziemlich hart getroffen. Aber er kommt nachher vorbei, um mit uns zu reden, und nachdem Bruce mittlerweile tot ist, braucht er kein Geheimnis mehr aus der Sache zu machen und wird uns alles erzählen. Der wesentliche Punkt ist, dass Alison und Ray ein Kind hatten. Alison wurde noch vor der Hochzeit schwanger. Sie war damals selbst noch ein halbes Kind und völlig überfordert. Sie litt unter schweren postnatalen Depressionen, und es kam zu einem schrecklichen Zwischenfall. Danach hatte Ray furchtbare Angst um das Baby.«
Marie holte tief Luft. »Sie trennten sich, und er behielt das Kind. Deshalb hat Alison den Kontakt nie abgebrochen und ihm immer wieder Geld geschickt. Um ihr Kind zu unterstützen.«
»Allerdings ohne ihrem neuen Ehemann etwas davon zu erzählen«, fügte Max hinzu.
»Ja, mehr oder weniger. Alison ging es jedenfalls eine ganze Weile lang richtig mies«, fuhr Charlie fort. »Es war offenbar ziemlich unschön, aber das sind so die Grundzüge der Geschichte.«
»Dann hat sie also ihr ganzes Leben lang versucht, ihren Fehler als Teenager wiedergutzumachen.« Marie nickte. »Damit ergibt alles irgendwie mehr Sinn. Wann kommt Skinner denn, Charlie?«
»Gleich morgen früh.« Charlie zog ein Blatt Papier von dem Stapel. »Ach ja, er war übrigens entsetzt, als er hörte, dass sie immer noch Tabletten nahm. Er dachte, sie hätte vor vielen Jahren aufgehört.«
»Dann weiß er also nicht, woher sie sie hatte?«
»Nein.«
»Auf jeden Fall gute Arbeit, Charlie. Wie hast du ihn eigentlich gefunden?«
»Ich habe ausgerechnet, wie alt sie waren, als sie geheiratet haben, und dann habe ich auf Facebook und einigen anderen Networking-Plattformen einen alten Schulfreund von Ray ausfindig gemacht, der noch Kontakt zu ihm hat.« Er verzog das Gesicht. »Es war nicht gerade vorbildliche Polizeiarbeit, sondern eher Kindergartenniveau.«
»Aber es hat funktioniert, Kumpel«, erwiderte Max fröhlich. »Wer braucht schon Orac und HOLMES 2, wenn wir Charlie Button und Social Media haben?«
Marie lachte, und es vertrieb die Schrecken dessen, was sie vorhin in Peter Hodders Notizbuch gelesen hatte. Aber nicht lange. Es war natürlich toll, dass sie Ray Skinner gefunden hatten, aber es half ihnen nicht bei der Suche nach dem Mörder. Und auch nicht nach Daniel Kinder.
Ihre Belustigung verflog. Sie waren kein Stück weitergekommen. »Okay, Jungs, wir müssen weitermachen. Wir haben drei tote Frauen und tappen immer noch genauso im Dunkeln wie am ersten Tag.«
Während die beiden jungen Detectives an ihre Schreibtische zurückkehrten, klingelte Maries Telefon.
»Hier ist Guy. Ich wollte nur sagen, dass ich mit Skye Wynyard gesprochen habe.«
»Wie geht es ihr?«
»Sie ist frustriert und verängstigt, aber sonst geht es ihr angesichts der Umstände ganz gut. Ich konnte allerdings nicht lange mit ihr reden, weil einer von Daniels Freunden bei ihr war.«
Preston klang irgendwie verärgert.
»Also bin ich nach Hause gefahren. Ich glaube zwar nicht, dass Daniel seinen Termin einhält, aber vielleicht hat er ja zwischendurch einen hellen Moment oder ihm fällt kein anderer Zufluchtsort ein. Deshalb dachte ich, es wäre gut, wenn ich hier warte.«
»Gute Idee, Guy. Ich rufe Sie an, falls er in der Zwischenzeit aufgegriffen wird.«
»Danke. Und während ich hier Däumchen drehe, werde ich den Bericht über ihn fertig schreiben.« Er stockte, dann meinte er: »Marie? Es tut mir leid, falls Sie mich vorhin falsch verstanden haben. Ich habe nur vorgeschlagen, gemeinsam etwas trinken zu gehen, weil es doch schon Jahre her ist, seit wir zusammengearbeitet haben. Wir haben uns sicher viel zu erzählen. Aber inzwischen habe ich das Gefühl, dass es vielleicht nicht ganz so rübergekommen ist.«
Marie biss die Zähne zusammen, dann meinte sie: »Ach, kommen Sie, Guy! Wir kennen einander doch schon lange genug, oder? Natürlich habe ich Sie nicht falsch verstanden. Wenn alles vorbei ist, können wir gerne auf einen Drink gehen.«
Marie hatte Jackman zwar gesagt, dass sie kein Problem damit hatte, mit Guy Preston zu arbeiten, aber stimmte das tatsächlich? Er hatte anscheinend immer noch die Macht, sie aus der Ruhe zu bringen, und sie war sich nicht sicher, ob es ihr gefiel. Letztes Mal konnte sie Bill ihr Herz ausschütten, doch dieses Mal hatte sie niemanden außer Jackman. Und der war zwar mitfühlend und ein verdammt guter Zuhörer, aber angesichts der Schwere dieses Falls war es vielleicht nicht angemessen, ihn auch noch mit persönlichen Problemen zu belasten.
»Tut mir leid, aber ich muss jetzt weiter, Guy«, sagte sie schließlich und legte auf. Sie seufzte laut. Die Situation ging ihr gehörig auf die Nerven. Vermutlich deshalb, weil kurz nach Kinders Entlassung eine weitere tote Frau gefunden worden war. Er hatte zwar womöglich gar nichts damit zu tun, aber es machte nun mal keinen guten Eindruck – und wenn die Presse davon Wind bekam, dann gnade ihnen Gott.