Kapitel 21
Daniel hatte Angst. Tez hatte ihm versichert, dass keine Cops hinter dem Haus stationiert waren, doch als er die Gasse am Zaun entlanggeschlichen war, hatte er plötzlich einen weißen Streifenwagen vor dem Gartentor entdeckt. Einen Moment lang war das Verlangen, einfach auf die Polizisten zuzulaufen und sich ihnen in die Arme zu werfen, beinahe übermächtig gewesen, doch irgendetwas hatte ihn zurückgehalten.
Inzwischen kauerte er in einem modrigen Schuppen im Nachbargarten. Er war offenbar bereits durchsucht worden, denn auf dem Holzboden waren immer noch schlammige Stiefelabdrücke zu sehen.
Vor ein paar Stunden hatte Daniel die Polizisten angefleht, ihn nicht zu entlassen, und nun rannte er vor ihnen davon. Sein Arm schmerzte, als würde jemand glühende Kohlen auf die wunde Haut pressen, und er war so erschöpft, dass er sich am liebsten auf den feuchten Boden gelegt und geschlafen hätte. Aber selbst dazu fehlte ihm der Mut. Er fürchtete sich vor dem Schlaf und den Träumen, die er mit sich brachte.
Er wickelte die muffige Jacke enger um sich und versuchte nachzudenken. Doch schon nach ein paar Minuten gab er es auf. Schmerz und Verwirrung ließen keinen vernünftigen Gedanken zu. Was war mit seinem Arm passiert? Warum war er aufgeschlitzt? Er betrachtete den feuchten, blutigen Verband und versuchte erfolglos, sich zu erinnern. Er war sich lediglich sicher, dass er sich nicht selbst verletzt hatte – zumindest nicht bewusst.
Daniel lehnte sich an die Holzwand des Schuppens und spürte, wie ihm Tränen in die müden Augen stiegen. Er musste seinen Arm behandeln lassen, damit sich die Wunde nicht infizierte. Wenn sie das nicht schon längst getan hatte.
Er richtete sich mit beinahe übermenschlichem Kraftaufwand auf. Es gab nur einen Ort, an dem er Zuflucht finden würde. Es war nicht allzu weit, und hoffentlich würde ihn in Tez’ alter Jacke niemand erkennen. Daniel stieß ein kurzes, bitteres Lachen aus. Eines war jedenfalls sicher: Im Moment sah er eher wie ein heruntergekommener Penner aus und nicht wie der aufstrebende Journalist, der er noch vor einer Woche gewesen war.
Daniel schlüpfte aus dem Schuppen und machte sich stolpernd auf den Weg zu dem einzigen Menschen, der ihm jetzt noch helfen konnte.
Guy Preston brauchte einen Moment, bevor er die schmuddelige Gestalt wiedererkannte, die erschöpft in seinem Türrahmen lehnte.
»Ich wusste nicht, wohin ich sonst gehen sollte …«
Die Stimme klang gebrochen und gequält. Der junge Mann stand kurz vor dem Zusammenbruch.
Guy breitete freundlich die Arme aus. »Kommen Sie rein, Daniel! Kommen Sie rein!« Er betrachtete seinen Gast genauer. »Was ist passiert?«
Daniel löste sich vom Türrahmen und trat in die Wohnung. »Wenn ich das bloß wüsste!«
Guy führte ihn in die Küche und zog einen Stuhl heraus. Daniel ließ sich dankbar darauf niedersinken, und Guy löste die schmutzige Jacke von seinem linken Arm. »Darf ich mir die Wunde mal ansehen?«
»Ich dachte, Sie wären Psychologe?«
»Ich habe eine allgemeinärztliche Ausbildung absolviert, bevor ich Psychologie studierte.« Er lächelte und versuchte, Daniel nicht das Gefühl zu geben, ihn zu analysieren. Er entfernte vorsichtig die stinkende Jacke und ließ sie zu Boden fallen. »Das ist normalerweise nicht Ihr Stil, Daniel.«
»Die habe ich von einem Freund bekommen. Ich konnte ja kaum wie ein blutverschmiertes Unfallopfer durch die Stadt laufen.«
»Und Sie haben keine Ahnung, wie das passiert ist?«
Daniel sagte nichts.
»Eine Ihrer ›Lücken‹, nehme ich an?«
Daniel nickte.
Guy betrachtete leicht verwirrt den blutgetränkten Verband. »Falls Ihr ›Freund‹ mit der wohlriechenden Jacke Ihren Arm verbunden hat, dann hat er wirklich gute Arbeit geleistet. Der Verband ist einwandfrei, was man von dem Outfit nicht behaupten kann.«
»Tut mir leid, aber die Heilsarmee hat nun mal nichts von Armani.«
Guy versuchte, das Ausmaß der Verletzung abzuschätzen, bevor er den Verband entfernte. Der Schnitt hatte offensichtlich stark geblutet, aber die Blutung schien mittlerweile gestillt. »Am besten stellen Sie sich erst mal unter die Dusche und machen sich sauber, und dann kümmere ich mich um die Wunde.« Er trat auf die Tür zu. »Kommen Sie, ich hole Ihnen frische Kleidung und Handtücher.«
Im Badezimmer zog sich Daniel bis auf die Boxershorts aus und hielt seinen Arm über die Wanne, damit Guy den Verband entfernen konnte. Es war das erste Mal, dass er die Wunde selbst zu Gesicht bekam, und sobald der Druckverband weg war, sickerte frisches Blut aus dem klaffenden, ausgefransten Schnitt.
»Duschen Sie sich so schnell wie möglich, und spülen Sie die Wunde sorgfältig aus. Ich muss sie leider nähen.« Guy öffnete einen Schrank und holte einen Koffer mit einem roten Kreuz heraus. »Zum Glück habe ich für den Notfall Nadeln und Faden zu Hause.« Er wandte sich ab. »Rufen Sie mich, wenn Sie wieder angezogen sind, und dann versuche ich, es wieder in Ordnung zu bringen.«
»Schaffen Sie das mit meinem Kopf auch?«
»Das wäre durchaus möglich, Daniel. Haben Sie Geduld, und ich werde mein Bestes geben, das verspreche ich.«
Guy war bereits an der Tür, als Daniel sagte: »Professor Preston? Bitte verständigen Sie noch nicht die Polizei. Ich weiß, dass Sie keine andere Wahl haben, aber vielleicht könnten wir uns vorher noch ein paar Minuten unterhalten?«
Guy nickte. »Kein Problem.«
Vor der Tür atmete er erleichtert auf. Im Grunde war Daniels Verletzung sogar von Vorteil. Wenn er Daniel jetzt half, würde dieser ihm schneller vertrauen, und das war unerlässlich, wenn er Daniels geistigen Zustand korrekt beurteilen sollte.
Guy ging ins Schlafzimmer und holte eine Plastikbox mit sterilen Wundauflagen und Verbänden aus dem Schrank. Es würde höllisch wehtun, aber das Einzige, was er Daniel geben konnte, waren ein paar Paracetamol und den Rat, die Zähne zusammenzubeißen. Entweder riskierte er es, oder er musste in die Notaufnahme. Guy wusste bereits, wofür der junge Mann sich entscheiden würde.
»Fertig!«, rief Daniel aus dem Badezimmer.
»Bin schon unterwegs«, antwortete Guy und nahm die Kiste mit. »Dann flicken wir Sie mal wieder zusammen …«
Es dauerte zwanzig Minuten, bis die Wunde genäht und erneut verbunden war, und nachdem er sichergestellt hatte, dass Daniel gegen Tetanus geimpft war, konnte er nichts mehr für ihn tun.
»Wollen Sie reden?«
Daniel betrachtete seinen Arm. »Wenn ich mich freiwillig in die Psychiatrie einliefern lasse, würden Sie meine Behandlung übernehmen?«
Guy biss sich auf die Lippe. »Ich stehe leider nicht in direktem Kontakt mit dem örtlichen Krankenhaus. Ihre Behandlung läge also ausschließlich in den Händen des dortigen Teams. Aber ich kenne ein kleineres, privates Krankenhaus am Rand der Lincolnshire Wolds. Der Direktor ist ein guter Freund. Er hätte sicher nichts dagegen, wenn ich mit ihm zusammen an Ihrem Fall arbeite.«
Daniels Blick war voller Hoffnung. »Ich habe genug Geld. Und ich weiß, dass ich Hilfe brauche.«
»Ich will nicht gönnerhaft klingen, Daniel, aber diese Erkenntnis ist der größte Schritt zur Heilung.« Guy erzählte Daniel mehr über die Klinik seines Freundes und die Behandlungsmethoden. »Ich will Ihnen nichts vormachen. Es wird nicht einfach werden, aber wenn Sie sich auf die Behandlung einlassen, sind Sie auf dem besten Weg, Ihr altes Leben wieder zurückzubekommen.«
»Genau das will ich.« Daniel sah ihn an. »Ich will mein Leben zurück.« Er hielt kurz inne. »Ich kann nicht mehr lange so weitermachen. Ich weiß gar nicht mehr, wer ich eigentlich bin.«
»Ich muss der Polizei sagen, wo Sie sind, das verstehen Sie doch, oder? Im Augenblick ist fast jeder Beamte der Fenland Constabulary auf der Suche nach Ihnen.«
»Ja, das ist mir schon aufgefallen«, erwiderte Daniel mit einem kaum merklichen Lächeln, dann kam er wieder auf das ursprüngliche Gespräch zurück. »Eins weiß ich aber trotz aller Verwirrung mit Sicherheit, Professor Preston. Ich bin definitiv Françoise Thayers Sohn. Ihr Blut fließt durch meine Adern.«
»Spielt Blut denn eine wichtige Rolle für Sie?«
Daniel runzelte die Stirn. Dann wurden seine Augen schmal, und er flüsterte: »Ich träume davon.«
»Tatsächlich? Erzählen Sie mir von diesen Träumen.«
Guy hörte zu, während Daniel die Schrecken seiner blutdurchtränkten Nächte beschrieb, und fühlte sich immer unwohler. Litt Daniel womöglich auch unter Hämatomanie? Das wäre doch sicher ein zu großer Zufall gewesen, oder? Und was war mit seiner Wunde? War es möglich, dass er sich eine derart massive Schnittverletzung selbst zugefügt hatte? Hatte Daniel womöglich die ganze Zeit über recht gehabt, was Françoise Thayer betraf? Guy schluckte und bemühte sich um ein möglichst ausdrucksloses Gesicht. Saß er wirklich dem Sohn der berüchtigten Mörderin gegenüber?
Seine Gedanken rasten, doch er musste entscheiden, wie es weiterging. Schließlich sagte er: »Bleiben Sie einfach sitzen und entspannen Sie sich. Ich rufe in der Zwischenzeit meinen Freund an und bitte ihn, dass er Sie aufnimmt. Wir haben sehr viel zu besprechen, Dan, und ich werde mir alle Zeit der Welt für Sie nehmen, okay?«
Daniel nickte. »Und die Polizei?«
»Die kann sicher noch ein wenig warten.«
Guy ging in sein Büro und schloss die Tür. Sein Kopf drehte sich. Er hatte Daniels Geschichte keinerlei Glauben geschenkt – bis jetzt. Aufregung packte ihn. Thayers Sohn? Das wäre eine Sensation! Er griff kopfschüttelnd nach dem Telefon und wählte die Nummer seines Kollegen.
Drei Minuten später war er wieder bei Daniel. »Ich habe alles veranlasst. Sobald die Polizei mit Ihnen gesprochen hat, fahre ich Sie direkt zu ihm, und wir beginnen mit der Behandlung. Es sei denn, die Polizei will Sie erneut verhaften.«
Daniel nickte langsam. »Ich bin bereit. Haben Sie die Polizei schon verständigt?«
Guy setzte sich ihm gegenüber. »Ich dachte, wir unterhalten uns zuerst noch ein wenig. Sie werden wie der Blitz da sein, sobald ich ihnen sage, dass Sie bei mir sind. Aber ich möchte Ihnen vorher noch erklären, wie ich Ihren Zustand einschätze.« Er lehnte sich näher an Daniel heran. »Also, ich sehe es folgendermaßen …«
»Der Bericht der Gerichtsmedizin.«
Marie hob den Kopf, als Jackman vor ihren Tisch trat.
»Und er ist wirklich sehr interessant.« Jackman legte zwei Ausdrucke auf den Tisch. »Wir haben zwar keinen konkreten Anhaltspunkt, der den Täter mit den Opfern in Verbindung bringt, aber zumindest haben die drei Frauen eine Gemeinsamkeit.«
Marie überflog das toxikologische Gutachten und schnappte nach Luft. »Sie hatten alle drei Antidepressiva im Blut. Es handelt sich sogar um denselben Wirkstoff. Clomipramin Hydrochlorid.«
»Wenn wir herausfinden, wo sie die Medikamente herhaben, kommen wir dem Täter auf die Spur, da bin ich mir sicher.«
»Es muss etwas mit dem Krankenhaus zu tun haben.« Marie zählte an den Fingern ab, welche Verbindungen sie bis jetzt festgestellt hatten. »Sue Bannisters Mann arbeitet im Krankenhaus, Julia Hope war Krankenschwester, und Alison Fleet organisierte regelmäßig Wohltätigkeitsveranstaltungen und war außerdem vor vielen Jahren als Patientin dort, obwohl diese Verbindung natürlich ziemlich weit hergeholt ist.«
»Okay, und wir sollten auch den anderen Blickwinkel nicht vergessen: Daniel Kinder ist für die Krankenhausangestellten wie ein Ritter in glänzender Rüstung, und seine Freundin Skye Wynyard ist Ergotherapeutin.«
Marie wollte gerade etwas erwidern, als Max quer durchs Zimmer rief: »Boss, Ihr Telefon klingelt!«
Jackman hastete in sein Büro und verschwand, während Marie sich Gedanken über die gefundenen Antidepressiva machte. Alison Fleet hatte einen guten Grund gehabt, sich selbst Pillen zu verordnen, aber was war mit den anderen? Welche dunklen Geheimnisse hatten Sue und Julia dazu getrieben, Medikamente zu nehmen, ohne auf die Hilfe ihres Arztes oder eines Psychologen zurückzugreifen? Sie öffnete Julia Hopes Akte. Sie stammte aus einer intakten Familie, hatte keine Geldsorgen oder Schulden, war bei bester Gesundheit, überaus gesellig und gerne auf Partys unterwegs.
Marie seufzte und nahm Sue Bannisters Unterlagen zur Hand. Auch hier sprang ihr nichts ins Auge.
»Marie! Kommen Sie bitte mal?« Marie legte die Akten beiseite und ging in Jackmans Büro.
Er hatte gerade aufgelegt. »Das war die thailändische Polizei. Sie haben Daniels Mutter gefunden.«
»Das wurde aber auch Zeit! Wo ist sie?«
»Sie bringen sie gerade aus dem Dschungel in den nächsten Ort mit funktionierender Internetverbindung. Wir können in ein paar Stunden mit ihr skypen.«
Marie seufzte erleichtert. »Super! Das heißt, wir bekommen endlich ein paar Antworten zu Daniels Herkunft.«
»Ja, hoffentlich. Die Polizei vor Ort hat Ruby Kinder einen Flug von Chiang Mai nach Bangkok gebucht, und von dort kann sie die erste Maschine nach Hause nehmen. Vielleicht kann sie ihren Sohn zur Vernunft bringen.«
»Wie lange wird das in etwa dauern?«
Jackman verzog das Gesicht. »Also, der Flug aus dem Norden nach Bangkok dauert einige Stunden, und dann kommt es darauf an, wann der nächste Flieger geht. Auf jeden Fall kommen noch mal zwölf Stunden dazu, bis sie in London Heathrow landet.«
»Dann wird es also morgen um die Mittagszeit so weit sein«, vermutete Marie.
Jackman nickte. »Könnten Sie Skye anrufen und ihr von Daniels Mutter erzählen? Und sagen Sie ihr, dass wir sie über den Einbruch informieren und klarstellen werden, dass Skye keine Schuld trifft.«
»Wird erledigt, Sir.«
Marie kehrte an ihren Schreibtisch zurück und rief Skye Wynyard an.
Sie hob beim ersten Klingeln ab und fragte sofort, ob sie auf die Dienststelle kommen und bei dem Videoanruf dabei sein dürfte. Marie war einverstanden und legte auf. Im nächsten Moment klingelte das Telefon.
»Er ist hier, Marie. Daniel Kinder ist bei mir und in Sicherheit.«
Marie seufzte erneut. »Gott sei Dank, Guy. Geht es ihm gut?«
»Er ist verletzt und weiß nicht mehr, was passiert ist.« Guy brach ab. »Er hat einen grauenhaften Schnitt am linken Unterarm. Ich musste ihn nähen. Aber es gibt auch noch weitere gute Nachrichten. Er war einverstanden, sich in ein psychiatrisches Krankenhaus einweisen zu lassen.«
»Wirklich?« Marie war doppelt erleichtert. Wenn man davon ausging, dass Daniel nicht der gesuchte Mörder war, waren das Wiedersehen mit seiner Mutter, professionelle Hilfe und regelmäßige Besuche von Skye Wynyard in einer sicheren Umgebung auf jeden Fall der richtige Weg zur Genesung. »Das sind ja tolle Neuigkeiten! Allerdings müssen wir ihn vorher noch zu dem dritten Mord befragen. Glauben Sie, dass er das schafft?«
Guy schwieg einen Augenblick lang. »Er ist sehr labil. In einem Moment wirkt er vernünftig und aufmerksam, dann wieder komplett neurotisch – und das innerhalb von Sekunden. Aber er ist sich klar, dass er nicht mehr so weitermachen kann, und er will Antworten.«
»Okay, wir holen ihn.«
»Soll ich ihn nicht lieber vorbeibringen? Vielleicht gelingt es mir, ihn in diesem Zustand zu halten, damit Sie vernünftig mit ihm reden können. Womöglich verliert er erneut die Nerven und haut ab, wenn er das Blaulicht sieht.«
Marie runzelte die Stirn. »Macht Ihnen das denn nichts aus? Allein mit ihm hierherzufahren?«
»Ich hätte es nicht vorgeschlagen, wenn ich es nicht für das Beste halten würde. Aber danke, dass Sie sich um meine Sicherheit sorgen. Ich weiß natürlich, woran Sie denken, aber Daniel ist ganz anders als Terence Austin. Mir wird nichts passieren.«
Marie biss entnervt die Zähne zusammen. Sie hatte überhaupt nicht an Austin gedacht, sondern wollte Daniel Kinder schlichtweg nicht noch einmal verlieren. Ein Streifenwagen und zwei Officer wären die sicherere Variante gewesen. »Okay, Guy. Wenn Sie wirklich meinen, dass es das Beste ist. Wann fahren Sie los?«
»In fünf Minuten. Dann sind wir in fünfzehn Minuten bei Ihnen.«
Es wurde langsam Abend, als DC
Max Cohen in den Umkleideraum schlenderte, wo Kevin Stoner seinen Spind leerte.
»Er wird jetzt verlegt, Kumpel. Ich habe gerade gesehen, wie sich der Sergeant mit Tränen in den Augen von ihm verabschiedet hat.« Max grinste. »Du kannst also wieder frei atmen.«
Kevin erwiderte das Lächeln, aber es fiel nicht ganz so strahlend aus. »Ich glaube, wir können alle wieder frei atmen.«
Max ließ sich lässig auf eine der Bänke fallen und sah zu Kevin hoch. »Ich weiß nicht, wie du das geschafft hast, aber du hast echt tolle Arbeit geleistet.«
Kevin versteifte sich. »Was meinst du damit?«
Max’ Grinsen wurde breiter. »Hey! Nur nicht so zurückhaltend! Die ganze Dienststelle sollte dir danken, dass du uns dieses Stück Scheiße vom Hals geschafft hast. Du bist ein Held, Kumpel!«
»Keine Ahnung, wovon du redest, Cohen, aber ich wäre dir echt dankbar, wenn du deine Hirngespinste für dich behalten würdest.« Stoner geriet langsam in Panik.
»Ganz ruhig! Das bleibt unter uns. Du musst natürlich bei deiner Geschichte bleiben, damit die Oberen glücklich sind. Ich wollte dir nur sagen, dass du meinen Respekt hast, Mann.« Er erhob sich. »Das ist alles. Du kannst also beruhigt schlafen. Ich werde meine Ansichten zu Zane Prewetts frühzeitigem Austritt aus dem Polizeidienst für mich behalten. Du hast uns allen einen Gefallen getan.« Max klopfte Kevin auf die Schulter. »Wie schon gesagt, Kumpel: Respekt!«
Als er wieder allein war, ließ sich Kevin verzweifelt auf die Bank sinken. Wenn einer der Detectives ihn durchschaut hatte, dann würden seine Vorgesetzten das doch sicher auch bald tun, oder? Er wusste, dass Inspector Jim Gilbert auf seiner Seite war, aber auch Gilbert musste den Leuten über ihm Rede und Antwort stehen. Und dann stahl sich noch ein zweiter Gedanke in Kevins dröhnenden Kopf: Was, wenn Prewett eins und eins zusammenzählte und erkannte, was er getan hatte? Waren er und seine Familie dann erneut in Gefahr?
Bevor er eine Antwort auf seine Frage fand, ging die Tür erneut auf. Dieses Mal war es Sergeant Cadman. »Ah! Gut, dass ich Sie noch erwische, bevor Sie gehen, Stoner.«
Kevin wollte aufstehen, doch der Sergeant winkte ab und ließ sich auf der gegenüberliegenden Bank nieder. »Es interessiert Sie vielleicht, dass Prewett soeben nach Lincoln verlegt wurde. Und ich bin gerade aus seiner Wohnung zurückgekommen. Wir haben alles gefunden, was wir gesucht haben, wenn Sie verstehen, was ich meine.«
Kevin nickte erleichtert. Das war der eigentliche Grund, warum er nicht schon längst zu Hause war. Er konnte nicht gehen, ohne zu wissen, ob der Sergeant den inoffiziellen Auftrag erledigt hatte. »Danke, Sir. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie dankbar ich Ihnen bin.«
»Ich weiß es auch so, mein Junge. Ihr Leben war die letzten Monate die reinste Hölle, oder?«
Kevin unterdrückte ein Schluchzen. »Ja, Chef.«
Cadman seufzte und legte den Kopf schief. »Wissen Sie, ich wünschte, Sie wären zu mir gekommen und hätten mir davon erzählt. Es ist zwar toll, wenn man im Nachhinein erkennt, dass man einen Fehler gemacht hat, aber ich hätte schon vor einiger Zeit merken sollen, dass etwas nicht stimmt. Wie die meisten anderen hielt ich Prewett einfach für einen großspurigen, faulen Mistkerl. Ich wäre nie auf die Idee gekommen, dass er so durchtrieben ist und derart verheerende Auswirkungen auf Sie hat.«
»Es war allein meine Schuld, Chef. Ich hatte nicht die Eier, mich gegen ihn aufzulehnen.« Kevin schluckte. »Ehrlich gesagt hat mich das alles hart getroffen. Ich bezweifle, dass ich jemals ein guter Polizist werde. Vielleicht sollte ich das alles noch mal überdenken.«
»Schwachsinn! Sie sind ein guter Junge mit einer glänzenden Zukunft. Wenn jemand die Menschen bedroht, die man liebt, dann schaltet der Verstand ab und man kann keinen klaren Gedanken mehr fassen. Hätte Zane nur Sie selbst erpresst, hätte die Sache anders ausgesehen. Aber er hat Ihre kleine Nichte bedroht, oder? Zane war sehr clever, Kevin, aber das ist jetzt vorbei. Abgesehen von den gerichtlichen Anhörungen. Das wird zwar nicht angenehm werden, aber ich wette, dass Prewett danach lange Zeit im Gefängnis verschwinden wird.«
»Er findet sicher noch einen Weg, mich mit hineinzuziehen.«
»Vielleicht. Aber es wird ihm niemand glauben. Er hat es vergeigt und kann nur sich selbst die Schuld daran geben.« Cadman nickte. »Unter uns gesagt hat er kein Alibi für den Abend des Einbruchs. Er wird sich nicht herausreden, das verspreche ich Ihnen.« Der Sergeant erhob sich. »Aber jetzt ab nach Hause. Und kommen Sie nie wieder auf die Idee, den Polizeidienst zu quittieren! Sobald das alles vorbei ist, geben wir Ihnen einen verdammt guten Partner, und bald werden Sie gar nicht mehr an Zane Prewett denken.« Er blieb im Türrahmen stehen. »Oder Sie machen die nötigen Prüfungen und gehen zur Kriminalpolizei. DI
Jackman würde Sie sicher unterstützen.« Cadman hob die Augenbrauen. »Denken Sie darüber nach?«
Kevin nickte. »Ja, Chef.«
Als er wieder allein war, lehnte sich Kevin erneut gegen den Spind. Er wollte den Polizeidienst nicht wegen der Dinge quittieren, die Zane ihm angetan hatte, sondern wegen der hinterlistigen Art, wie er das Problem gelöst hatte. Er hatte einen ausgeklügelten, hinterhältigen Plan ausgeheckt, um einen Polizeikollegen in den Dreck zu ziehen, und war damit um keinen Deut besser als Zane. Doch dann dachte er an Sophie. Er bezweifelte nicht, dass Zane – oder einer seiner Kumpane – dem Mädchen »lebensverändernde Dinge« angetan hätte. Allein der Gedanke daran verursachte ihm eine Gänsehaut.
Kevin seufzte. Er musste wohl damit leben, was er getan hatte.
Außerdem wusste er noch etwas über Zane: Kevin hatte ihm nur deshalb getrost eine Falle stellen können, weil er ganz genau gewusst hatte, wo Zane zur Zeit des Einbruchs war. Sergeant Cadman hatte zwar gemeint, Zane hätte kein Alibi, aber das stimmte nicht. Er hatte Kevin gegenüber damit angegeben, dass er die Frau eines uniformierten Inspectors vögelte.
Kevin grinste. Die Nachricht mit dem Datum des nächsten Treffens war ihm ins Auge gesprungen, als er Drew Wilson von Zanes Handy aus das Okay für den Einbruch gegeben hatte.
Kevin sammelte seine Sachen zusammen. Manchmal wünschte er sich, sein Vater hätte einen anderen Beruf gewählt. Einen Beruf, der Kevin von seinem starken Bewusstsein für Richtig und Falsch befreit hätte.
Stattdessen hatte sein Vater ihm alles beigebracht, was es über Sünden zu wissen gab – weshalb Kevin auch mit Sicherheit wusste, dass er gesündigt hatte.