Kapitel 22
»Wo zum Teufel steckt Guy Preston? Er und Daniel hätten schon vor einer halben Stunde hier sein sollen. Versuchen Sie es noch mal auf dem Handy, Marie!« Jackman wanderte nervös in seinem Büro auf und ab.
»Habe ich gerade, aber er geht nicht dran. Irgendetwas stimmt da nicht, Chef.«
»Das war ja klar«, knurrte Jackman. »Es wäre zu schön gewesen, wenn bei diesem Fall endlich mal etwas glattgelaufen wäre.«
»Ich wusste, ich hätte einen Streifenwagen schicken sollen«, erklärte Marie zerknirscht.
Jackman blieb stehen. »Das ist doch nicht Ihre Schuld! Seine Begründung hätte mich genauso überzeugt.«
»Ich hatte so ein Gefühl, aber ich habe mich von Preston überreden lassen. Es gibt keine Entschuldigung, ich war ein Idiot.«
Jackman warf einen Blick auf die Uhr an der Wand. Der Videoanruf mit Thailand war um eine Stunde verschoben worden, nachdem Ruby Kinders Fahrt aus dem Dschungel länger gedauert hatte als geplant. Es würde erst in einer halben Stunde so weit sein. Er wanderte erneut auf und ab.
Ein uniformierter Beamter hatte inzwischen bestätigt, dass Guy Prestons Wagen nicht mehr vor seinem Haus stand, und ein Nachbar hatte Preston und einen jungen Mann vor etwa einer Dreiviertelstunde davonfahren gesehen. Da die Fahrt von der Wohnung in die Dienststelle nur zehn Minuten dauerte, stellte sich allerdings die berechtigte Frage, wo die beiden abgeblieben waren.
Im nächsten Moment klopfte es an der Tür, und eine vertraute Gestalt betrat das Büro.
»Guy!« Marie sprang auf. »Gott sei Dank! Wir dachten, es wäre Ihnen etwas passiert, aber …«
»Wo ist Daniel Kinder?«, fragte Jackman.
»Fort.« Guy Preston warf Marie einen reumütigen Blick zu. »Es tut mir so leid. Ich hätte es Ihnen überlassen sollen.«
»Wie ist denn das passiert?«, fragte Marie. »Sie haben das Haus doch gemeinsam verlassen, oder?« Ihr wurde mit einem Mal klar, dass Prestons Erscheinung nicht so makellos war wie sonst. Die Jackenärmel waren dreckverschmiert, die Hose staubig und die Schuhe voller Erde.
»Ja, wir sind ganz normal losgefahren, aber dann wurde ihm plötzlich übel.« Guy schien wahnsinnig wütend auf sich selbst. »Ich hatte gerade ohne Betäubungsmittel seinen Arm genäht, und er hatte nur ein paar Paracetamol geschluckt, also habe ich ihm geglaubt. Ich bin stehen geblieben, und er ist ausgestiegen. Ich habe den Motor ausgemacht, aber dämlicherweise den Schlüssel stecken gelassen, und bin auf die andere Seite, um ihm zu helfen.« Seine Wut wuchs von Sekunde zu Sekunde. »Er hat mich überrascht und in den Straßengraben geschubst. Als ich endlich wieder oben war, war er bereits fort.« Er seufzte schwer. »Ich bin dann zu Fuß hierhergelaufen.«
Marie verzog das Gesicht. »Ihr Telefon ist vermutlich im Wagen?«
»Exakt.«
»So viel dazu, dass Daniels Zustand stabil ist«, meinte Marie.
»Also, ich würde ihn auf alle Fälle als stabil bezeichnen«, entgegnete Guy. »Sogar als berechnend und sehr kontrolliert.«
Jackman kaute auf seiner Wange herum. »Sie glauben also, er hat alles geplant?«
»Ja.« Preston setzte sich. »Er hat gewusst, dass Sie ihn finden, wenn er in die Notaufnahme geht, deshalb kam er zu mir, damit ich ihn zusammenflicke. Und dann hat er die Fliege gemacht – mit meinem Auto. Ach ja, und mit meinen Kleidern.«
»Wir sollten die Verkehrspolizei benachrichtigen, damit sie den Wagen aufhalten«, meinte Marie und öffnete ihr Notizbuch. »Automarke? Kennzeichen?«
»Ich habe den Beamten am Empfang bereits informiert.« Guy zuckte mit den Schultern. »Er wird sich darum kümmern.«
»Gut«, murmelte Jackman. »Dann werden sie ihn bald haben.«
»Hoffentlich.« Guy wirkte plötzlich müde. »Wissen Sie, ich war mir so sicher, dass wir auf dem richtigen Weg waren. Er schien so anders, so ehrlich. Wir haben uns lange unterhalten. Außerdem hätte er schon vorher zwei Mal abhauen können. Ich bin ins Büro, um zu telefonieren, und der Autoschlüssel lag auf dem Tisch im Flur. Es wäre sehr viel einfacher gewesen, sich heimlich aus dem Staub zu machen, aber er hat es nicht getan.«
Marie sah ihn an. »Kamen Sie bei Ihrer langen Unterhaltung vielleicht an einen Punkt, der ihn aus der Fassung gebracht hat?«
Guy betrachtete sie nachdenklich. »Ich glaube nicht, aber …« Er zuckte mit den Schultern. »Falls es einen Trigger gab, habe ich nichts davon gemerkt. Er hat mich total hinters Licht geführt.« Guy rieb sich den Nacken. »Wie konnte ich bloß so vertrauensselig sein? Nein, schlimmer noch: Ich war selbstgefällig und restlos von meinen Fähigkeiten überzeugt!«
»Machen Sie sich nicht fertig deswegen, Guy«, erwiderte Jackman. »Daniel ist zwar total durch den Wind, aber er ist trotzdem immer noch ein sehr intelligenter und sympathischer junger Mann, und es ergeht uns allen ähnlich, wenn wir uns mit ihm unterhalten. Einen Moment lang bin ich überzeugt, dass er bloß ein trauriger Junge ist, der von der Frage nach seiner Herkunft besessen ist, und im nächsten Augenblick bin ich sicher, dass er unser Mörder ist.«
»Aber ich bin hier der verdammte Psychologe«, murmelte Guy. »Wenn nicht einmal ich es schaffe, Daniels Gedankengänge zu verstehen, dann habe ich meinen Beruf verfehlt, oder?«
Glücklicherweise läutete Maries Telefon, bevor Jackman antworten musste.
»Skye? Was ist denn los?« Marie hörte zu, dann sagte sie: »Keine Sorge, ich lasse Sie von einem unserer Officer abholen. Bis gleich.«
Jackman sah sie fragend an.
»Ihr Auto hat einen Platten, und sie will unbedingt bei dem Gespräch mit Ruby dabei sein.« Sie sah ihn an. »Daniel ist irgendwo da draußen und verfolgt einen verrückten Plan, also ist sie hier sicherer, glauben Sie nicht auch?«
»Auf jeden Fall. Schicken Sie sofort einen Streifenwagen zu ihr.« Marie verschwand, und Jackman wandte sich an Preston. »Ich lasse Sie von Max nach Hause fahren, damit Sie sich frisch machen können. Sie meinten vorhin, dass Daniel Ihre Kleidung trägt?«
»Seine Sachen waren blutverschmiert. Es handelt sich um ein Paar Designerjeans, ein blassblaues Poloshirt von Ralph Lauren und eine hellgraue Bomberjacke.«
»Er war blutverschmiert?«
»Von der Wunde an seinem Arm.«
»Und seine Kleider befinden sich noch in Ihrer Wohnung?«
»Ja, im Badezimmer. Ich wollte sie wegwerfen, sobald ich wieder zu Hause bin.«
»Max soll sie einpacken und mitnehmen. Es besteht immerhin die Möglichkeit, dass es nicht nur Daniels Blut ist. Sie müssen zur Spurensicherung.«
Guy nickte. »Ja, klar. Daran habe ich gar nicht gedacht. Ich werde sie Max geben. Glücklicherweise hat nur Daniel sie in der Hand gehabt, die Spuren sind also noch nicht verunreinigt.«
»Wollen Sie bei dem Gespräch mit Daniels Mutter dabei sein? Es könnte allerdings etwas knapp werden.«
Guy Preston schüttelte den Kopf. »Ich hatte heute schon genug Aufregung. Sie können mir ja morgen davon erzählen, DI Jackman. Ich glaube, ich brauche jetzt erst mal eine lange heiße Dusche.«
»Ich gebe Ihnen Bescheid, sobald wir Ihr Auto gefunden haben. Und wenn nötig, nehme ich Sie morgen früh mit hierher.«
»Vielen Dank.« Guy versuchte vergeblich, den Staub von seiner Jacke zu wischen. »Es tut mir wirklich leid, was passiert ist. Es ist allein meine Schuld, dass Daniel jetzt nicht unten im Verhörzimmer sitzt. Ich hätte auf Marie hören sollen.«
»Vergessen Sie’s«, erwiderte Jackman und rang sich ein Lächeln ab, obwohl er Preston zustimmen musste. »Marie hat immer recht. Es ist echt unerträglich, oder?«
Guy Preston sah ihn besorgt an. »DI Jackman? Ich muss gestehen, dass ich mir nicht mehr so sicher bin, was Daniel Kinder betrifft. Da ist zum einen der Schnitt an seinem Arm. War es ein Unfall? Oder hat sich jemand gegen ihn gewehrt? Hat er sich vielleicht selbst so schwer verletzt? Das Schlimmste ist allerdings, dass er mich hinters Licht geführt hat. Und wenn es ihm bei mir gelungen ist, Inspector, dann gelingt es ihm bei allen anderen ebenfalls.«
Guy Preston verließ das Büro, und Jackman starrte ihm hinterher. Er dachte an Marie und das seltsame Band zwischen ihr und dem Psychologen. Sie hatte ihm zwar erzählt, was bei Terence Marcus Austins Verhör passiert war, aber Jackman fühlte sich irgendwie nicht wohl dabei, dass die beiden nun wieder zusammenarbeiteten. Es war schwer zu glauben, dass Prestons heimliche Blicke in ihre Richtung nicht seinem Wunsch nach einer Beziehung mit ihr entsprangen. Marie glaubte es zwar nicht, aber womöglich täuschte sie sich. Andererseits meisterte sie die Situation recht gut. Sie war Preston gegenüber freundlich, behandelte ihn aber wie jeden anderen Kollegen auch. Sie hielt ihn auf nette Weise auf Abstand, und das war sicher nicht einfach.
Er presste die Lippen aufeinander. Warum machte er sich über solche Dinge Gedanken? Er befand sich mitten in einer dreifachen Mordermittlung und war der leitende Detective Inspector und nicht Marie Evans’ Kindermädchen! Dann war Preston eben scharf auf sie, na und? Das ging Jackman nun wirklich nichts an! Marie war eine sehr attraktive Frau, und er konnte Preston kaum vorwerfen, dass sie ihm gefiel.
Jackman griff mit einem Seufzen nach dem Bericht der Gerichtsmedizin und zwang sich, sich auf die Arbeit zu konzentrieren. Er begann zu lesen, doch seine Gedanken schweiften erneut ab.
Er saß auf Glory und galoppierte über den feuchten Sand vor seinem Elternhaus, und neben ihm fuhr Marie auf ihrer schwarz-grünen Kawasaki. Ihre rotbraunen Haare wehten im Wind – genauso weich und glänzend wie Glorys fliegende Mähne.
In diesem Moment verstand Jackman etwas, das ihm noch nie zuvor in den Sinn gekommen war. Marie und er stammten aus einem vollkommen anderen Umfeld und hatten verschiedene Wege beschritten, um dorthin zu gelangen, wo sie jetzt waren, doch sie waren einander so ähnlich, dass es ihm den Atem raubte. Marie hatte ihm einmal von dem Hochgefühl erzählt, wenn sie auf ihrem Motorrad mit halsbrecherischer Geschwindigkeit eine verwaiste Straße entlangraste, und er wusste genau, wovon sie sprach. Er hatte dasselbe empfunden, wenn er mit Glory den Strand entlanggaloppiert war. Er schloss die Augen und atmete tief durch.
Komm schon, Jackman! Man mochte meinen, dass er eifersüchtig auf Guy Preston war. Dabei war er nur hundemüde, und seine Konzentration war am Boden. Er schüttelte sich. Der Druck dieses schrecklichen Falls machte sich bemerkbar. Normalerweise gab er sich während einer Ermittlung nicht solchen Gedanken hin. Eigentlich passierte ihm so etwas überhaupt nie.
Er nahm das toxikologische Gutachten und las es sich laut vor, um sich wieder auf die Ermittlungen zu fokussieren. Nach einer Weile funktionierte es.
Marie betrachtete Ruby Kinders schmales, wettergegerbtes Gesicht, dem die Sorge deutlich anzusehen war. Falls sie die Reise tatsächlich unternommen hatte, um über ihre Trauer hinwegzukommen, war es ihr nicht geglückt.
Die Verbindung war schlecht, und der Ton passte nicht richtig zum Bild, aber solange sie sich gegenseitig genug Zeit für die Antworten gaben, funktionierte es ganz gut.
Jackman erklärte Ruby so schonend wie möglich, in welche Situation sich ihr Sohn gebracht hatte, und diese konnte es kaum glauben.
»Aber er hat doch nie auch nur das geringste Interesse an seinen leiblichen Eltern gezeigt!«, platzte sie heraus.
»Weil er Ruby und seinen Vater nicht verletzen wollte«, flüsterte Skye, die hinter Jackman saß. »Er liebt die beiden und dachte, die Suche nach seiner leiblichen Mutter wäre ein Verrat an allem, was sie für ihn getan haben.«
Jackman gab weiter, was Skye ihm gerade gesagt hatte.
»Ach, Daniel, hättest du doch bloß mit mir gesprochen! Ich hätte dich vor alldem bewahren können … Ich weiß natürlich über seine frühe Kindheit Bescheid, DI Jackman.« Sie räusperte sich. »Sam und ich waren über seine traumatische Vergangenheit informiert, sonst hätten wir ihn niemals adoptieren dürfen.«
Jackman lehnte sich vor. »Traumatisch?«
Ruby seufzte. »Die Psychologen rieten uns, es nicht zur Sprache zu bringen, weil es womöglich zu massiven Problemen in seinem späteren Leben geführt hätte. Er stand viele Jahre lang unter sorgfältiger Beobachtung.«
Marie spürte, wie Jackman sich versteifte. Er hätte die Frau am liebsten aufgefordert, endlich Klartext zu reden.
»Daniels Mutter war drogensüchtig, DI Jackman. Das Jugendamt war beinahe täglich bei ihr, aber irgendwie schaffte sie es trotzdem, ihre drei Kinder zu behalten.«
»Daniel hat Geschwister?«, fragte Marie.
Ruby zögerte, dann fuhr sie fort: »Er hatte Geschwister. Niemand erkannte, wie nahe am Abgrund sich Daniels Mutter bewegte, bis sie eines Abends mit ihren drei Jungs in einen nahe gelegenen Wald fuhr, einen Schlauch am Auspuff befestigte und sich anschließend mit den Kindern im Auto einschloss.«
Marie schnappte nach Luft und roch erneut die Abgase in Bruce Fleets Garage.
»Sie wohnten in Derbyshire. Vielleicht haben Sie sogar davon gehört? Ihr Name war Lucy Carrick. Sie hat sich selbst und Daniels Brüder getötet, Dan war der einzige Überlebende. Ein Mann, der auf der Suche nach seinem entlaufenen Hund am Auto vorbeikam, schlug die Scheibe ein und zog ihn heraus.«
»O mein Gott!« Skye kämpfte vergeblich gegen die Tränen. »Mein armer Daniel!«
Doch Ruby redete bereits weiter. Vielleicht hatte sie Angst, den Mut zu verlieren, wenn sie erst einmal innehielt. »Daniel war danach einige Zeit lang schwer krank. Die Ärzte gingen davon aus, dass sowohl das Herz als auch das Gehirn einen Schaden davongetragen hatten. Das Kohlenmonoxid hatte die Blutgefäße beschädigt, und der Sauerstoffmangel hätte beinahe zu einem Organversagen geführt. Doch er schaffte es, auch wenn uns die Ärzte vor einem möglichen schweren Gedächtnisverlust warnten. Außerdem galt es als wahrscheinlich, dass Daniel in seinem weiteren Leben unter Depressionen, Sehstörungen, Konzentrationsschwäche, Verwirrtheit und noch einigen anderen Dingen leiden würde.«
»Aber er hat trotzdem eine Karriere eingeschlagen, die Intelligenz, Konzentration, ein gutes Gedächtnis und Einfühlungsvermögen erfordert. Und zwar mit großem Erfolg«, meinte Jackman.
Ruby Kinder rieb sich müde die Augen. »Ja, das hat er. Gott sei Dank. Trotzdem war die Angst in den ersten Jahren unser ständiger Begleiter, und die Ärzte hatten recht, was einige seiner Probleme betraf.«
»Sie meinen den Gedächtnisverlust?«
»Ja, er kann sich nicht mehr an die ersten fünf Jahre seines Lebens erinnern, was wir allerdings als Segen empfanden. Die kleinen, kaum merklichen Erinnerungslücken bereiteten uns mehr Sorgen.«
»Warum?«
»Weil während dieser Lücken immer wieder Dinge passierten, an die er sich danach nicht erinnern konnte.«
»Wie zum Beispiel?«, fragte Jackman und warf Marie einen besorgten Blick zu.
»Er bekam Tobsuchtsanfälle, schlug wie wild um sich, und manchmal lief er einfach davon und wusste am Ende nicht mehr, wie er an einen bestimmten Ort gekommen war.«
»Guy Preston sollte das hier unbedingt hören«, flüsterte Marie.
»Keine Sorge, wir zeichnen alles auf und gehen es dann mit ihm gemeinsam durch.« Jackman wandte sich wieder an Ruby Kinder. »Wussten Sie, dass er immer noch unter diesen Gedächtnislücken leidet?«
»Nein, Inspector Jackman, und ich kann mir auch nicht vorstellen, warum er derart von dieser schrecklichen Françoise Thayer besessen ist. Er hat sie mir gegenüber nie erwähnt.«
»Waren Sie in letzter Zeit einmal in der Dachkammer Ihres Hauses?«
Ruby Kinder sah ihn verwirrt an. »Nein, warum auch? Daniel meinte, er würde seine alten Rechercheunterlagen dort oben aufbewahren, falls er sie später noch einmal braucht. Außerdem hat er seinen alten Computer und den Drucker hinaufgebracht. Er bezeichnete es als Abstellkammer, die er verschlossen hielt, da es sich großteils um persönliche Informationen fremder Leute handelte.« Sie runzelte die Stirn. »Weshalb fragen Sie?«
Jackman erklärte es ihr, und Ruby verzog verwirrt und verletzt das Gesicht. Doch dann fasste sie sich wieder und sagte: »Sie haben vorhin erwähnt, dass Daniel verschwunden ist?«
»Ja, leider. Wir suchen überall in der Stadt und der näheren Umgebung nach ihm. Er ist erst seit Kurzem fort, wir sollten ihn also bald finden.«
»Es wäre möglich, dass er sich plötzlich wieder an Bruchstücke seiner schrecklichen Kindheit erinnert.« Rubys Stimme klang beherrscht, beinahe hart. »Laut seinen Ärzten bestand immer die minimale Chance, dass so etwas passiert. Allerdings scheint er seine Erinnerungen falsch zu interpretieren. Er wurde von den ›Freunden‹ seiner Mutter auf schlimmste Weise misshandelt, und ich kann Ihnen gar nicht sagen, in welch schrecklichem Zustand er sich befand, als Sam und ich ihn zum ersten Mal im Krankenhaus sahen. Sie müssen mit jemandem sprechen, der sich mit solchen Dingen besser auskennt, aber ich vermute, dass er sich mittlerweile an seine leibliche Mutter und einige der furchtbaren Dinge erinnert, die er mit ansehen musste. Daniel ist ein schlauer und wissbegieriger junger Mann, DI Jackman. Vermutlich ist er während seiner Recherchen zufällig über Françoise Thayer gestolpert und hat einen entsetzlichen und vollkommen falschen Schluss daraus gezogen. Glauben Sie nicht auch?«
Jackman stockte einen Moment lang der Atem. »Ja, damit könnten Sie recht haben, Mrs Kinder.«
»Er irrt sich gewaltig, was seine leibliche Mutter betrifft, und geht gerade durch die Hölle, Inspector! Sie müssen ihn finden und ihm die Wahrheit sagen, um Himmels willen!«
Jackman versuchte, sie zu beruhigen, aber Marie hörte die Verzweiflung in seiner Stimme. Schließlich erzählte er Ruby von dem versuchten Einbruch in ihr Haus.
»Das Haus ist mir egal. Ich will nur, dass mein Junge in Sicherheit ist.« Ruby hielt inne, dann fragte sie: »Ist Skye Wynyard auch da?«
»Ja. Wollen Sie mit ihr sprechen?«
»Ja, bitte. Sie liebt meinen Sohn, Inspector. Sie leidet sicher sehr.«
Marie lauschte der Unterhaltung der beiden Frauen und fühlte sich wie ein Voyeur. Man hörte, wie sehr sie sich mochten.
»Die Narbe an Daniels Kopf«, fragte Skye. »Ist er wirklich von der Schaukel gefallen?«
»Ja, das war die Wahrheit. Ich höre ihn heute noch schreien. Ich war wie erstarrt und hatte solche Schuldgefühle. Er hatte schon so viel durchgemacht, und ich hatte mir vorgenommen, ihn zu lieben und zu beschützen – und dann fiel er von der Schaukel und wäre beinahe gestorben.« Sie lächelte matt. »Skye, ich muss jetzt gehen. Ich will den Flug auf keinen Fall verpassen. Pass auf dich auf, Schatz. Wir sehen uns, sobald ich zu Hause bin.«
Jackman beendete die Verbindung, und sie saßen schweigend nebeneinander. Marie konnte nur an die drei Kinder in dem mit tödlichen Abgasen gefüllten Auto denken, und sie wusste, dass es Jackman genauso erging.
Skye verließ Jackmans Büro, und er gähnte laut. »Was machen wir mit ihr?«
Marie streckte sich. »Es wird langsam spät. Vielleicht sollten wir uns etwas zu essen besorgen und sie fragen, ob sie mitessen will? Mir gefällt der Gedanke nicht, dass sie allein zu Hause ist, während Daniel dort draußen herumstreift.«
»Mir auch nicht. Aber wir können sie nicht zwingen, hierzubleiben.«
»Ich werde sie einfach fragen.« Marie stand auf. »Was ist mit Guy Preston?«
»Er ist heimgegangen und wütend auf sich selbst.« Jackman spielte mit einem Stift auf seinem Schreibtisch.
»Klar. Sein Auto ist immer noch verschwunden, obwohl wir sämtliche Überwachungskameras in Saltern überprüft haben. Daniel Kinder ist wie vom Erdboden verschluckt.« Marie suchte in ihrer Hosentasche nach Geld. »Was wollen Sie essen?«
»Einen knusprig gebratenen Seebarsch mit Kartoffeln in Olivenkruste und Sauce Vierge. Oder nein, warten Sie! Vielleicht doch lieber ein Tournedo-Steak, Kartoffelbrei mit Trüffelöl, Pilzsauce und Stilton-Croûtons …«
»Ich frage mal die anderen«, erwiderte Marie, ohne die Miene zu verziehen. »Aber ich schätze, der Whopper mit Fritten wird die Nase vorne haben.«
»Banausen!«
Skye telefonierte gerade, als Marie auf sie zutrat.
»Das war Dans Freund, Mark Dunand. Er holt mich ab, sobald er mit der heutigen Lieferung fertig ist. Er will mit mir zu Orten fahren, an denen Daniel früher gerne war. Vielleicht finden wir ihn ja. Ich mache mir zwar keine großen Hoffnungen, aber es ist besser, als nur herumzusitzen.«
»Haben Sie vielleicht noch Zeit, um mit uns zu essen? Es ist aber leider nur Junkfood.«
Skye nickte eifrig. »Ich habe seit Ewigkeiten nichts mehr gegessen. Das wäre toll, danke!«
Marie nahm Skye mit in den Ermittlungsraum und bat Charlie, die Burger zu besorgen. Als er fort war, meinte Skye: »Ich weiß nicht, ob es wichtig ist, aber Mark hat mir erzählt, dass einer seiner Packer übermäßiges Interesse an Daniel zeigte. Glauben Sie, man sollte diese Spur weiterverfolgen?«
Marie sah sie an. »Welche Art von Interesse?«
»Mark sagte, der Kerl könne viele von Dans Artikeln auswendig. Außerdem hing er ständig in der Nähe herum, wenn Dan im Büro war.«
»Wissen Sie, wie der Mann heißt?«
Skye griff in ihre Handtasche. »Ich habe mir den Namen notiert, Sergeant.« Sie holte ein gelbes Post-it heraus und gab es Marie. »Nick Brewer. Er ist scheinbar sehr intelligent und als Packer überqualifiziert. Aber Carla, Marks Geschäftsführerin, meinte, dass er jede Arbeit annimmt, um sich über Wasser zu halten.«
»Ich glaube, es ist bloß eine Schwärmerei. Eine Art Heldenverehrung. Daniel bekommt doch sicher viele Nachrichten und Kommentare zu seinen Artikeln, oder?«
»Ja, er hat unglaublich viele Anhänger.«
Aus irgendeinem Grund bereitete Marie Nick Brewers offensichtliche Fixierung auf Daniel keinerlei Bedenken. Mark Dunand interessierte sie hingegen sehr wohl. Sie hatte bis jetzt noch nicht mit ihm gesprochen und hätte gerne ein Gesicht zu dem Namen vor Augen gehabt. »Kennen Sie Mark eigentlich schon lange?«
»Etwa drei Jahre. Dan kennt ihn allerdings schon seit Teenagertagen.«
»Weiß Mark von Daniels … ähm …« Marie suchte nach dem richtigen Wort. »Von Daniels Besessenheit von Françoise Thayer?«
»Nein«, erwiderte Skye. »Ich bin die Einzige, die Dan eingeweiht hat.« Sie verzog das Gesicht. »Und inzwischen habe ich es der ganzen Welt erzählt.«
Marie drückte sanft Skyes Arm. »Sie haben das Richtige getan, Skye. Sie lieben Daniel und haben nur versucht, ihm zu helfen. Machen Sie sich keine Vorwürfe.«
»Ich habe das Gefühl, als hätte ich alles nur noch schlimmer gemacht.«
»Nichts von all dem ist Ihre Schuld. Und im Grunde ist es nicht einmal Daniels Schuld.« Marie sah erneut die drei Kinder in dem verschlossenen Auto vor sich. »Er hat schrecklich gelitten. Kein Wunder, dass er so durcheinander ist.«
»Das Schlimmste ist, dass er die falschen Schlüsse gezogen hat«, stöhnte Skye kläglich.
»Nicht ganz.« Marie seufzte. »Auf gewisse Weise hat er sogar recht, oder? Seine Mutter war tatsächlich eine Mörderin. Aber eben nicht Françoise Thayer. Lucy Carrick war keine skrupellose, brutale und blutrünstige Serienmörderin. Sie war eine drogensüchtige Frau, die nicht mehr weiterwusste.«
»Die falsche Frau, aber trotzdem eine Mörderin.« Nun seufzte auch Skye. »Es ist eine Katastrophe.«
Marie nickte. »Sind Sie sicher, dass Sie sich mit Mark auf die Suche machen wollen? Wir haben mehr als genug Beamte dort draußen.«
»Ja, das ist okay. Wie schon gesagt: Es macht mich verrückt, nichts zu tun und nicht zu wissen, wo Dan ist.«
»Skye, versprechen Sie mir, dass Sie sich ihm nicht nähern, falls Sie ihn finden! Es klingt vielleicht verrückt, aber Sie sollten uns in diesem Fall sofort verständigen. Ich will damit nicht sagen, dass Sie in Gefahr sind, aber wir haben Daniel schon einmal verloren, und das darf nicht wieder passieren. Sie brauchen professionelle Unterstützung, um ihn sicher hierherzubringen.«
»Ich verstehe, was Sie meinen. Aber Sie werden mich nie davon überzeugen, dass Dan mir womöglich wehtun könnte.«
Marie lächelte besorgt. »Ich hoffe, Sie haben recht.«
Daniel saß im Dunkeln und lauschte in die Stille hinein.
Zum ersten Mal seit Wochen bombardierte ihn sein Gehirn nicht mit Lügen oder verwirrte ihn mit konfusen Gedanken. Er hatte einen klaren Kopf und verspürte einen inneren Frieden.
Da war nur Guy Prestons Stimme. Sie hatten es endlich geschafft, das Chaos in seinem Inneren zu besänftigen. Es war richtig gewesen, den Psychologen aufzusuchen, und zwar nicht nur wegen der Wunde, sondern auch wegen der Dinge, die Preston ihm erklärt hatte.
Daniel lächelte reumütig. Es tat ihm leid, dass er den Psychologen in den Straßengraben geschubst hatte, aber er hatte gewusst, dass er sich dabei nicht verletzen würde. Der Abhang war nicht steil und der Boden nach dem letzten Regen feucht und weich. Er hatte lediglich Prestons Ego ruiniert – und womöglich seine teuren Wildlederschuhe.
Er hatte sich die Sache nicht vorher überlegt, sondern spontan auf das reagiert, was der Arzt ihm über seinen Zustand erzählt hatte. Er brauchte Zeit für sich, bevor er zur Polizei ging. Nachdem er nun endlich die Wahrheit kannte, war ihm eine große Last von den Schultern gefallen.
Daniel schloss die Augen und hieß die Dunkelheit willkommen. Er musste dringend jemanden besuchen, aber das konnte noch ein wenig warten. Er hatte noch ein paar Minuten, um den Frieden, die Dunkelheit und die Stille zu genießen.
Sein Mund verzog sich zu einem Lächeln.