Kapitel 23
Lisa Hurley saß in ihrem Auto und beobachtete das kleine Haus am Tavernier Court. Es war eine schöne Wohngegend, und die warmen roten Ziegelsteine der alten Eisenbahngebäude versetzten einen zurück in eine Zeit, als die Lokomotiven noch Rauch ausstießen und die Heizer Kohle schippten.
Doch Lisa hatte nichts für diese romantische Stimmung übrig. Sie saß kerzengerade, ihre Schultern waren gespannt wie Stahlseile, und ihre Augen brannten, weil sie bereits viel zu lange in die Dunkelheit starrte.
Es war eine kalte Nacht, von der Nordsee wehte ein kühler Wind, und es nieselte leicht.
Beinahe eine Stunde war sie jetzt schon hier, und sie war sich sicher, dass er bald kommen würde. Sie warf einen Blick auf die Uhr, streckte sich und holte den Schlüsselbund mit dem silbernen Halbmond aus ihrer Tasche. Dann stieg sie aus, versperrte den Wagen und ging an dem Haus vorbei bis zu einer schmalen Gasse, die zu den Garagen führte. Skyes kleiner KIA parkte noch immer auf dem ihr zugewiesenen Platz, Skye selbst war jedoch vor einiger Zeit von einem Streifenwagen abgeholt worden.
Lisa sah sich sorgfältig um, dann betrat sie die Gasse. Doch bevor sie bei den Garagen angekommen war, bog sie unvermittelt auf einen weiteren Weg ab, der an den Gärten entlangführte. Sie zählte die Häuser, bis sie beim richtigen Tor angekommen war, und betrat den kleinen Garten hinter Skyes Haus. Das war ja leicht, dachte sie, als sie leise auf das im Dunkeln liegende Gebäude zuging. Der Weg war mit hübschen Steinen gepflastert, sie sah bunte Kieselsteine und gepflegte Hochbeete, die perfekt zu einer hart arbeitenden jungen Frau wie Skye passten. Lisa hätte den Namen beinahe laut vor sich hin geflüstert und erschauderte.
Die Tür ließ sich ohne Probleme öffnen, und Lisa ermahnte sich, nicht zu erschrecken, falls sich Daniels Katze plötzlich um ihre Beine wand. Sie durfte auf keinen Fall schreien und die Aufmerksamkeit auf das Haus lenken. Noch nicht.
Lisa drückte die Tür leise hinter sich zu und steckte den Schlüssel ins Schloss, allerdings ohne abzusperren. Skye machte es genauso. Wenn man vom Land kam, war es nicht so wichtig, dass alles verschlossen war.
Bei ihrem letzten Besuch hatte sich Lisa den Grundriss des kleinen Hauses genau eingeprägt, und nun fand sie auch im Dunkeln den Weg. Wie vermutet kam die Katze sofort auf sie zu und wälzte sich maunzend auf dem Boden. »Hallo du«, flüsterte Lisa und nahm sie hoch. »Tut mir leid, Schätzchen, aber ich kann dich hier nicht rumlaufen lassen. Ein tierisches Empfangskomitee ist das Letzte, was ich brauche.« Sie schob die Katze ins Esszimmer und schloss die Tür.
Sie eilte die Treppe hoch und machte auf dem Absatz halt. Das Licht der Straßenlaterne, das durch das lange Fenster fiel, war hell genug, um auf die Uhr sehen zu können. Sie biss die Zähne zusammen. Es wurde langsam Zeit.
Linda ging in Skyes Schlafzimmer und zog die Vorhänge zu, wobei sie darauf achtete, dass kein Spalt blieb. Sie holte tief Luft, machte die Nachttischlampe an und trat anschließend in das kleine angrenzende Badezimmer. Sie stellte sicher, dass der Vorhang auch hier geschlossen war, bevor sie den Lichtschalter betätigte. Die kleinen Halogenlampen waren blendend hell.
Lisa beugte sich in die Duschkabine und machte Skyes wasserdichtes Radio an. Blecherne Musik hallte durch den kleinen Raum, als Lisa das Wasser aufdrehte. Nachdem sie ein dickes Badetuch in der Nähe der Kabinentür platziert hatte, kehrte sie ins Schlafzimmer zurück und zog die Tür zur Hälfte zu. Mit ein paar Schritten war sie wieder am Treppenabsatz und hastete eilig ins Gästezimmer, das sich genau gegenüber befand. Wenn sie die Tür offen ließ, sah sie einen Teil der Treppe und Skyes Tür.
Okay, dachte sie, während sie einen Schritt zurücktrat und sich an die Wand lehnte. Jetzt sehen wir mal, was in deinem kranken Kopf wirklich vorgeht.
Sie hatte gewusst, dass sie schon bald leise Schritte auf der Treppe hören würde und dass diese vor der Tür innehalten würden, bevor der Besucher nach der Klinke griff und ins Schlafzimmer schlich. Sie hätte allerdings nicht gedacht, dass ihr das Herz in die Hose rutschen würde, als es endlich so weit war. Sie hatte nicht mit dieser überwältigenden Angst gerechnet.
Sie rief sich in Erinnerung, weshalb er hier war, und das Zittern ließ nach. Sie schöpfte neuen Mut. Das hier war womöglich der Beweis, dass Skye tatsächlich in großer Gefahr schwebte.
Sie versuchte, möglichst unbeteiligt zu bleiben, und tat, als würde sie sich bloß einen Horrorfilm ansehen.
Doch der Anblick der Person, die Skyes Treppe hochstieg, traf sie erneut vollkommen unerwartet.
Sie hatte mit einem Mann in Jeans, Turnschuhen und Kapuzensweater gerechnet, doch der Eindringling trug einen grünen OP -Kittel und eine dazu passende Hose. Seine Haare steckten unter einer OP -Haube, und sein Gesicht verschwand hinter einem Mundschutz.
Lisa versuchte gerade, den Anblick einzuordnen, als ihr auffiel, dass die Gestalt ein grauenhaft langes Messer in der behandschuhten rechten Hand hielt.
Worauf hatte sie sich hier bloß eingelassen?
Nachdem Skye ihr erzählt hatte, dass Daniel noch immer nicht aufgetaucht war, hatte Lisa Angst bekommen, dass ihre Freundin in Gefahr sein könnte, wenn er wieder eine dieser seltsamen Fugues hatte. Aber das hier überstieg ihre Vorstellungen.
Der Mann schlüpfte ins Schlafzimmer, und Lisa war klar, dass sie schnell reagieren musste. Sie zog ihr Handy aus der Tasche. Sie hatte es ausgeschaltet, als sie die Wohnung betreten hatte, und es gab einen nervtötenden Ton von sich, wenn man es wieder aktivierte, aber sie hatte keine andere Wahl. Sie drückte den Einschaltknopf und betete, dass das Geräusch der prasselnden Dusche ihn übertönen würde.
Lisa gab dem Eindringling genug Zeit, um ins Bad zu gelangen, dann schlich sie auf Zehenspitzen aus dem Gästezimmer, atmete tief durch und machte sich auf den Weg zur Treppe.
Wenn sie es nach unten und aus der Wohnung schaffte, konnte sie ihn einschließen und hatte genug Zeit, um den Notruf zu wählen, sich zu verstecken oder zu ihrem Auto zu laufen.
Sie warf einen schnellen Blick in Skyes Zimmer. Er stand mit dem Rücken zu ihr vor der Badezimmertür und hatte den Kopf zur Seite geneigt, als würde er angestrengt lauschen. Seine Finger umklammerten das Messer. Es blieben nur wenige Sekunden, bis er merken würde, dass Skye nicht da war, und Lisa sprach ein leises Gebet und hastete an der Tür vorbei und die Treppe hinunter. Im Laufen wählte sie den Notruf. Eine andere Möglichkeit hatte sie im Moment nicht.
Sie war auf halbem Weg durchs Wohnzimmer, als ihr klar wurde, dass sie es nicht schaffen würde.
Sie hörte bereits die leisen Schritte auf der Treppe, und sie kamen sehr viel schneller näher als erwartet. Einen Moment lang war es wie in einem Albtraum, wenn man versucht zu entkommen, sich aber nicht von der Stelle rühren kann. Sie stürzte in die Küche und hörte eine entfernte Stimme fragen, um welchen Notfall es sich handelte. »Polizei!«, schrie sie. »Tavernier …«
Das Telefon flog ihr aus der Hand, und sie hörte es knirschen, als er es mit dem Schuh zertrat …
Es war ein seltsames Gefühl. Da war kein Schmerz – zumindest nicht am Anfang. Bloß eine seltsame Kälte, als das Messer das Fleisch von ihrem Nacken bis hinunter zur Schulter aufschlitzte.
Normalerweise wäre jetzt Skye an ihrer Stelle gewesen.
Eine brennend heiße Wut überkam Lisa Hurley, und sie drehte sich mit übermenschlichem Kraftaufwand herum und warf sich auf den Angreifer.
Er stolperte überrascht nach hinten und verlor beinahe das Messer. Lisa griff nach dem nächstbesten Gegenstand – eine gusseiserne Pfanne, die auf dem Herd stand – und schwang ihn mit allerletzter Kraft durch die Luft.
Der Angreifer stöhnte laut auf, was wohl bedeutete, dass sie ihn getroffen hatte. Hoffentlich reichte es, damit sie aus dem Haus verschwinden konnte. Doch in diesem Moment setzte ein brennender Schmerz ein, und ihre Schulter schien zu explodieren. Sie konnte nur noch auf die Hintertür zukriechen.
Draußen angekommen, stemmte sie sich hoch und heulte vor Schmerz und Verzweiflung laut auf. Ihr Auto schien unendlich weit entfernt, und der Schwindel und die Übelkeit waren Anzeichen, dass sie nicht mehr lange bei Bewusstsein bleiben würde. Das blutige Messer bohrte sich erneut zwischen den Rippen hindurch in ihren Rücken.
Bevor Lisa Hurley das Bewusstsein verlor, sah sie noch eine grün gekleidete Gestalt, die durch den Garten davonlief und schließlich in der Dunkelheit verschwand.