Kapitel 24
»Messerattacke am Tavernier Court, Chef!« Charlie hetzte durch den Ermittlungsraum und stolperte dabei beinahe über seine Füße. »In Skye Wynyards Haus!«
Jackman, der auf Maries Tischkante saß, sprang hoch. »Skyes Haus? Aber sie ist doch hier bei uns, oder?«
»Ja, Sir. Sie wartet unten am Empfang, bis sie abgeholt wird. Aber die Verletzte ist nicht Skye, Sir. Es ist eine ältere Frau namens Lisa Hurley. Sie hatte einen Krankenhausausweis dabei.«
»Schon wieder dieses verdammte Krankenhaus!«, fluchte Marie und griff nach ihrer Jacke, die über der Stuhllehne hing. »Ist sie schwer verletzt?«
»Sie ist gerade auf dem Weg ins Krankenhaus. Intensivstation. Sergeant Masters dachte, Sie würden vielleicht gerne hinfahren.«
»Ja, natürlich!« Jackman zog seinen Autoschlüssel aus der Tasche. »Charlie, sorgen Sie dafür, dass sich Skye Wynyard nicht von der Stelle rührt. Ich will nicht, dass sie nach Daniel sucht. Sie soll ihre Mitfahrgelegenheit nach Hause schicken, verstanden?« Er wandte sich an Marie. »Fahren wir!«
Als sie mit quietschenden Reifen auf dem Krankenhausparkplatz zum Stehen kamen, rollten die Sanitäter gerade eine Trage aus dem hinteren Teil eines Krankenwagens. Marie und Jackman eilten ihnen hinterher, und Marie versuchte, aus den gehetzten Gesprächen die richtigen Informationen herauszufiltern. Trotz des medizinischen Fachjargons kam sie zu dem Schluss, dass die Patientin noch am Leben war.
»Wird sie es schaffen?«, rief Jackman und hielt einem der Ärzte den Dienstausweis entgegen.
Der Arzt ließ Lisa nicht aus den Augen, während er antwortete. »Wir versuchen es.« Dann rief er: »Kardiopulmonale Reanimation! Sofort!«
Jackman und Marie sahen durch die offene Tür zu, wie das Team fieberhaft arbeitete, bis es endlich hieß: »Patientin stabil!«
»Gute Arbeit, Leute. Ist der OP bereit?«
»Fünf Minuten, Sir.«
»Hervorragend.« Der Doktor schlüpfte aus den Handschuhen und der blutdurchtränkten Schürze und warf alles in einen gelben Eimer. Dann ging er mit hochgezogenen Augenbrauen auf Jackman und Marie zu. »Das war knapp. Beide Verletzungen müssen operiert werden. Der Schnitt an Schulter und Nacken ist eher oberflächlich, und es wurde hauptsächlich weiches Gewebe verletzt. Die zweite Wunde geht sehr viel tiefer und bereitet uns größere Sorgen.« Er wischte sich die dunklen Haare aus der Stirn. »Das Messer drang durch die Rückenmuskulatur und die Rippen und durchbohrte eines der Segmente der rechten Lunge. Wir hoffen, dass die Chirurgen den verletzten Teil entfernen können, ohne andere Segmente zu beschädigen.« Er holte Luft. »Das Blut drang außerdem in den Bereich unter der Lunge.« Er deutete auf eine Stelle unterhalb des Rippenbogens. »Hierhin breitet sich die Lunge während des Einatmens aus.«
»Wird sie überleben?«, fragte Jackman ungeduldig.
»Wir haben Grund zu der Annahme, dass sie es schaffen wird.« Der Arzt hielt einen Moment inne. »Es sei denn, es gibt noch mehr innere Verletzungen, die von außen nicht zu sehen waren.«
»Können wir mit ihr sprechen? Ist sie bei Bewusstsein?«
»Ich fürchte nein, Inspector. Sie müssen bis nach der OP warten.«
Jackman stöhnte wütend auf. »Es handelt sich hier um versuchten Mord, und sie hat den Angreifer vielleicht gesehen. Daher ist es wichtig, dass wir so bald wie möglich mit ihr sprechen. Verstanden?«
»Natürlich.«
»Wir sorgen dafür, dass rund um die Uhr ein Officer bei ihr ist. Es tut mir leid, falls wir Ihnen damit Unannehmlichkeiten bereiten, aber so ist es nun mal.« Sein Blick wurde finster. »Das letzte Mal, als wir hier im Einsatz waren, wurde unseren Beamten erhebliches Misstrauen entgegengebracht. Einige Schwestern behinderten sie sogar in ihrer Arbeit. Ich hoffe sehr, dass so etwas dieses Mal nicht der Fall sein wird.«
»Ja, ich habe davon gehört.« Der Arzt wirkte peinlich berührt. »Ich entschuldige mich dafür und versichere Ihnen, dass Sie dieses Mal sämtliche Unterstützung bekommen werden. Es wurden einige schwerwiegende Verwarnungen ausgesprochen, Inspector. Es wird auf keinen Fall wieder vorkommen.«
Sie traten einen Schritt zurück, während Lisa Hurley für die Operation vorbereitet wurde.
Marie betrachtete das kalkweiße Gesicht und fragte sich, was die Frau in Skye Wynyards Haus verloren gehabt hatte und warum sie so brutal niedergestochen worden war.
»Hier, das brauchen Sie vermutlich.« Der Arzt gab ihr die Kette mit Lisas Dienstausweis. »Sie ist eine von uns, Sergeant. Das ist ihr Ausweis. Sie ist die Verwaltungschefin der Ergotherapie.« Er zuckte kaum merklich mit den Schultern. »Es ist nie einfach, an einer Kollegin zu arbeiten. Das trifft uns alle.«
Marie nickte. Genauso war es, wenn ein Polizeikollege verletzt wurde. »Dann ist sie also Skyes Vorgesetzte.« Sie wandte sich an Jackman. »Interessant.«
»Skye.« Es war kaum mehr als ein Seufzen, aber alle drehten sich zu der Frau auf dem Bett herum.
»Entspannen Sie sich, Lisa. Sie sind in Sicherheit. Sie sind auf dem Weg in den OP . Es wird alles gut.« Der Arzt hielt ihre Hand.
»Skye? Wo ist Skye?«
Marie und Jackman traten näher heran. »Wir sind von der Polizei, Lisa. Skye geht es gut. Sie ist auf der Dienststelle in Sicherheit.«
»Lassen Sie sie nicht gehen! Er wollte sie töten – aber stattdessen war ich da …« Ihre Stimme wurde immer leiser.
»Wer war es, Lisa? Wer hat Sie angegriffen?«, fragte Jackman.
»Passen Sie auf Skye auf. Passen Sie auf …«
Marie lehnte sich näher heran. Was waren die letzten drei Worte gewesen? Hatte sie Lisa richtig verstanden? »Halten Sie durch, Lisa! Und machen Sie sich keine Gedanken um Skye. Ihr kann nichts passieren.«
Das Bett wurde fortgeschoben, und auch Jackman und Marie wandten sich ab. »Was hat sie gesagt?«, fragte Jackman.
Marie runzelte die Stirn. »Ich bin mir nicht sicher. Es ergibt keinen Sinn, aber ich kann es Ihnen erst draußen sagen. Wenn ich sie richtig verstanden habe, will Lisa sicher nicht, dass sich solche Dinge im Krankenhaus herumsprechen.«
Jackman nickte. »Gut, dann warten wir, bis wir im Auto sind. Ich muss zuerst noch eine Rund-um-die-Uhr-Bewachung für Lisa organisieren, und dann müssen wir zurück aufs Revier. Die Spurensicherung soll sich das Haus am Tavernier Court ganz genau ansehen. Wenn es wirklich derselbe Kerl war, konnte er sein Vorhaben dieses Mal nicht zu Ende bringen, was die Chance erhöht, dass er Spuren zurückgelassen hat.«
Während Jackman seine Anrufe erledigte, nutzte Marie die Gelegenheit, um bei Charlie nachzufragen, wie es Skye ging.
Charlies Antwort kam zögerlich. »Ich habe schon versucht, den Boss zu erreichen, Sarge. Aber sein Telefon war besetzt und deines ausgeschaltet. Skye war bereits fort, als ich runter in die Eingangshalle kam. Daniels Freund hatte sie scheinbar schon abgeholt.«
»Scheiße! Hör mal, Charlie, die Messerattacke galt nicht Lisa Hurley, sondern Skye Wynyard.«
»Verdammt! Ich habe bereits eine Fahndung herausgegeben, Sarge. Wir müssen ihr sagen, was bei ihr zu Hause passiert ist, bevor sie uns mitten in einen Tatort hineinspaziert.«
»Was ist mit ihrem Handy?«
»Ausgeschaltet.«
»Dann ist die Voicemail auch nicht aktiviert. Verdammt.« Marie überlegte kurz. »Versuch es mit einer Nachricht. Sie wird sie lesen, sobald sie das Telefon wieder einschaltet. Und sag den Streifenpolizisten, dass die Suche nach ihr oberste Priorität hat. Dort draußen ist jemand mit einem langen Messer auf der Jagd nach ihr. Verstanden?« Dann fügte sie noch hinzu: »Was ist eigentlich mit diesem Freund von Daniel? Mark Dunand? Haben wir seine Telefonnummer?«
»Die Nummer vom Büro haben wir, Sarge, aber bei der Handynummer bin ich mir nicht sicher. Ich sage zuerst den Uniformierten wegen Skye Bescheid, dann kümmere ich mich darum.«
Nachdem Charlie aufgelegt hatte, wandte sich Marie verzweifelt an Jackman. »Und wir haben Lisa gerade versprochen, dass Skye in Sicherheit ist.«
Jackman wurde kreidebleich. »Sagen Sie jetzt bitte nicht, dass Sie nicht mehr auf der Dienststelle ist.«
Marie nickte verärgert. »Kann dieser Fall eigentlich noch schlimmer werden?«
»Kaum.«
Sie eilten zum Auto, und Jackman fragte: »Was hat Lisa vorhin gesagt?«
»Ich glaube …«, begann Marie zögerlich. »Ich glaube, sie sagte: ›Passen Sie auf meine Tochter auf.‹«
»Aber Skyes Eltern sind doch in Frankreich und renovieren ihr Ferienhaus?«
»Genau, in der Dordogne. Aber während des Gesprächs über Daniels Besessenheit von seiner leiblichen Mutter hat Skye mir erzählt, dass sie ebenfalls adoptiert wurde. Allerdings hat sie nicht das Bedürfnis, ihre Mutter zu finden. Ihrer Meinung nach hat sie ihr einen Gefallen getan. Sie hatte eine schöne Kindheit, eine gute Ausbildung und Eltern, die sie liebten.«
Jackman öffnete die Autotür. »Vielleicht war Lisa durch die Schmerzen und Medikamente verwirrt? Vielleicht hat sie ihre Tochter mit Skye verwechselt?«
»Und das glauben Sie echt?« Marie schloss den Sicherheitsgurt.
»Na ja, Sie tun es offenbar nicht.« Er wandte sich zu ihr um und warf ihr ein verzweifeltes Grinsen zu. »Natürlich glaube ich das nicht. Ich klammere mich nur an jeden verdammten Strohhalm.« Er startete den Wagen und fuhr los.
Marie rief Charlie an. »Hattest du Glück?«
Charlie antwortete nicht sofort, und Marie wurde langsam nervös. Dann sagte er: »Es tut mir leid, Sarge, aber es ist schlimmer als gedacht.«
»Ist das überhaupt möglich?«
»O ja. Ich habe mit dem diensthabenden Kollegen am Empfang gesprochen. Skye wartete in der Eingangshalle, doch dann bekam sie einen Anruf und verschwand. Kurze Zeit später kam der Kerl, der sie abholen wollte. Er war ziemlich aufgebracht. Der Sergeant glaubt, dass er ein Auge auf Skye geworfen hat.«
Marie biss die Zähne zusammen. »Aber wenn wir sie nicht angerufen haben, Dunand es nicht war und ihre Vorgesetzte auf alle Fälle ausfällt, dann kann es nur Daniel gewesen sein, nicht wahr?«
»Oder vielleicht der Professor?«, schlug Charlie vor. »Er wollte sie doch im Auge behalten, solange Daniel untergetaucht ist, oder?«
»Ja, das wollte er.« Marie dachte nach. »Hör mal, Charlie, wir sind bereits auf dem Rückweg. Mach den uniformierten Kollegen noch mal klar, dass wir Skye so schnell wie möglich finden müssen. Wir sind in zehn Minuten da.«
Sie legte auf und erklärte Jackman, was passiert war. »Soll ich Guy Preston anrufen?«
Jackman nickte. »Ich glaube zwar nicht, dass er es war, aber nachfragen schadet nicht.«
Guy antwortete nach dem zweiten Klingeln. »Tut mir leid, Marie, aber ich habe Skye nicht angerufen.« Er klang aufgewühlt. »Mein Gott, glauben Sie, dass sie bei Daniel ist?«
»Ja, sieht so aus. Guy, Sie müssen mich sofort informieren, falls Sie von den beiden hören, okay? Es ist durchaus möglich, dass sie sich an Sie wenden.«
Er stieß ein reumütiges Lachen aus. »Ich lasse mich sicher nicht noch einmal derart hinters Licht führen, Marie! Falls sie hier auftauchen sollten, sperre ich sie wenn nötig auch ein. Und falls einer der beiden mich kontaktieren sollte, melde ich mich sofort bei Ihnen.«
Marie bedankte sich und starrte dann gedankenverloren auf ihr Telefon. »Guy hat Skye nicht angerufen, es muss also tatsächlich Daniel gewesen sein.« Jackman konzentrierte sich mit ernstem Gesicht auf die Straße. »Skye vertraut ihm. Trotz allem, was passiert ist. Sie glaubt ihm und ist davon überzeugt, dass er kein Mörder ist.«
»Und was ist mit Ihnen, Marie?«, fragte Jackman, ohne sie anzusehen. »Was glauben Sie?«
Marie schloss einen Moment lang die Augen. »Bis jetzt hätte ich ihr zugestimmt, aber langsam eskaliert die Situation, und nachdem wir jetzt wissen, was in Daniels Kindheit passiert ist …« Sie zuckte mit den Schultern. »Man sollte sein Vertrauen nicht in jemanden setzen, der so schwer traumatisiert wurde wie Daniel.« Sie hörte die Worte des pensionierten Detectives Peter Hodder – Lassen Sie ihn nicht aus den Augen!  – und erschauderte, obwohl es ein angenehm warmer Abend war. »Wir müssen ihn unbedingt finden.«
Jackman stellte das Auto auf dem Polizeiparkplatz ab. »Falls Skye und Daniel wirklich zusammen sind, kann sie ihm wenigstens sagen, was Ruby Kinder uns über seine leibliche Mutter erzählt hat. Wenn jemand Daniel davon überzeugen kann, dass er in einer schrecklichen Fantasiewelt gefangen war, dann ist es Skye. Sie hat etwas Besonderes an sich und liebt ihn wirklich. Sie ist auf jeden Fall die Richtige, um ihm die Neuigkeiten zu überbringen.«
Doch Marie war davon nicht unbedingt überzeugt. »Aber dazu muss er glauben, was sie ihm erzählt. Es ist in etwa so, als würde man einem Kind erklären, dass es den Weihnachtsmann nicht gibt. Vielleicht denkt er, wir hätten uns das alles bloß ausgedacht. Wir haben keine Ahnung, wie er auf so bedeutsame Nachrichten reagieren wird.«
»Das stimmt.« Jackman zog den Schlüssel aus der Zündung. »Aber im Moment sollten wir uns vor allem darauf konzentrieren, die beiden zu finden. Vielleicht sollten wir Mark Dunand herbestellen? Er und Skye wollten doch gemeinsam an den Orten nachsehen, wo er und Daniel früher waren. Vielleicht weiß er Dinge, die wir nicht wissen.«
Marie öffnete die Autotür. »Gute Idee. Wenn Max noch nicht Feierabend gemacht hat, soll er Dunand abholen.« Sie eilte neben Jackman her. »Haben Sie den Mann schon kennengelernt?«
Jackman hielt ihr die Tür in die Dienststelle auf. »Nein, aber ich glaube, Charlie hat mit ihm gesprochen, als sie Daniels Büro durchsucht haben. Warum?«
»Ich habe gerne ein Gesicht zu einem Namen und ein Gefühl für die Leute. Das bekommt man nicht, wenn man jemandem noch nie in die Augen geschaut hat.«
»Noch ein Grund mehr, ihn uns mal anzusehen.«
Als Marie und Jackman den Ermittlungsraum betraten, kam Charlie auf sie zu. »Ich habe Dunands Handynummer herausgefunden, Sarge, aber er wollte sich allein auf die Suche nach Skye machen.«
»Sie haben ihm hoffentlich gesagt, dass er diesen Scheiß lassen soll, oder?«, fauchte Jackman.
»Ja, klar, Chef. Ich habe ihm gesagt, dass wir keine schießwütigen Laien auf der Straße brauchen und er lieber mit uns zusammenarbeiten soll. Er hat mir mehr oder weniger gesagt, dass ich mich verpissen soll.« Charlie schien gekränkt. »Er war ziemlich aufbrausend und meinte, er würde sie eher finden als wir. Dann hat er sein Handy ausgemacht.«
Marie verzog das Gesicht. »Hat er ausdrücklich von Skye gesprochen? Nicht von Daniel? Oder von beiden? Nur von Skye?«
Charlie sah sie an. »Ja, es ging nur um Skye. Daniel hat er mit keinem Wort erwähnt.«
»Aber er ist doch Daniels Freund«, überlegte Max. »Wenn er sich wirklich Sorgen um seinen Kumpel machen würde, müsste er doch auch nach ihm suchen und nicht nur nach Skye.«
Jackman runzelte die Stirn. »Ich habe ein ungutes Gefühl bei der Sache«, murmelte er. »Wir sollten alles zusammentragen, was wir über Mark Dunand wissen.« Sein Blick wanderte von Max zu Charlie. »An die Arbeit, ihr zwei. Sucht vor allem nach möglichen Verbindungen zum Krankenhaus.«
»Sir?« Marie sah ihren Vorgesetzten nachdenklich an. »Dunand importiert doch exotische Pflanzen aus dem Ausland. Vor allem aus Kolumbien …«
Sie hielt inne und wartete darauf, dass die anderen von selbst darauf kamen.
Max’ Augen weiteten sich. »Denken Sie vielleicht an Kolumbiens zweites großes Exportgut? Drogen?«
»Vermutlich steckt nichts dahinter«, erwiderte Marie. »Aber wir sollten auf alle Fälle nachsehen, ob er in der Vergangenheit mal Probleme mit der Polizei hatte.«
»Bei den Drogen, die in den drei Leichen gefunden wurden, handelte es sich zwar um verschreibungspflichtige Medikamente und nicht um Heroin oder Kokain«, bemerkte Jackman, »aber Drogen sind Drogen, und Dealer beschränken sich oft nicht nur auf ein Produkt. Viele Dealer liefern auf Bestellung. Solange man genug Geld hat, besorgen sie einem alles.« Jackman schlug sich mit der geballten Faust auf die Handfläche. »Je länger ich darüber nachdenke, desto mehr bin ich davon überzeugt, dass wir Dunand herholen sollten. Ihr beide sucht alles zusammen, was sich finden lässt!« Er wandte sich an Marie. »Und Sie rufen die Kollegin am HOLMES -Rechner an und geben ihr Dunands Daten durch, während ich mit den uniformierten Kollegen rede. Sie sollen Dunand ausfindig machen und herbringen.«
Marie ging zu ihrem Schreibtisch, um zu telefonieren, während die anderen beiden Detectives zu ihren Computern eilten und mit der Suche begannen.
Als sie den Hörer abhob, kam ihr eine Idee. Guy Preston hatte Mark Dunand kennengelernt, als er bei Skye war, und als Psychologe konnte der den Mann vermutlich ganz gut einschätzen.
Trotzdem zögerte sie einen Moment lang. Sollte sie sich lieber mit Jackman absprechen? Sie runzelte die Stirn. Dafür gab es keinen Grund. Jackman würde sicher zustimmen, und außerdem war er nicht ihr Aufpasser. Nein, sie zögerte, Guy zu fragen, weil sie ihn nicht auf falsche Gedanken bringen wollte. Sie hatte ihn in den letzten Stunden bereits mehrmals angerufen, und sie wollte ihn nicht unnötig ermutigen.
Sie hielt den Hörer immer noch unschlüssig in der Hand. Ach, verdammt! Der Fall hatte im Moment Vorrang. Sie wählte Guys Nummer.
»Tut mir leid, ich weiß, es ist spät, aber wir brauchen Ihre Einschätzung.« Sie klang kalt und geschäftsmäßig und betonte das »wir«.
»Für Sie doch immer. Wie kann ich helfen?«
»Sie haben Mark Dunand doch schon mal gesehen. Wie war Ihr Eindruck?«
»Na ja, es war ja nur ganz kurz. Hätte ich gewusst, dass Sie sich für ihn interessieren, hätte ich genauer darauf geachtet.« Guys Stimme hatte ihren flapsigen Unterton verloren.
»Es ist Ihr Job, Leute einzuschätzen, Guy. Sie analysieren Menschen schon seit Jahren, und ich wette, Sie machen es ganz automatisch.«
Er lachte auf. »Ja, vermutlich. Mal überlegen …« Er zögerte. »Er war mir nicht sonderlich sympathisch, aber das ist nur eine persönliche Einschätzung, keine professionelle Beurteilung. Er schien Skye sehr zugeneigt, was sie offensichtlich nicht erwiderte. Eigentlich hatte ich eher das Gefühl, dass sie ihn am liebsten losgeworden wäre.« Er brach erneut ab. »Er wirkte nervös und angespannt. Er hat die seltsame Angewohnheit, die Fingergelenke knacken zu lassen, und das war mehr als nervtötend. Und er betrachtete Skye auf eine Art, wie man die Freundin seines besten Freundes eigentlich nicht ansehen sollte, wenn Sie verstehen.«
»Ja, und es gefällt mir nicht.«
»Warum interessieren Sie sich für Dunand?«, wollte Guy wissen.
Marie fragte sich, wie viel sie Preston erzählen sollte, aber eigentlich sah sie keinen Grund, ihn nicht in sämtliche Details einzuweihen. »Jemand hat heute Abend versucht, Skye umzubringen, aber er hat die Falsche erwischt. Und Mark Dunand ist gerade auf der Suche nach ihr.«
»Mein Gott! Das ist ja schrecklich! Ist die andere Frau tot?«
»Nein, Gott sei Dank nicht. Sie ist gerade im OP . Die Ärzte hoffen das Beste, befürchten aber innere Blutungen.«
»Hoffen wir, dass sie den Angreifer gesehen hat und Ihnen eine Beschreibung liefern kann, wenn sie aus der Narkose aufwacht«, erwiderte Guy. »Glauben Sie, dass es Mark Dunand war?«
»Wir wissen es nicht. Aber wir müssen ihn auf jeden Fall finden und mit ihm reden.«
»Ich würde ja anbieten, mir ein Taxi zu rufen und zu Ihnen zu kommen, aber ich hatte bereits ein paar Gläser Brandy und bin mir nicht sicher, ob ich eine große Hilfe wäre. Ehrlich gesagt hat mich der Vorfall mit Daniel Kinder schwer getroffen. Ich würde das nie jemandem erzählen, aber als er mich angriff, sah ich Terence Marcus Austins Gesicht vor mir. Ich hatte höllische Angst, obwohl ich dachte, ich wäre darüber hinweg.«
Marie sah vor sich, wie er die Narbe an seiner Wange berührte. »Das ist doch kein Wunder, Guy. Wenn man einmal in einer lebensbedrohlichen Situation war und es passiert wieder etwas Ähnliches, werden alte Ängste geweckt.«
»Gott sei Dank versteht mich wenigstens eine.« Guy zögerte erneut, und Marie hatte das Gefühl, als wollte er noch etwas loswerden. Sie empfand Mitgefühl. Auch wenn sie Guy auf Abstand halten musste, tat er ihr trotzdem leid. Der Mann verbrachte sein Leben damit, psychisch kranken Menschen zu helfen, aber manchmal brauchte auch er jemanden, der ihm zuhörte. »Was ist los, Guy?«, fragte sie sanft.
»Es hat dieses Mal nichts mit der Vergangenheit zu tun, sondern mit meinem Gespräch mit Daniel. Sie haben mich gefragt, ob ich irgendetwas gesagt habe, das ihn zu seiner Flucht verleitet hat, und ich sagte Nein, aber mittlerweile bin ich mir nicht mehr so sicher.«
»Und weiter?«
»Ich habe … Ich habe herausgefunden, dass Blut eine morbide Faszination auf ihn ausübt.«
»Auf Daniel?« Maries Stimme wurde lauter. »Mein Gott! Aber Sie meinen doch nicht diesen schrecklichen Fetisch wie bei Françoise Thayer, oder?«
»Nein, so schlimm ist es nicht, aber er hat mir von seinen Träumen erzählt. Er hatte Blut an den Händen, und einmal ist er beinahe darin ertrunken.« Guy war offenbar unbehaglich zumute. »Ich hoffe nur, dass ich ihn nicht auf irgendeine Weise unabsichtlich in dem Glauben bestärkt habe, dass er der Sohn einer Mörderin ist.«
Marie wurde kalt. »Besteht denn die Chance, dass Sie es getan haben?«
»Ich habe es nicht laut ausgesprochen, aber ich gebe zu, dass mir der Gedanke kam.«
»Aber Daniel kann doch keine Gedanken lesen, Guy! Haben Sie denn etwas gesagt, das er als Bestätigung seiner wahnwitzigen Theorie sehen könnte?«
Sein Schweigen war Antwort genug, doch dann erklärte er: »Ich weiß es nicht. Ich habe es nicht ausgesprochen, aber meine Körpersprache oder das, was ich nicht gesagt habe, könnten ihn in seinen Spekulationen ermutigt haben.«
Marie legte auf und eilte in Jackmans Büro, um ihm von dem Telefonat zu erzählen. »Wenn Daniel nicht mit Skye zusammen ist, weiß er immer noch nichts von dem, was uns seine Mutter erzählt hat, und das macht mir Sorgen.«
Jackman kaute auf seinem Daumennagel herum. »In diesem Fall glaubt er also noch immer, der Sohn einer Mörderin zu sein. Und er ist mittlerweile womöglich auch der Meinung, dass ihm der Psychologe recht gibt.« Er stöhnte leise. »Preston soll herkommen. Wir müssen ganz genau wissen, was er gesagt hat und was nicht.« Jackman verzog das Gesicht. »Verdammt! Das hätte ich fast vergessen. Er hat ja kein Auto, oder?«
»Außerdem hatte er schon ein paar Drinks, Chef. Die Tatsache, dass Daniel ihn attackiert hat, hat alte Erinnerungen an die Vergangenheit wachgerufen. Auch wenn es nur ein kleiner Schubs war.«
»Solange er nicht total hinüber ist, lassen Sie ihn bitte holen. Ich will wissen, in welchem Zustand Daniel wirklich war, als er sein Auto stahl.« Er warf Marie einen finsteren Blick zu. »Leider ist es verdammt gut möglich, dass Daniel Lisa Hurley angegriffen hat. Ich habe gerade erfahren, dass ein Schlüssel in der Hintertür steckte – und Daniel hat einen Schlüssel für Skyes Haus.«
»Scheiße.«
»Sie sagen es. Wahrscheinlich wären wir schneller, wenn wir beide Guy Preston abholen. Rufen Sie ihn an und sagen Sie ihm, dass wir gleich kommen. Sonst können wir ohnehin nichts tun, bis die Kollegen auf der Straße unser verloren gegangenes Trio aufgespürt haben.« Er verzog das Gesicht. »Bis jetzt sieht es nicht gerade gut aus. Ich habe vorhin mit Jim Gilbert gesprochen. Sie haben noch einmal in Daniels Haus und auf sämtlichen Nachbargrundstücken und Nebengebäuden nachgesehen. Außerdem haben sie mit Mark Dunands Geschäftsführerin Carla gesprochen und waren in Daniels Büro bei Emerald Exotix. Langsam gehen ihnen die Orte aus, an denen sie suchen können.«
Marie nickte und nahm ihr Handy.
»Okay, dann befragen wir mal den Seelenklempner. Ich hole meine Jacke.«
Auf dem Weg nach draußen eilte Max an ihr vorbei. »Lisa Hurley ist gerade aus dem OP gekommen«, rief er. »Das Krankenhaus will, dass der Chef dabei ist, wenn sie aufwacht.«
»Ja, das will ich ihnen auch geraten haben.« Sie wandte sich um und betrat noch einmal das Büro.
»Okay, ich fahre ins Krankenhaus, Marie, und Sie zu Guy. Wir treffen uns in einer Stunde wieder hier.« Eine dunkle Wolke zog über Jackmans Gesicht, und als Max außer Hörweite war, sagte er: »Ist das in Ordnung für Sie? Ich will Sie nicht in eine unangenehme Lage mit Ihrem alten ›Freund‹ bringen.«
»Damit komme ich schon zurecht, Chef. Jetzt zählt vor allem die Ermittlung.«
»Okay. Wir sehen uns in einer Stunde.«