Kapitel 25
Weniger als fünf Minuten später hielt Marie auf dem Parkplatz vor Prestons Wohnung. Sie nahm den Helm ab und sah sich um. »Schick« war das einzige Wort, das ihr im Moment einfiel. Die Gärten wurden offensichtlich nicht von den Bewohnern, sondern von professionellen Gärtnern betreut, und es gab sicher nirgendwo abblätternde Farbe oder rostige Treppengeländer.
Prestons Stimme durch die Gegensprechanlage klang kehlig und ein wenig gedehnt. »Im Erdgeschoss. Die Wohnung mit Garten ganz hinten.« Marie fragte sich, ob er schon geschlafen oder sich noch einen Brandy gegönnt hatte.
Es war offensichtlich, dass Preston nicht vorhatte, lange in der Wohnung zu bleiben. Durch die offene Schlafzimmertür sah sie mehrere Koffer, Sporttaschen und Umzugskartons.
»Hier entlang. Das Wohnzimmer ist relativ ordentlich.« Guy öffnete die Tür und führte sie in ein großes kombiniertes Wohn- und Esszimmer.
Ordentlich war es tatsächlich, wobei »karg« es besser getroffen hätte. Die angrenzende Küche wirkte mehr oder weniger unbenutzt. Guy hatte offensichtlich nichts für selbst gekochte Gourmetmenüs übrig.
Er warf ihr einen entschuldigenden Blick zu. »Es ist sehr einfach, aber es hat doch wenig Sinn, alles auszupacken, wenn ich in ein paar Wochen schon wieder ausziehe.« Er hob eine Augenbraue. »Ich dachte, DI Jackman würde Sie begleiten?«
»Die verletzte Frau kommt gleich aus dem OP , und er wollte dabei sein, wenn sie aufwacht.«
»Natürlich.« Guy nickte und wandte sich mit dem Glas in der Hand in Richtung Küche um. »Wollen Sie einen Drink?«
»Nein, danke. Mein Motorrad hat neuntausend Mäuse gekostet. Ich würde meinen Führerschein gerne behalten, damit ich weiterhin damit fahren kann.«
»Ich verstehe. Wie wäre es mit Kaffee?«
»Gerne. Es war so stressig, dass ich gar nicht weiß, wann ich zuletzt etwas getrunken habe. Ich bin ganz ausgedörrt.«
»Schwarz, ein Stück Zucker, richtig?«
Das war tatsächlich richtig, aber es ärgerte Marie, dass Guy sich nach all den Jahren noch so gut daran erinnern konnte. »Ich habe meinen Zuckerkonsum erhöht. Zwei Stück, bitte.«
Während Guy alles vorbereitete, sah Marie sich um und fragte sich, was ihn seine »vorübergehende Bleibe« wohl kostete. Obwohl sie zugeben musste, dass die Wohnung wirklich hübsch war. Im Wohnzimmer standen bloß zwei große Fernsehsessel und ein dazu passendes Sofa, und der angrenzende Wintergarten führte auf eine makellose, bepflanzte Veranda hinaus. Es war so ruhig, dass es sich gar nicht wie ein Teil einer Wohnanlage anfühlte.
An der Wand stapelten sich Plastikboxen mit Büchern. Ein Blick auf die Titel verriet Marie, dass es ausschließlich wissenschaftliche Bücher und Nachschlagewerke waren, und zwar hauptsächlich zum Thema Mord. »Wenn ich Sie nicht so gut kennen würde, würde ich mir echt Sorgen machen«, erklärte Marie und nahm einen dicken Wälzer mit dem Titel Die Seele des Jägers zur Hand. »Kein einziger Schnulzenroman.«
»Die muss ich erst auspacken«, erwiderte Guy grinsend und reichte ihr den Kaffeebecher. »Aber nach Ihrem Anruf vorhin nehme ich an, dass Sie nicht über Bücher reden wollen. Kommen Sie, setzen Sie sich.«
Er deutete auf einen der Lehnstühle und nahm in dem anderen Platz.
»Wir müssen ganz genau wissen, in welcher Stimmung sich Daniel Kinder befand, als er mit Ihrem Auto davonfuhr und Sie im Straßengraben zurückließ«, begann Marie, doch dann gab sie es auf. Sie konnte die Sache nicht mehr beschönigen. »Wir haben keine Ahnung, wo Skye Wynyard ist, Guy. Und wir machen uns große Sorgen um sie.«
»Wegen Daniel? Oder wegen dieses Dunand?«
»Wer weiß? Skye ist überzeugt, dass Daniel ihr nichts antun würde, aber wir sind uns da nicht mehr so sicher.«
Guy stellte den Kaffeebecher auf den Boden und lehnte sich zurück. »Es ist alles meine Schuld, nicht wahr? Hätte ich auf Sie gehört, als Daniel hier bei mir war, wäre das alles nicht passiert.«
»Vergessen Sie’s. Jackman und ich sind uns einig, dass wir an Ihrer Stelle dasselbe getan hätten.« Das stimmte zwar nicht ganz, aber sie musste ihn irgendwie ablenken. »Also, welchen Eindruck machte Daniel auf Sie? Und was genau haben Sie zu ihm gesagt?«
Sie unterhielten sich etwa eine Viertelstunde lang, und am Ende beschloss Marie, dass Guys Bedenken vor allem Dinge betrafen, die Daniel möglicherweise falsch interpretiert haben könnte. Daniel war sehr labil und konnte bei der kleinsten Kleinigkeit ausrasten.
»Also meiner Meinung nach haben Sie ihn nicht in seinem Wahn bestärkt.« Marie spürte, wie das Mitgefühl zurückkehrte. »Er hat Ihnen Angst gemacht, nicht wahr? Deshalb sind Sie so unsicher.«
Guy betrachtete seine vernarbte Hand und nickte. »Als er auf mich zukam und mich schubste, war ich wie erstarrt. Mir war natürlich klar, dass es bloß Daniel war, und die Vernunft sagte mir, dass er mir nicht wehtun wollte. Aber ich wäre vermutlich auch bei einem Teddybären ausgeflippt.«
Marie wollte gerade antworten, als Guys Handy klingelte. Er warf einen Blick auf das Display. »Das ist einer der Direktoren der neuen Klinik in Frampton. Keine Ahnung, was er um diese Uhrzeit noch von mir will, aber ich sollte besser drangehen.«
»Kein Problem.«
Guy ging in den Wintergarten, und Marie hörte, dass er über eine finanzielle Angelegenheit sprach. Sie warf einen Blick auf die Uhr. Sobald er aufgelegt hatte, würde sie sich auf den Weg machen. Sie lächelte in sich hinein. Sie wollte zuerst nicht allein herkommen, aber letztlich hatte sie das Zusammentreffen ganz gut gemeistert. Vielleicht war sie ein wenig zu hart zu Guy Preston gewesen. Immerhin teilten sie ein traumatisches Erlebnis. Sie waren einfach unterschiedlich damit umgegangen, und im Gegensatz zu Guy war sie dabei nicht verletzt worden. Sie sah die blutende Wunde in seinem Gesicht vor sich und die Hand, die von Terence Marcus Austins behelfsmäßiger Waffe durchbohrt wurde.
Marie betrachtete den hochgewachsenen Mann, der in den dunklen Garten hinausstarrte, lächelnd und beschloss, Nachsicht mit ihm zu üben.
Kevin goss eine großzügige Menge Wodka in sein Glas. Er fühlte sich innerlich leer, doch ihm war eine riesige Last von den Schultern genommen worden. Er hatte endlich den Mut gefunden, seinem Vater das Herz auszuschütten, und dieser war auf einmal nicht mehr der Bischof gewesen, sondern einfach nur Kevins Dad. Sie hatten sich über eine Stunde unterhalten.
Der Inspector hatte recht gehabt. Sein Vater hatte bereits gewusst, dass Kevin schwul war, doch er hatte die Privatsphäre seines Sohnes respektiert. Er war davon ausgegangen, dass Kevin schon noch mit ihm über seine Sexualität sprechen würde, sobald er dazu bereit war.
Kevin hatte seinem Vater so viel wie möglich über die Hintergründe seiner Suspendierung erzählt, und sein Vater hatte ihm seine uneingeschränkte Unterstützung zugesichert. Die Fotos waren nicht zur Sprache gekommen, und als Kevin schließlich mit beschwingten Schritten sein Elternhaus verlassen hatte, hatte er sich dafür verflucht, dass er nicht schon viel früher hergekommen war.
Kevin trug seinen Drink ins Wohnzimmer und ließ sich aufs Sofa fallen. Er griff nach der Fernbedienung der Stereoanlage und nahm einen Schluck. Musik erfüllte den Raum, und die Erleichterung war riesengroß. Er hob das Glas zum Toast. »Gute Reise, Zane. Genieß dein neues Leben hinter Gittern!«
Kevin stieß ein langes, zufriedenes Seufzen aus. Das einzige Problem war, dass er suspendiert worden war, obwohl Saltern-Le-Fen gerade einen der größten Kriminalfälle der Geschichte erlebte.
Er stand auf, schlenderte in die Küche, goss sich noch ein Glas ein und beschloss, morgen mit seinem Vorgesetzten zu sprechen. Er musste wissen, wie lange die Suspendierung dauern würde. Er war zwar erst seit ein paar Stunden zu Hause, doch nachdem Zane fort war, konnte er es kaum erwarten, sich wieder in die Arbeit zu stürzen. Der Fall Daniel Kinder war riesig, und er wollte ein Teil davon sein.
Er setzte sich und nippte an seinem Drink, als ihm plötzlich ein Gespräch einfiel, das er vor dem Verlassen der Dienststelle zufällig mitgehört hatte. Zwei Kollegen hatten sich über Drew Wilson und den vereitelten Einbruch unterhalten. Wilson hatte ausgesagt, dass er einen Späher auf das Grundstück geschickt hatte, und nachdem dieser ihm übers Handy das Okay gegeben hatte, war der Rest der Bande nachgerückt.
Kevin blinzelte. Diese Geschichte konnte doch nicht stimmen, oder? Er hatte von der Bushaltestelle aus zwei Männer gesehen. Er schloss die Augen und dachte nach. Die Situation war ihm schon damals seltsam erschienen, doch dann war der Wagen mit den Einbrechern vorgefahren, und er hatte es in dem Tumult schlichtweg vergessen.
Allerdings war das noch lange nicht alles. Einer der Polizisten, die Drew Wilson verhaftet hatten, glaubte, dass Daniel Kinder die Polizei verständigt hatte. Er meinte, gesehen zu haben, wie Kinder heimlich aus dem Garten geschlüpft war.
Kevin versuchte, seine Gedanken mit einem weiteren Schluck Wodka auf Trab zu bringen.
Hatte er von der Bushaltestelle aus tatsächlich Daniel Kinder gesehen? Möglich war es. Die Gestalt hatte dieselbe Größe und denselben Körperbau gehabt. Doch wenn er es gewesen war, dann hatte Kinder gar nicht in Skyes Wohnung geschlafen. Er war unterwegs gewesen und hatte deshalb auch kein Alibi für die Zeit, in der Sue Bannister ermordet worden war.
»Scheiße«, murmelte Kevin. Wie sollte er dem Ermittlungsteam von diesem wichtigen Detail erzählen, ohne sich selbst in Schwierigkeiten zu bringen?
Kevin wanderte im Zimmer auf und ab. Dann kam ihm ein weiterer Gedanke. Falls es sich wirklich um Daniel gehandelt hatte, wo hatte er sich aufgehalten, als die Einbrecher gekommen waren? Wie hatte er es geschafft, nicht mit ihnen zusammenzutreffen und unbemerkt zu entkommen? Als Kevin ihn gesehen hatte, war er gerade auf dem Weg in den Garten hinter dem Haus gewesen.
Kevin runzelte die Stirn. War er in den überdachten Wellnessbereich mit dem Whirlpool geschlüpft? Die im Stil einer rustikalen Blockhütte gebaute Gartenlaube mit Bar, Poolbillardtisch und bequemen Sitzmöbeln hatte nicht auf Zanes Liste mit potenziellen Verstecken von Wertgegenständen gestanden, weshalb sich Drew Wilsons Leute auch nicht dafür interessiert hatten.
Kevins Polizistenspürsinn erwachte. Warum war Daniel Kinder an diesem Abend nach Hause zurückgekehrt? Um die Mordwaffe zu verstecken? Oder seine blutverschmierten Kleider?
Kevin setzte sich wieder und atmete zitternd ein. Er musste die Ermittler informieren, aber wie zum Teufel sollte er das anstellen, ohne seinen Job zu verlieren, der ohnehin bereits am seidenen Faden hing?
Ihm fiel nur eine Lösung ein. Er musste noch einmal zurück und sich die Blockhütte genauer ansehen. Dann wusste er wenigstens mit Sicherheit, ob es die Sache wert war, seine Karriere zu riskieren.
Kevin erhob sich erneut. Es wurde Zeit, wieder in seinen schwarzen Hoodie zu schlüpfen. Er war zwar nicht glücklich darüber, aber wenn er den Mörder dadurch überführen konnte, hatte er keine andere Wahl.
Marie sah sich in Guys Wohnung um, während sie darauf wartete, dass er sein Telefonat beendete. Abgesehen von den Räumen, die sie bereits kannte, gab es noch zwei große Schlafzimmer mit eigener Dusche, ein Badezimmer und ein kleines Büro, dessen Tür offen stand. Darin standen ein Tisch mit Computer und Drucker und noch mehr Umzugskartons.
Marie hoffte, dass Guy sich beeilte. Ungeduldig griff sie nach den beiden leeren Kaffeebechern und trug sie in die Küche. Sie hatte wirklich keine Zeit für so etwas.
Sie fand die Spülmaschine, stellte die Becher hinein und grinste, als sie die vielen anderen Kaffeetassen sah. Guy kochte offenbar wirklich nicht.
Sie sah noch einmal auf die Uhr und beschloss, nicht noch länger auf ihn zu warten. Sie würde ihren Helm nehmen, ihm zuwinken und ihm zu verstehen geben, dass sie sich melden würde, wenn es Neuigkeiten gab.
Als sie aus der Küche trat, steckte Guy gerade das Telefon in seine Hosentasche. Es wirkte besorgt, und sie fragte sich, ob mit dem neuen Projekt alles nach Plan verlief.
»Tut mir leid, dass das so lange gedauert hat. Dem Finanzchef von Frampton ist es offenbar egal, wie spät es ist. Ich schätze, Sie müssen weiter?«
»Ja.« Marie nahm ihren Helm. »Meiner Meinung nach müssen Sie sich keine Gedanken machen, wie Daniel das Gespräch vielleicht interpretiert haben könnte.«
Guy nickte. »Ich weiß es zu schätzen, dass Sie hergekommen sind. Niemand sonst hätte verstanden, warum es mich derart aus der Bahn geworfen hat, als Daniel mich in den Straßengraben stieß.« Er hielt inne. »Aber mit Ihnen kann ich immer reden.«
Marie wandte sich ab. »Kein Problem. Ich rufe Sie an, sobald wir Daniel oder Skye gefunden haben, und Sie melden sich, wenn Sie etwas von den beiden hören, okay?«
»Ja, versprochen.« Guy trat an ihr vorbei zur Tür. »Ich lasse Sie raus. Ich muss zuerst noch den Code eingeben.« Er berührte sanft ihren Arm und ließ die Hand einen Augenblick zu lange liegen. »Und danke für Ihr Verständnis.« Sein Blick wirkte seltsam traurig, als er vor den Ziffernblock der Alarmanlage trat.
Marie beugte sich spontan vor und hauchte ihm einen Kuss auf die Wange. »Sie müssen die Vergangenheit ruhen lassen, Guy. Sie sind ein brillanter Psychologe, aber Sie müssen sich auch um sich selbst kümmern. Wenn alles vorbei ist, sollten Sie Ihre Position in Frampton antreten und ein neues Leben beginnen. Lassen Sie Terence Marcus Austin hinter sich.« In Gedanken fügte sie hinzu: Und mich auch.