Kapitel 26
Jackman stand nervös vor der Tür des Aufwachzimmers. Es dauerte sehr viel länger als gedacht, bis Lisa Hurley endlich ansprechbar war. Der Arzt war bereits zwei Mal bei ihm gewesen, um sich für die Verzögerung zu entschuldigen. Lisa war über den Berg, aber sie hatte die Narkose nicht vertragen und brauchte mehr Nachbetreuung als erwartet.
Es war beinahe Mitternacht, als ihn endlich eine Schwester mit hagerem Gesicht zu sich winkte. »Sie dürfen jetzt zu ihr, Inspector. Aber nur ein paar Minuten. Sie braucht Ruhe, bevor Sie sich länger mit ihr unterhalten.«
Jackman seufzte erleichtert und eilte ins Zimmer. Es würde ohnehin nicht lange dauern. Die Details konnte später ein Kollege aufnehmen, er hatte bloß drei wichtige Fragen.
Er setzte sich auf den Stuhl neben dem Bett.
»Wissen Sie, wer Ihnen das angetan hat, Lisa?«
Die Frau schluckte gequält. »Nein. Er hatte so was an.« Sie deutete auf eine OP -Assistentin, die ein wenig abseits stand und sich angeregt mit einer Schwester unterhielt. »Grüne OP -Kleidung mit Haube und Mundschutz.«
Jackman runzelte irritiert die Stirn. Stand das Krankenhaus wirklich im Zentrum der ganzen Geschichte? »Ist Ihnen vielleicht irgendetwas aufgefallen? Größe, Statur, Augenfarbe? Ein spezielles Rasierwasser?«
»Ich bin um mein Leben gerannt, Inspector. Ich konnte nicht stehen bleiben und mir Notizen machen.« Sie versuchte zu lächeln, doch dann sagte sie seufzend: »Ich war mir sicher, dass Daniel kommen würde. Skye hat mir von den Fugues erzählt und dass er Angst hat, während dieser Phasen gewalttätig zu werden. Kurz darauf habe ich ihn persönlich in einer ähnlichen Starre erlebt, und ich war überzeugt, dass sie sich in großer Gefahr befand. Ich hatte Angst um sie.«
»Also wollten Sie ihm eine Falle stellen …«
»Sie hat mich angerufen und mir gesagt, dass sie für den Videoanruf von Ruby Kinder in die Dienststelle gefahren werden würde. Ich wusste also, dass sie nicht zu Hause war, doch Daniel hatte davon natürlich keine Ahnung. Ich ließ es so aussehen, als würde sie duschen. Und dann wartete ich.«
»Skye ist Ihre Tochter, nicht wahr?«
Lisas Augen weiteten sich. »Woher wissen Sie das?« Ihr Blick huschte erschrocken umher.
»Ganz ruhig, niemand weiß davon. Sie haben es uns selbst gesagt, kurz bevor Sie operiert wurden. Sie hatten Morphium gegen die Schmerzen bekommen, was vermutlich der Grund dafür war.«
»O nein! Ich glaube das einfach nicht. Sie dürfen ihr nichts davon erzählen, Inspector! Sie darf es nicht erfahren. Es würde alles zerstören.«
Jackman sah sich ebenfalls um und hoffte, dass Lisa mit ihrem kleinen Ausbruch nicht zu viel Aufmerksamkeit erregt hatte. »Die Sache geht uns nichts an, Lisa. Wir werden es ihr nicht sagen.« Abgesehen davon, dass ich es gar nicht kann, weil sie verschwunden ist, dachte er missmutig.
Die Krankenschwester warf Jackman einen warnenden Blick zu und hielt drei Finger in die Höhe. Noch drei Minuten.
»Lisa? Hatte der Angreifer einen Verband am Unterarm? Oder eine erst kürzlich genähte Wunde?«
Lisa runzelte die Stirn. »Nein. Ich habe nicht viel gesehen, aber das wäre mir aufgefallen. Der OP -Kittel hatte kurze Ärmel.«
Dann war es also nicht Daniel, dachte Jackman. Aber wer war es dann? Er schloss die Augen und versuchte nachzudenken. Sie mussten Mark Dunand finden. Skye war noch immer verschwunden, und Jackmans Sorge wuchs mit jeder Sekunde.
»Sie sollten sich ausruhen, Lisa. Wir werden uns später noch mal unterhalten, aber jetzt muss ich zurück ins Büro.«
Sie sank ins Kissen. »Eines noch, Inspector.« Ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. »Ich habe versucht, ihn mit einer Gusseisenpfanne niederzuschlagen. Ich habe ihn zwar nur gestreift, aber es muss trotzdem ziemlich wehgetan haben.«
»Wo haben Sie ihn getroffen?«
»Ich habe auf den Kopf gezielt, aber er hat sich bewegt, also weiß ich nicht, wo ich ihn erwischt habe.«
Jackman lächelte beruhigend. »Wir schnappen ihn, Lisa. Und Sie stehen rund um die Uhr unter Polizeischutz, Sie brauchen also keine Angst mehr zu haben. Konzentrieren Sie sich stattdessen darauf, rasch gesund zu werden.«
»Machen Sie sich keine Gedanken um mich. Kümmern Sie sich lieber um Skye.« Lisa schloss die Augen.
Jackman drückte ihre Hand und wandte sich ab. Nachdem er einige Worte mit den beiden Constables gewechselt hatte, die die erste Schicht übernommen hatten, verließ er das Aufwachzimmer und eilte in die Nacht hinaus. Er wählte Maries Nummer und atmete erleichtert auf, als sie schon nach dem ersten Klingeln abhob. Er fasste kurz zusammen, was Lisa ihm erzählt hatte, und fragte anschließend, wie lange Marie brauchen würde.
»Ich fahre gerade bei Guy los. Ich bin in zehn Minuten zurück. Übrigens bin ich mir sicher, dass Guy nichts gesagt hat, das Daniel aus dem Konzept gebracht hat.«
»Okay, Marie. Bis später.«
Jackman legte auf und hastete zu seinem Auto. Er hoffte nur, dass sie Mark Dunand fanden, bevor der Skye fand.
Kevin Stoner stand erneut in der mit Graffiti besprühten Bushaltestelle und beobachtete das Haus der Familie Kinder. Ein Streifenwagen parkte vor der Auffahrt, aber die beiden Beamten machten keine Anstalten auszusteigen.
Er hatte es nicht eilig, denn er wusste, dass er nur eine Gelegenheit bekommen würde und es sich nicht leisten konnte, erwischt zu werden. Falls er belastende Beweise fand, würde er später entscheiden, was er damit tun würde. Im Grunde war er überzeugt davon, die Mordwaffe, blutverschmierte Kleider oder sogar Daniel Kinder selbst zu finden.
Der Streifenwagen würde sicher die ganze Nacht hier stehen, und auch der Weg an der rückwärtigen Grundstücksgrenze wurde überwacht. Er brauchte also eine andere Route.
Er starrte zu den Vorgärten hinüber und überlegte. Es gab nur zwei Dinge, die ihm gefährlich werden konnten, denn gegen einen Hund im Garten oder versteckte Bewegungsmelder konnte er nichts ausrichten. Allerdings hatte er hier noch nie einen Hund bellen gehört, und als Drew Wilson und seine Leute eingebrochen hatten, war nirgendwo ein Licht angegangen. Er musste es also riskieren.
Eine sanfte Kurve verbarg ihn vor den Blicken der Beamten im Streifenwagen, und wenige Sekunden später saß er gut versteckt in einem Gebüsch im Vorgarten zwei Häuser weiter.
Das Glück blieb ihm treu, als er über eine kleine Mauer und durch ein Gebüsch in den Garten nebenan schlüpfte. Das Grundstück der Familie Kinder war mit einem robusten Holzzaun abgetrennt. Er war etwa einen Meter fünfzig hoch, und Kevin konnte gerade darüber hinwegschauen. So bekam er eine ziemlich genaue Vorstellung, wie es auf dem Nachbargrundstück aussah.
Kevin überprüfte die Standfestigkeit des Zauns. Die Besitzer hatten Gott sei Dank auf Qualität gesetzt. Er war schlank, doch das jahrelange Schwimmtraining hatte ihm ziemlich muskulöse Arme beschert. Er holte tief Luft, spannte die Muskeln an, packte die obere Kante des Zauns, zog sich hoch und sprang in einer einzigen fließenden Bewegung hinüber.
Er landete beinahe lautlos auf einem mit Bodendeckern bepflanzten Beet und rannte im nächsten Moment über ein verwahrlostes Blumenbeet auf eine Gruppe dicht beieinanderstehender Bäume zu. Dort sank er auf die Knie und sah sich hastig um.
Das Haus lag vollkommen im Dunkeln, doch die Straßenlaternen erhellten Teile des Gartens, während andere pechschwarz blieben. Kevin bewegte sich im Schatten ums Haus herum, bis er von der Straße aus nicht mehr zu sehen war.
Er war sich ziemlich sicher, dass der hintere Garten unbeobachtet war. Es waren zwar zwei Streifenwagen hier, die sowohl die Vorderseite des Hauses als auch den hinteren Fluchtweg im Blick hatten, und die Beamten gingen auch auf Patrouille, aber der Fluss hinter dem Haus bildete eine natürliche Barriere zum Rest der Stadt, weshalb er nicht überwacht werden musste.
Das schwache Mondlicht half ihm, sich den Weg durch den Garten zu bahnen, und kurz darauf stand er auf der Veranda vor der Blockhütte mit dem Whirlpool.
Kevin schlüpfte in den schmalen Spalt zwischen dem gemauerten Grill und dem Holzlagerplatz und sah sich um. Der Whirlpool befand sich in einer an drei Seiten geschlossenen Blockhütte, die Vorderseite bestand aus einer Schiebetür, die man öffnen konnte, um den Blick auf den Garten freizugeben. Davor befand sich die große Veranda, auf der er im Moment stand. Die Hütte selbst war ans Haus angebaut, und von seinem Versteck aus entdeckte Kevin zwei Türen auf der Hinterseite des lang gezogenen Raumes. Außerdem sah er eine Bar, einen Poolbillardtisch, Barhocker, mehrere Liegestühle, große Topfpalmen und eine weitere Holzkabine, bei der es sich vermutlich um eine Sauna handelte.
Einen schrecklichen Moment lang sah er Zane Prewett und eine vollbusige Frau vor sich, die es im dampfenden Wasser miteinander trieben. Er rührte sich zehn Minuten nicht vom Fleck, doch er sah und hörte nichts.
Auf einer Seite der Blockhütte befand sich eine kleine Tür, die vermutlich unversperrt war. Viele Leute waren sehr nachlässig, was solche Dinge betraf. Er hoffte, dass er das Schloss nicht aufbrechen musste, und hastete über die ausladende Veranda.
Vor der Tür hielt er kurz inne und drückte vorsichtig die Klinke nach unten. Sie gab widerstandslos nach, und Kevin Stoner trat leise in die Blockhütte.