Kapitel 28
Jackman und Ruth Crooke saßen sich schweigend gegenüber. Er hatte ihr alles erzählt, was er bis jetzt wusste, und spürte, wie ihn erneut die Angst packte. Ihrem blassen Gesicht nach zu urteilen, erging es ihr genauso.
Sein Telefon klingelte, und er meldete sich sofort. »Jackman!«
»Ich bin’s, Charlie. Ich habe mit einigen Anwohnern gesprochen und weiß jetzt, wann Marie hier aufgebrochen ist.«
»Stimmt es mit der geschätzten Zeit überein?«
»Ja, in etwa. Mehrere Leute hörten, wie sie losfuhr, und einige haben sich fest vorgenommen, sich morgen bei Dr. Preston über den Lärm zu beschweren.«
Jackmans Augen wurden schmal. »Über welchen Lärm denn?«
»Offenbar hat sie den Motor ordentlich auf Touren gebracht.«
»Und hat jemand wirklich gesehen, wie sie davonfuhr?«
»Ja, Sir. Die letzte Zeugin hat eine Person mit einem dunklen Vollvisierhelm und einer auffallenden grün-weißen Lederjacke beobachtet.«
Jackmans Herz schlug schneller. »Charlie, gehen Sie noch mal zurück zu der Zeugin und fragen Sie sie nach der Hose und den Stiefeln. Jetzt gleich – und legen Sie nicht auf.«
Jackman hörte den keuchenden Atem des jungen Mannes, als er zurückeilte.
Nach ein paar Minuten, die sich wie eine Ewigkeit anfühlten, war Charlie wieder da. »Der Fahrer trug keine Stiefel, Sir, und die Zeugin meinte, eine Jeans oder eine dunkle Hose gesehen zu haben. Keine Lederkluft.«
Jackmans Brust war vor Angst wie zugeschnürt. »Danken Sie ihr und kommen Sie dann so schnell wie möglich wieder hierher. Die anderen sollen in der Nähe bleiben, falls sie gebraucht werden. Aber möglichst außer Sichtweite.«
Er legte auf, doch bevor er Ruth Crooke informieren konnte, läutete das Telefon erneut. Dieses Mal war es Max. »Chef? Ich bin auf dem Rückweg. Es ist tatsächlich Maries Motorrad, aber man hat keine Leiche gefunden«, erklärte er. »Außerdem habe ich die Jungs von der Feuerwehr gebeten, sich das Motorrad genauer anzusehen. Es wurde nicht ins Wasser gefahren, sondern geschoben. Es war kein Gang eingelegt, und der Motor war aus.«
Jackman befahl ihm ebenfalls, so schnell wie möglich zurückzukommen, dann wandte er sich an die Superintendentin. »Wie lange kennen Sie Marie jetzt schon?«
»Ziemlich lange, warum?«
»Haben Sie jemals erlebt, dass sie ihr Motorrad vor dem Start aufheulen ließ und dann wie eine Wilde davonbrauste?«
»Nein.«
»Und wie würden Sie Marie beschreiben, wenn sie mit dem Motorrad unterwegs ist?«
»Groß und schlank, in einer schwarz-grünen Ledermontur, einem Vollvisierhelm und maßgeschneiderten Motorradstiefeln.«
Jackman nickte. »Die Stiefel fallen besonders auf, weil sie mit limettengrünen Reflektoren besetzt sind. Und auch die Lederhose passt zum Outfit. Allerdings hat unsere Zeugin nichts dergleichen gesehen. Ich glaube, Marie hat die Wohnanlage nie verlassen. Sie wurde überwältigt, bevor sie überhaupt bei ihrem Motorrad angekommen war.«
»Dann sollten Sie Ihre beiden Jungs und genügend Verstärkung zusammentrommeln und die Wohnanlage auseinandernehmen.« Ruth Crooke war die Sorge deutlich anzusehen. »Marie ist in großer Gefahr, nicht wahr?«
Jackman erhob sich und nahm seine Stichschutzweste von dem Haken an der Tür. »Ja, genau das glaube ich auch, Ma’am.«
»Ich werde ein bewaffnetes Sonderkommando zusammenstellen.« Sie folgte ihm aus dem Büro und legte plötzlich eine Hand auf seinen Arm. »Sie wissen, wo sie ist, oder? Ich kann es Ihnen ansehen.«
Jackman biss die Zähne aufeinander. »Ja, ich habe eine verdammt gute Vorstellung.«
Marie lag auf Guys Doppelbett. Sie hörte, wie er sich durch die Wohnung bewegte, und die Panik, dass sie sich nicht rühren konnte, war beinahe übermächtig. Guy hatte gesagt, dass die Lähmung nicht lange anhalten würde, und aus irgendeinem Grund glaubte sie ihm. Das musste sie, um nicht den Verstand zu verlieren.
Marie dachte an die dünne Nadel zurück, die plötzlich ihre Haut durchbohrt hatte.
Sie hatte mit Jackman telefoniert und gerade aufgelegt, als Guy sich an ihr vorbeilehnte, um die Tür zu öffnen. Sein Gesichtsausdruck war ihr irgendwie seltsam erschienen, und sie hatte sofort geahnt, dass etwas nicht in Ordnung war.
Im nächsten Augenblick setzten Gefühllosigkeit und Schwindel ein. Sie konnte sich kaum noch bewegen, und kurz darauf war ihr ganzer Körper gelähmt. Sie spürte, wie Guy sie auffing und langsam zu Boden gleiten ließ. Zu ihrem Entsetzen schob er ihre Augenlider auseinander, sodass sie ihn ansehen musste.
»Es tut mir leid, Marie, aber Sie sind eine derart schlaue Polizistin, dass Sie früher oder später eins und eins zusammengezählt hätten.«
Die Worte kamen aus großer Entfernung und verhallten sofort wieder. Stattdessen hatte sie plötzlich ein Rauschen in den Ohren, und Panik und Ungläubigkeit ergriffen von ihr Besitz. Sie konnte sich nicht bewegen, doch sie registrierte alles, was um sie herum passierte. Marie hatte immer schon eine unglaubliche Angst davor gehabt, im OP zu landen und niemandem sagen zu können, dass sie noch wach war. Nun war ihr Albtraum Wirklichkeit geworden.
Sie würde sterben, ohne sich auch nur im Geringsten verteidigen zu können. Doch dann hörte sie erneut seine Stimme.
»Marie, Ihnen wird nichts passieren. Ich weiß, dass es beängstigend ist, aber es ist notwendig, glauben Sie mir.« Guy klang ruhig, vernünftig und seltsam zärtlich. »Ich gebe Ihnen ein Gegenmittel, sobald ich Sie fixiert habe.«
Guy zerrte sie von der Eingangstür fort und den Flur entlang. Dann ließ er sie kurz los, öffnete eine Tür und schleppte sie ins Schlafzimmer. Dabei erklärte er ihr, dass er noch etwas zu erledigen habe.
»Das Medikament lähmt weder Herz noch Lunge, während ich weg bin. Es ist nicht tödlich. Es werden lediglich sämtliche aktiven Bewegungen unterdrückt, ohne dass der Patient das Bewusstsein verliert. Sie werden nicht daran sterben, Marie. Das einzige Problem wäre, wenn mir etwas zustößt, denn wenn ich zu lange fort bin, stellt Ihr Zwerchfell die Arbeit ein, und das wäre fatal.«
Er zerrte sie auf das Bett.
»Tut mir leid«, keuchte er und zog ihr die Lederjacke aus. »Ich muss noch ein paar Kleinigkeiten erledigen, dann können wir reden.« Er stand auf und betrachtete sie traurig. »Denn das müssen wir unbedingt, Marie.«
Er schlüpfte mit einem Arm in die Jacke und grinste. »Gott sei Dank sind Sie keine Bohnenstange. Sie ist zwar ein bisschen eng, aber ich passe gerade noch rein.« Er rückte die Jacke zurecht, dann sagte er: »Entspannen Sie sich! Ich bin gleich wieder da.«
Als Marie hörte, wie ihre kostbare Kawasaki aufheulte, ahnte sie, was er vorhatte, und verfluchte ihn aus ganzem Herzen.
Eine halbe Stunde lang lag sie regungslos auf dem Bett und versuchte, ruhig zu bleiben und sich einzureden, dass sie nicht sterben würde. Er hatte es ihr versprochen. Sie musste sich bloß einen Ausweg aus dieser hoffnungslosen Situation überlegen.
Waren seine Gefühle für sie auf schreckliche Weise eskaliert? Oder war Guy der gesuchte Mörder? Was hatte er damit gemeint, dass sie früher oder später eins und eins zusammenzählen würde?
Sie konnte sich Guy Preston nicht als kaltblütigen Killer vorstellen. Sie hatte ihn arbeiten gesehen, und er war ein mitfühlender, engagierter und verständnisvoller Arzt. So etwas brachte ein Serienmörder doch nicht fertig, oder? Vielleicht schützte er jemanden. Aber wen? Und falls es so war, wie konnte er ihr so etwas Schreckliches antun?
Aber wen versuchte sie hier zu verarschen? Wenn Guy es fertigbrachte, Marie in ihrem eigenen Körper gefangen zu halten, obwohl er ganz offensichtlich sehr viel für sie empfand, wozu war er dann bei einer vollkommen Fremden fähig?
Bei diesem Gedanken hätte sie beinahe erneut die Panik übermannt, doch das durfte sie auf keinen Fall zulassen. Sie bemühte sich, ihre innere Ruhe wiederzufinden, und dachte an Jackman, um sich ein wenig abzulenken. Wäre sie nicht am ganzen Körper gelähmt gewesen, hätte sie gelächelt. Ihr Vorgesetzter war der ehrlichste Mensch, den sie kannte, und abgesehen von ihrem Mann auch der aufrichtigste und unverfälschteste Polizist, mit dem sie jemals zusammengearbeitet hatte. Trotz seiner teuren Universitätsausbildung und des reichen Elternhauses hatte er ihr nie das Gefühl gegeben, weniger wert zu sein. Im Gegenteil. Sie fühlte sich als Kollegin wertgeschätzt, und das kam selten genug vor.
Trotzdem wusste Marie mit Sicherheit, dass sie nicht verliebt in Jackman war. Ihre einzige große Liebe war und blieb Bill, doch von allen Menschen auf der Welt war Jackman der Einzige, der ihr jetzt vielleicht noch helfen konnte. Er würde sie aufspüren. Er würde irgendwie herausfinden, dass Preston hinter ihrem Verschwinden steckte. Sie hoffte nur, dass es nicht zu lange dauern würde.
Sie schickte Jackman einen stummen Hilfeschrei. Sie hatte nicht mehr viel Zeit, denn selbst wenn das Medikament nicht tödlich war – Preston würde nach dem Gespräch sicher nicht lange zögern und sie ebenfalls umbringen.
Marie lag in ihrem regungslosen Körper gefangen auf dem Bett und musste mit anhören, wie Preston mit Jackman telefonierte. Er hatte auf Lautsprecher gestellt, und sie hörte Jackmans Stimme, aber sie war nicht fähig, um Hilfe zu rufen.
Marie spürte, wie die Wut in ihrem zu Eis erstarrten Körper zu brennen begann, und die Hitze war beinahe stark genug, um ihre gefrorenen Glieder aufzutauen. Sie wünschte, sie hätte Terence Marcus Austin damals nicht an seinem Vorhaben gehindert. Sie bereute es zutiefst, Preston das Leben gerettet zu haben, denn offensichtlich hatte er sich in einen Psychopathen verwandelt, der sehr viel schlimmer war als seine Patienten. Sie versuchte nicht, die Wut zu besänftigen – womöglich half sie ihr am Ende, das hier zu überleben.
»Tut mir leid, dass das so lange gedauert hat.« Guy Preston trat ins Zimmer und stellte ein Tablett mit mehreren Spritzen auf der Schlafzimmerkommode ab. »Es wird langsam Zeit, dass wir dich aus der Starre erlösen.« Er war mittlerweile zum Du übergegangen.
Preston arbeitete schnell und präzise. Er fixierte Maries Arme und Beine mit dicken, weichen Gurten am Bett und legte einen noch breiteren Gurt um ihren Bauch. Danach injizierte er ihr den Inhalt der ersten Spritze. »Es ist ziemlich beängstigend, aber versuche bitte trotzdem, dich zu entspannen. Es ist gleich vorbei.«
Er hatte kaum die Nadel aus dem Arm gezogen, als ihr Herz zu rasen begann. Es war beinahe genauso Furcht einflößend wie die Starre zuvor.
»Ruhig!«
Doch Guys Stimme beruhigte Marie nicht im Geringsten. Sie würde sterben, und diesem Mistkerl war es vollkommen egal! Was auch immer er ihr gegeben hatte – ihr Atem ging keuchend, und ihr Herz raste. Ihr war klar, dass ihr Körper diesem Druck nicht lange standhalten würde. Bis zu Bills Tod hatte sie sich kaum Gedanken über das Sterben gemacht, doch danach hatte sie häufig darüber nachgedacht. Aber sie hatte sich genauso häufig über das Leben Gedanken gemacht. Und gerade jetzt war es besonders wichtig, dass sie am Leben blieb, denn dieses Monster – dieser kaltherzige Mörder, der sich ihr als ergebener Freund genähert hatte – musste ein für alle Mal hinter Gitter wandern.
»Beruhige dich! Ich sagte doch, dass es vorübergeht.« Er griff nach ihrem Handgelenk und maß den Puls. »Der Hemmstoff ist eine Neuentwicklung. Er arbeitet schnell, ist aber noch nicht ganz ausgereift.« Er trat einen Schritt zurück. »Vermutlich wirst du noch eine Zeit lang unter Muskelkrämpfen und Übelkeit leiden, aber dein Blutdruck sinkt bereits.«
Er hatte recht. Marie hatte zwar immer noch das Gefühl, einen Schlagbohrer in der Brust zu haben, aber es war nicht mehr so beängstigend. Sie atmete zitternd ein und öffnete den Mund, um etwas zu sagen.
Guy legte ihr einen Finger auf die Lippen. »Nicht reden. Konzentriere dich auf deine Atmung und versuche, dich zu entspannen.«
»Wie kannst du es wagen! Du verdammter Mistkerl!«, krächzte sie. Ihr Mund und sämtliche Gesichtsmuskeln schmerzten höllisch.
»Ist schon gut. Deine Wut überrascht mich nicht.« Er sah sie mit seinem typischen Dackelblick an. »Ich habe es nur getan, weil ich dir nicht wehtun wollte. Ich konnte dich einfach nicht niederschlagen.«
»Aber das hier konntest du sehr wohl«, brachte sie mühsam hervor. »Hättest du mich doch geschlagen. Das hätte ich verstanden. Aber dass du mir so etwas Schreckliches, Abscheuliches antust … Das ist Missbrauch, Guy! Damit hast du sämtliche Grenzen überschritten!«
»Es tut mir leid, dass du es so empfindest. Ich dachte, du würdest es verstehen oder wärst sogar …«
»Was? Dachtest du, ich wäre dir dankbar? Du kranker Huren…« Sie kämpfte gegen die Fesseln an, doch ihre Muskeln verkrampften sich sofort. »Hast du eigentlich eine Ahnung, wie es ist, in seinem eigenen Körper gefangen zu sein und sich nicht wehren zu können?«, schrie sie, und Tränen stiegen in ihre brennenden Augen, während sie sich erneut gegen die Fesseln stemmte.
»Bitte hör auf. Die hier tun mir wirklich leid.« Er deutete auf die Fesseln. »Wir benutzen sie in der Elektroschocktherapie, damit sich der Patient während der Behandlung nicht verletzt.« Er lächelte reumütig. »Aber in diesem Fall sind sie zu meiner Sicherheit, nicht zu deiner.«
»Und zwar zu Recht, verdammt noch mal!«
Guy blickte auf sie herab, dann setzte er sich auf die Bettkante und rückte neben sie. Er stieß ein mitleiderregendes Wimmern aus. »Hilf mir, Marie, ich weiß nicht, was ich tun soll.«
Maries Wut wich Bestürzung. Sie musste vorsichtig sein. Alles, was sie sagte, konnte seine Psychose verstärken. Seine innere Anspannung war beinahe körperlich spürbar.
Sie sah ihn an. Jetzt war sie die Therapeutin, und sie musste genauso gut sein, wie Professor Guy Preston es früher einmal gewesen war. Sie hatte zwei wichtige Pluspunkte gesammelt. Zum Ersten war sie immer noch am Leben, und zum Zweiten hatte er sie um Hilfe gebeten.
Marie rang sich ein Lächeln ab, obwohl ihre Lippen nach wie vor taub waren. »Willst du reden, Guy? Ich kann im Moment sowieso nirgendwohin.«
Guy Preston legte eine Hand auf ihre, und Marie sah die unglaubliche Traurigkeit in seinem gezeichneten, aber immer noch attraktiven Gesicht.
Guy betrachtete nachdenklich die vernarbte Haut auf seinem Handrücken. »Kurz nachdem Terence Martin Austin versucht hatte, mich zu töten, wurde mir plötzlich einiges klar.« Er sah Marie einen Moment lang an, dann fuhr er fort: »Ich kann dir gar nicht sagen, wie oft ich mir gewünscht habe, du hättest mir nicht das Leben gerettet. Ich hätte an diesem Tag sterben sollen, Marie. Er hätte mir den Kugelschreiber direkt in die Halsschlagader rammen sollen.«
Er streichelte sanft ihre Hand.
»Ich sah ihm in die Augen, als er sich auf mich stürzte. Ich hatte jahrelang mit Mördern zusammengearbeitet, aber Terence Austin war anders.« Er seufzte. »Ich hatte oft eine tiefe Leere in den Augen meiner Patienten gesehen. Schwarze Löcher statt einer menschlichen Seele. Ich hatte hartherzige Gleichgültigkeit gesehen und manchmal auch das personifizierte Böse. Ich hatte mit Gefangenen geredet, denen der Mord an einem Menschen nichts bedeutete. Sie hatten behauptet, es wäre ganz einfach gewesen. Aber in Austins Augen war etwas, das ich in all den Jahren, in denen ich Mörder und Mörderinnen studiert hatte, noch nie entdeckt hatte. Ich sah eine Verbindung. Ich kann es nur so beschreiben. Eine Verbindung zwischen Austin und dem Tod. Er existierte bloß für diesen einen Moment. Er hatte die vollkommene Kontrolle über Leben und Tod, und es zählte nur der Augenblick, in dem ein Leben durch sein Tun endete. Das war der Grund, warum er immer weiter mordete.«
Marie hatte Terence Austin ebenfalls tief in die Augen gesehen, doch für sie war er nur ein berechnendes Raubtier gewesen. Sie warf einen Blick in Guys gequältes Gesicht und beschloss, ihre Gedanken für sich zu behalten. Stattdessen sagte sie: »Ich verstehe nicht ganz, worauf du hinauswillst.«
Guy runzelte die Stirn. »Es ist tatsächlich sehr komplex. Vor allem für einen Laien.« Er lächelte geduldig. »Aber ich werde versuchen, es dir zu erklären. Es gibt höhere mentale Prozesse, die uns allen zu eigen sind, und einer davon ist die Empathie. Wir identifizieren uns mit anderen und erleben ihre Gefühle – Wut, Angst, Freude –, als wären sie unsere eigenen. Und das stärkste von allen ist das Gefühl des Todes, verstehst du?«
Marie überlegte, dann fragte sie: »Als würde man sich einen Horrorfilm ansehen?«
»Ja, genau. Wir sind fasziniert von der Darstellung des Todes und des Sterbens in Filmen und Dokumentationen. Es ist auf seltsame Weise fesselnd und kann als vollkommen normale menschliche Verhaltensweise angesehen werden. Wir verrenken uns den Hals, wenn wir an einer Unfallstelle vorbeikommen, besuchen Konzentrationslager und den Ground Zero und stehen stundenlang in der Schlange, um die plastinierten Leichen in den ›Körperwelten‹ zu sehen.« Guy wanderte gestikulierend im Zimmer auf und ab. »Diese Faszination verspüren wir alle. Wir haben seit jeher Angst vor dem Tod, fühlen uns aber gleichzeitig magisch von ihm angezogen. Vor allem von dem Moment, in dem die Seele den Körper verlässt.«
»Du meinst den Zeitpunkt des Todes?«
Guy seufzte. »Genau. Ich habe mich intensiv mit diesem Thema auseinandergesetzt, aber ich verstand es erst, als ich Austin in die Augen schaute. Einen Augenblick lang war er vollkommen eins mit dem Tod. Es entstand eine Verbindung, und alle menschlichen Emotionen verschwanden. Es war ein einzigartiger, lebensverändernder Moment.«
Marie hatte genug gehört, doch sie musste Zeit gewinnen. Sie musste Guy bei Laune halten. »Hast du Austin im Gefängnis besucht?« Ihre Stimme klang noch immer rau, und ihr Hals brannte.
Guy nickte. »Sehr oft sogar. Die Verbindung zu Austin war stärker als die zu dir.« Er lächelte beinahe entschuldigend. »Er hat dich gehasst, weißt du?«
Nicht so sehr wie ich ihn, dachte Marie finster.
»Weil du dich ihm in den Weg gestellt hast.«
»Was du nicht sagst«, erwiderte sie röchelnd. Im nächsten Moment zog sich ihre Wade krampfhaft zusammen, und sie schrie vor Schmerz auf.
Guy massierte ihr Bein, bis der Schmerz nachließ. »Besser?«
Sie nickte. »Danke.«
Plötzlich erschien alles so surreal, dass Marie am liebsten laut aufgelacht hätte. Aber sie durfte auf keinen Fall den Verstand verlieren. Sie hatte vorhin eine weitere Spritze auf dem Tablett entdeckt. Sie war groß – und randvoll.
Guy sprach weiter: »Ich habe lange mit Austin darüber gesprochen, was ich in seinen Augen gesehen hatte. Danach begann er, sich mir anzuvertrauen.« Er neigte den Kopf zur Seite. »Es war Austin, der mir vorschlug, mich mit Françoise Thayers Fall vertraut zu machen. Er meinte, sie hätte ebenfalls diese ›wahre Verbundenheit‹ gespürt, wie er es nannte. Sie war genau wie er.«
Marie nickte, obwohl die Frustration immer größer wurde. Warum hatte dieser sogenannte Experte nicht gemerkt, dass Austin mit ihm spielte? Er hatte Guy vorgeblich tiefe Einblicke in die Welt des Todes verschafft, obwohl er letztendlich nur das getan hatte, was alle Serienmörder nun mal so wahnsinnig gerne taten: Er hatte sein eigenes krankes Ego gefüttert.
»Ich hatte keine Ahnung, wie sehr er dich beeinflusst hat, Guy«, sagte sie. »Es tut mir wirklich leid.«
»Ich würde dir gern sagen, dass es nicht deine Schuld war, aber das war es.« Guy betrachtete Marie mit einem seltsamen Blick. »Ich war beinahe enttäuscht, dass er mich nicht getötet hatte. Dieser eine Blick in seine Augen war so mächtig, dass er mein Schicksal besiegelte. Und ich wollte ihn noch einmal sehen.«
»Ich weiß nicht, was ich sagen soll.« Und das war die Wahrheit.
»Du und ich haben oft darüber gesprochen, was damals in dem Verhörzimmer passiert ist, und ich wollte dich immer fragen, ob du es vielleicht auch gesehen hast.«
»Ich bin Polizistin, Guy. Ich habe gesehen, dass die Situation eskaliert, und instinktiv gehandelt, um dich zu beschützen. Etwas anderes war da nicht.«
Guy stand auf, schüttelte das Kissen neben ihr auf und legte sich dann zu ihrer Überraschung neben sie. Er verschränkte die Finger mit ihren und seufzte behaglich. »Du darfst bitte nicht glauben, dass ich nicht schätze, was du getan hast. Es gab sehr wohl Tage, an denen ich so beschäftigt war, dass ich Terence Marcus Austin beinahe vergaß. Ich war wieder frei und funktionierte immer noch – und zwar seltsamerweise recht gut.« Er rückte näher, und Marie versuchte, nicht zurückzuzucken.
»Aber du weißt, wie es läuft, wenn man von etwas besessen ist, nicht wahr? Einmal an der Flasche riechen, eine kleine Menge der vertrauten Droge, und alles ist wieder beim Alten. Das Problem war, dass ich diesen Blick nie wieder sah. Egal, mit wie vielen Mördern ich sprach, keiner von ihnen hatte dasselbe wie Austin.«
Also hast du dich auf die Suche begeben.
Endlich begriff Marie. Guy wollte diesen Blick nicht nur bei einem anderen sehen. Er wollte es selbst spüren, ein Teil davon werden. Er hatte sein ganzes Berufsleben mit dem Tod und den Menschen gearbeitet, die fremdes Leben auslöschten, aber er war immer ein Außenseiter geblieben. Er hatte es nie wirklich selbst gespürt. Es waren immer nur Vermutungen gewesen, und das reichte ihm mit der Zeit nicht mehr. Nachdem er Terence Marcus Austins Verstand bei der Arbeit beobachtet hatte, wollte er es von Grund auf verstehen. Er wollte es leben.
»Und hast du gefunden, wonach du gesucht hast?«, fragte sie.
»Nein.«
Das war also der Grund für seine unendliche Traurigkeit. Er hatte für nichts und wieder nichts getötet. Das Gefühl, nach dem er suchte, gab es nicht. Es war, als wäre jemand in die Bank von England eingebrochen und hätte festgestellt, dass der Tresor leer ist.
»Die Erste – Julia Hope, die Krankenschwester – war ein Unfall.«
Seine Stimme klang ausdruckslos, obwohl dieses Geständnis Maries Todesurteil gleichkam. Er würde sie danach wohl kaum wieder gehen lassen.
»Wir kannten uns etwas über einen Monat, als mir klar wurde, dass sie Anzeichen einer schweren psychotischen Störung zeigte. Ich wollte, dass sie sich zur Diagnosestellung einweisen lässt. Ich wusste, dass sie es nicht gerade gut aufnehmen würde, aber ich war mir sicher, dass sie die Wahrheit ertragen konnte.« Er seufzte. »Aber das tat sie nicht. Ich versuchte, sie zu beruhigen, aber sie ist ausgeflippt und auf mich losgegangen. Ich habe sie fortgeschubst, und sie hat sich den Kopf angeschlagen.«
»Aber sie war nicht sofort tot, oder?«
Guy lächelte und drückte liebevoll ihre Hand. »Du hast mich schon immer verstanden, Marie. Nein, du hast recht, sie war nicht sofort tot. Aber als ich das viele Blut sah, erkannte ich, dass das meine Chance war, dasselbe wie Austin zu fühlen, und ich fragte mich, ob ich vielleicht …«
Sie spürte, wie er erschauderte.
»Als sie schließlich tot war, erkannte ich, dass ich es vollkommen falsch angegangen war. Als Terence Austin mich angegriffen hatte, war er ruhig und beherrscht gewesen, während ich in einen regelrechten Rausch geraten war.« Er stieß ein kurzes Lachen aus. »Nachdem ich sie in dem verlassenen Pub entsorgt hatte, wurde mir klar, dass ich es noch mal versuchen musste. Es gab kein Zurück. Ich hatte nichts zu verlieren, und ich wollte diese Verzückung selbst erleben.«
»Also hast du es so inszeniert, als hätten wir einen Serienmörder bei uns in der Gegend«, fragte Marie und kam sich vor, als hätte sie selbst den Verstand verloren. Immerhin war Guy tatsächlich ein Serienmörder. Er sah sich bloß nicht als solcher.
»Genau! Und seltsamerweise lernte ich ausgerechnet jetzt zahllose labile Frauen kennen, die auf meine private Expertise Wert legten und mich für meine immer offen stehende Tür, meine Gabe als guter Zuhörer und natürlich auch für meinen nie enden wollenden Nachschub an Antidepressiva liebten.«
»Toll, wenn man eine so große Auswahl an möglichen Opfern hat«, murmelte Marie. »Und nachdem du dein Leben lang das Verhalten von Mördern – und insbesondere Françoise Thayer – studiert hast, hast du die Tatorte eigens für uns inszeniert, habe ich recht?«
Guy stützte sich auf den Ellbogen ab. Er sah sie freudestrahlend an. »Kannst du dir vorstellen, wie überrascht ich war, als Ruth Crooke mich als Experten ins Team holte?« Er lachte. »Es war so absurd! Sie wollte meine Einschätzung zu zwei Morden, die ich selbst begangen hatte. Und dann war da auch noch der verwirrte junge Mann, der sich einbildete, Françoise Thayers leiblicher Sohn zu sein und einen Mord begangen zu haben!« Er schüttelte ungläubig den Kopf. »Es war wie eine makabre Farce.« Sein Gesicht wurde ernst. »Allerdings wusste ich zu dem Zeitpunkt bereits, dass ausgerechnet du der ermittelnde Detective Sergeant sein würdest. Ab diesem Moment ging alles schief, und nun weiß ich nicht mehr, was ich tun soll.« Er sah sie nachdenklich an und strich mit dem Handrücken über ihre Wange. »Und zwar mit dir.«
Jackman, Max und Charlie standen schweigend im Schatten und warteten. Als Ruth Crooke Jackman vorhin gefragt hatte, ob er Maries Aufenthaltsort wisse, hatte er plötzlich Guy Prestons Stimme am Telefon gehört. Der Psychologe hatte großen Wert darauf gelegt, dass Jackman glaubte, Marie wäre bereits gefahren. Plötzlich klang alles, was er von sich gegeben hatte, irgendwie falsch. Das Armband, der mögliche Unfall mit dem Motorrad – das alles hatte nur Jackman ablenken sollen.
Preston war seit Jahren von Marie besessen. Jackman biss sich auf die Lippe. War er nun einen Schritt weiter gegangen? Oder hatte er noch sehr viel Schlimmeres getan?
Sie hatten sich in einer öffentlichen Gartenanlage vor Hanson Park mit einem Team uniformierter Polizisten getroffen, und das bewaffnete Sonderkommando strömte leise aus seinen zwei Vans, um in der Gasse hinter dem Wohnkomplex Aufstellung zu nehmen.
Sie hatten alle solche Angst um Marie, dass sie am liebsten die Tür eingetreten, die Wohnung gestürmt und sie befreit hätten, doch die Erfahrung riet ihnen, extrem vorsichtig zu sein. Immerhin wussten sie nicht, was sie erwartete. Eine falsche Bewegung, und es würde Maries letzter Fall sein – wenn er das nicht schon längst war. Sie waren sich nur allzu bewusst, dass sie womöglich keine Gefangene, sondern nur noch eine Leiche finden würden.
»Wo genau befindet sich Prestons Wohnung?«, fragte Max leise.
Charlie lehnte sich vor und schlug den Gebäudeplan auf. »Es ist die Wohnung mit Garten am Ende des langen Flures. Es gibt einen zweiten Ausgang – eine Terrassentür, die nach hinten hinausführt.«
»Die uniformierten Kollegen sind bereits dort.« Jackmans Mund war staubtrocken. Alles schien eine Ewigkeit zu dauern, und sie hatten nicht mehr viel Zeit. Es zählte jede Sekunde.
»Wir sind so weit, Inspector.« Der Gruppenleiter der uniformierten Beamten berührte seinen Arm. »Die bewaffneten Kollegen sind alle auf ihren Posten.«
Jackman starrte suchend in die Dunkelheit. Die schwarz gekleideten Männer waren kaum zu sehen und hatten ihre Gewehre auf Prestons Fenster gerichtet.
Drei Beamte mit dicken, schusssicheren Westen, Helmen und den Waffen unter dem Arm traten neben ihn.
Jackman nickte. »Okay. Los geht’s!«