Kapitel 29
Guy Preston hatte sich ans Fußende des Bettes gesetzt. Er wirkte müde und ausgezehrt. »Ich nehme an, es wird nicht mehr lange dauern, bis dein Inspector mit seinem weißen Pferd angeritten kommt.«
»Das kann ich mir nicht vorstellen. Er hat keine Ahnung, dass du in die Sache verwickelt bist.« Marie versuchte, möglichst überzeugend zu klingen. »Er schätzt deine Meinung sehr. Er hat viele deiner Aufsätze und Artikel gelesen, und er bewundert deine Arbeit. Er glaubt genauso wenig, dass du etwas mit den Morden zu tun hast, wie ich bis jetzt.«
»Bis du das Messer in der Spülmaschine entdeckt hast.«
Natürlich! Sie hätte am liebsten laut aufgelacht. Sie hatte das Messer zwar gesehen, sich aber nichts dabei gedacht. Obwohl sie es hätte tun sollen. Ein Mann, der nie kocht, braucht kein professionelles Filetiermesser. Sie versuchte, möglichst ruhig zu klingen. »Weißt du was, Guy? Es wäre mir nie in den Sinn gekommen, was es damit auf sich hat.«
»Lüg mich nicht an, Marie! Du konntest es kaum erwarten, von hier fortzukommen – und zwar erst, nachdem du die Becher in die Spülmaschine gestellt hattest.«
»Du irrst dich, Guy. Ich wollte mich bloß wieder auf die Suche nach Daniel und Skye machen. Ich drehe nicht gerne Däumchen, wenn Arbeit ansteht.«
Guy rieb sich die Augen. »Na gut, aber ich bin mir sicher, du hättest noch vor morgen früh die richtigen Schlüsse gezogen. Ich wusste von Anfang an, dass ich dich nicht lange hinters Licht führen können würde. Ich schätze, es wird langsam Zeit.«
Marie warf einen Blick auf die Spritze. »Ist die für mich? Oder für dich?«
Er holte tief Luft. »Es wird nicht wehtun und geht sehr schnell. Das ist meine letzte Chance, das weiß ich bestimmt. Und dieses Mal wird es klappen. Wenn ich dich töte, werde ich fühlen, was Terence Austin gefühlt hat. Nach all den Jahren, in denen ich im Dunkeln getappt bin, werde ich es endlich verstehen.« Sein Blick wurde intensiver. »Wir stehen uns sehr nahe, und ich bin mir sicher, dass das wichtig ist. Du warst immer in Gedanken bei mir, Marie. Selbst als ich oben im Norden war, konnte ich dich nicht vergessen. Nicht einmal, nachdem ich Sara geheiratet hatte.« Er zuckte mit den Schultern. »Ich mochte sie, weil sie intelligent und akademisch gebildet war. Aber da war nie diese tiefe Zuneigung, die ich für dich empfinde.«
»Wie ist sie gestorben?« Marie traute sich kaum, die Frage zu stellen.
»Wie gesagt: Ich habe sie wegen ihres Intellekts geheiratet.« Er lachte bitter. »Aber sie erkrankte an einer frühzeitigen Form von Alzheimer. Das nennt man Karma, nicht wahr?«
»Hast du sie auch umgebracht?«
»Ich habe mit dem Gedanken gespielt. Zu ihrem Wohl und zu meinem, aber sie kam mir zuvor. Sie lief vor einen Traktor mit einem Anhänger voller Zuckerrüben.«
»Das ist ja schrecklich.«
»Ja, aber noch schlimmer war es für den Fahrer. Der arme Mann. Er war nach dem Unfall monatelang bei mir in Behandlung.«
Marie fühlte sich wie Alice im Wunderland bei einem gemütlichen Plausch mit dem verrückten Hutmacher – der Dreifachmörder als Menschenfreund.
»Aber die Zeit verrinnt. Ich muss jetzt eine letzte Entscheidung treffen, denn ich will nicht, dass der unglaublich intelligente DI
Rowan Jackman sie für mich trifft.« Guy stand auf und ging zur Kommode, dann kehrte er mit dem Tablett zum Bett zurück und setzte sich wieder. »Glaubst du mir, wenn ich dir sage, dass ich das hier nicht so geplant hatte, Marie?«
»Ich weiß, dass du es nicht getan hast. Und es muss auch nicht so kommen.«
Guy lachte leise. »O doch.«
Die Zeit wurde langsam knapp, und Marie war klar, dass sie nicht genug getan hatte, um ihr Leben zu retten.
Jackman! Wo sind Sie?
»Darf ich dir eine Frage stellen?«
Guy hielt den Blick auf die Spritze gerichtet und nickte.
»Liebst du mich?«
Guy nickte erneut.
»Dann lass mich am Leben. Bleib mir als guter Mensch in Erinnerung. Als Freund und Arzt, der so vielen Menschen geholfen hat.«
»Du hast Terence Marcus Austin am Morden gehindert, und jetzt versuchst du es bei mir?«
In diesem Moment verlor Marie die Nerven. »Ach, verdammt noch mal! Dann bring mich eben auch um, wenn du es unbedingt tun willst! Aber ich kann dir versichern, dass du auch dieses Mal enttäuscht sein wirst. Du wirst nie das fühlen, was Terence Austin gefühlt hat. Niemals! Denn du bist kein geborener Mörder – egal, was du getan hast. Im Gegensatz zu Austin. Er war ein Tier, das Kinder und Erwachsene gleichermaßen niedermetzelte. Er war so kalt wie der Tod. Er hatte kein Herz, Guy, aber du schon. Du hast die Fähigkeit zu lieben. Du wirst keinen Moment der Erleuchtung erleben, keine mystische Verbindung, weil es die einfach nicht gibt! Wenn ich könnte, würde ich dir raten zu fliehen, bevor Jackman herausfindet, was hier los ist«, sagte sie beinahe wehmütig. »Aber das kann ich nicht. Ich kann nicht zulassen, dass du noch mehr Leben in Gefahr bringst. Du hast mich um Hilfe gebeten, und die bekommst du auch. Es tut mir leid, Guy, aber entweder du tötest mich, oder du rufst Jackman an und wir warten gemeinsam, bis er hier ist.«
Er erhob sich ungelenk und bewegte sich mit der Spritze in der Hand auf sie zu.
Aus irgendeinem Grund hatte Marie keine Angst. Sie hatte ihr Schicksal akzeptiert. Vielleicht war ihre Zeit gekommen. Wenigstens würde sie Bill wiedersehen.
Sie blickte Guy Preston in die gequälten Augen, und ihr wurde klar, welchen Schaden die Arbeit mit diesem bösartigen Mörder bei ihm angerichtet hatte. Marie schenkte Preston ein Lächeln, wie sie es sonst nur für gute Freunde übrighatte. »Es ist in Ordnung, Guy. Ich weiß, dass du die richtige Entscheidung treffen wirst.«
»Das werde ich, Marie, denn es gibt noch eine dritte Möglichkeit.« Er beugte sich vor und küsste sie sanft auf die Lippen, dann trat er einen Schritt zurück und rammte sich die Nadel in den Oberschenkel.
»Nein!«, schrie Marie. »Nein! Doch nicht so! Guy!«
Sein Blick war ernst, als er den Kolben nach unten drückte. »Du hast gewonnen, Marie. Jackman sagte, du hättest immer recht.«