Ein Foto, das anonym an die Polizei geschickt wurde, bedeutete in mehrerlei Hinsicht schlechte Neuigkeiten.
Ein »Das Glas ist halb voll«-Typ würde es einfach als Beweis meiner Unschuld betrachten. Der wahre Mörder muss draußen vor Virgils gesessen haben, sah mich rauskommen und schoss mit seiner Handykamera ein Foto von mir, bevor er hineinging und im Bewusstsein, ein wasserdichtes Alibi zu haben, Virgil Rowe erwürgte. Und es war nicht nur das Foto eines anderen, sondern noch dazu das des ultimativen Sündenbocks – ein Bulle bei der Arbeit.
Glas halb leer? Ich schlug Virgil Rowe tot, verließ den Tatort und konnte mich nicht erinnern, es getan zu haben. Vielleicht saß ein Pärchen in seinem Wagen – zum Beispiel bei einem Rendezvous, wer weiß? –, und sie machten eine Aufnahme und erkannten mich später in den Nachrichten wieder. Stellten fest, dass ich ein Bulle war, und kriegten Schiss. Lieferten das Bild anonym ab.
Ich versicherte Remy, dass ich ihr alles erklären würde, und wir verabredeten einen Treffpunkt außerhalb der Stadtgrenze. In direkter Nähe zum Landing Patch.
Ich versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen, fühlte mich aber plötzlich entsetzlich elend. Ich warf einen Blick in den Spiegel und sah meine blutunterlaufenen Augen. In den vergangenen zwei Tagen hatte ich nur sechs Stunden geschlafen.
Am späten Nachmittag war ich raus aus Shonus County, doch der Schweiß suppte mir den Kragen hoch.
sagte Purvis.
Ich blickte über die Schulter nach hinten zu meiner Bulldogge.
Weitere fünf Minuten vergingen, und mein Zustand wurde schlimmer. Die Lichter der anderen Autos verwandelten sich in verschwommene, wie Diamanten geformte Flecken.
Ich schaute in den Rückspiegel. Die Limousine fuhr seit fünf Minuten direkt hinter mir. Sie hatte eckige Scheinwerfer und lag ungefähr zehn Wagenlängen zurück.
Meine Kehle war ausgedörrt, und mir war übel. Das Lenkrad lag schwer wie ein Mühlstein in meiner Hand.
Ich senkte den Blick und sah, dass ich mit lediglich fünfundvierzig Meilen pro Stunde unterwegs war. Irgendwie war die Limousine noch immer dort hinten. Im gleichen Abstand.
»Neuer Plan«, murmelte ich und änderte meinen Kurs. Ich nahm einen anderen Weg und fuhr von Süden über die -32 nach Mason Falls hinein.
Ich hatte das Gefühl, dass irgendwas in mir drinsteckte, aber das Einzige, was ich zu mir genommen hatte …
Der Kaffee.
War Hester zu einem solchen Übergriff fähig?
Ich rief mir das Dienstmädchen in Erinnerung. Die kräftigen Arme. Ihre hochgewachsene Statur und das platte Gesicht. War es möglich, dass sie mit Donnie Meadows verwandt war? Abe hatte gesagt, das Herrenhaus der Hesters sei als Adresse eines Angehörigen verzeichnet. Ich hatte ihn nicht gefragt, welches Familienangehörigen. Könnte die Frau Donnie Meadows’ Mutter gewesen sein?
Ich überlegte, wem im Dezernat ich sonst noch vertrauen konnte, und wählte die Nummer von Sarah Raines.
»Hey, wie geht’s Ihnen?«, fragte sie mit fröhlicher Stimme.
»Jemand hat mir Drogen verabreicht, Sarah. Ich kann das Zeug in meinen Venen spüren.«
»Sagen Sie mir, wo Sie sind, Ich rufe den Notarzt.«
kommentierte Purvis.
Ich biss mir auf die Lippe, unsicher, ob ich ihr vertrauen konnte. »Ich bin unterwegs zu dem Ort, an dem es passiert ist«, sagte ich. »Zu Lena und Jonas.«
»Okay«, erwiderte sie zaghaft. »Mir ist nicht ganz klar, was das heißt. Was kann ich tun?«
Ich verfluchte mich für mein ewiges Misstrauen. Dafür, seit dem Unfall ein derart weltabgeschiedener Einsiedler geworden zu sein. Lena wäre damit alles andere als einverstanden gewesen.
»Kümmern Sie sich um Purvis«, sagte ich, »falls mir was zustößt. Sagen Sie Remy, sie soll sich ansehen, wo der Unfall stattfand. Sagen Sie’s nur ihr. Niemandem sonst.«
Ich legte auf und sammelte meine Aufzeichnungen zusammen. Meine Hände fühlten sich wie Gelee an.
Sie waren hinter mir her. Die Hesters. Der Orden. Irgendwer. Alle.
Möglicherweise besaß ich bereits Beweise dafür, wie sie allesamt mit drinsteckten, und wusste es nicht einmal.
Ich schaute mich um. Die Limousine war immer noch da. Ließ sich zurückfallen.
Ich erinnerte mich daran, wie Wade Hester und sein alter Herr den Aktenstapel angestarrt hatten, den ich mit mir herumschleppte.
Mit einem Schleier vor den Augen zog ich einen übergroßen Asservatenbeutel aus dem Handschuhfach. Ich fing an, all meine Notizen hineinzustopfen. Die ausgedruckten Informationen über Donnie Meadows. Sämtliche meiner lückenhaften Theorien, mit denen ich garantiert richtiglag, ohne sie wirklich miteinander verknüpft zu haben.
Ich verschloss den Beutel und gab Gas, als ich mich der Brücke an der I-32 näherte.
Bald würde eine Kurve kommen. Die Kurve, an der sich der Unfall meiner Frau zugetragen hatte. Eine markante Biegung, die mich dem Sichtfeld der Limousine für zwei Sekunden entziehen würde.
Ich beschleunigte, als ich den Ort erblickte, an dem ich alles verloren hatte, was mein Leben ausmachte. Ich warf den luftdicht verschlossenen Beutel hoch durch die Luft in die Büsche.
Ich musste dringend einen ungestörten Platz finden, an dem ich mich aus- und gesundschlafen konnte. Wo ich Remy treffen und in Ruhe alles mit ihr durchgehen konnte, sobald sich der Rauch ein wenig verzogen hatte.
Auf der anderen Seite der Brücke erkannte ich ein mir wohlbekanntes Leuchtschild. Das Landing Patch.
Ich bremste ab und glitt in eine Parklücke am Rand des Parkplatzes.
Ich stolperte aus meinem Truck und fragte mich, was genau wohl gerade mit meinem Körper vorging.
Ich suchte mein Handy, musste es aber wohl verloren haben. Ich konnte die Neonreklame mit den sich spreizenden und wieder schließenden Beinen der Frau sehen.
»Horace«, rief ich nach dem Türsteher. »Horace!«
Doch zu dieser Stunde saß niemand bei der Eingangstür. Es war zu früh, um einen Rausschmeißer zu beschäftigen.
Eine Minute später näherte sich ein Mann mit einem dichten braunen Bart. Er war ein paar Zentimeter kleiner als ich, und seine Nase sah aus, als wäre sie etliche Male gebrochen worden. Er trug ein rotes -Shirt der South-Carolina-Gamecocks.
Ich kniff die Augen zusammen.
Was zur Hölle?
Es war nicht Matthew Hester. Der Bärtige war jemand anders. Jemand, dessen Namen ich nicht kannte.
»Wer zum Teufel sind Sie?«, fragte ich.
Meine Frage war eigentlich fehl am Platze, aber er lächelte und entblößte riesige Zähne, die inmitten seines gigantischen Bartes weiß aufleuchteten. Ein Wald mit einem Wolf darin.
Es war ganz einfach. Die Hesters hatten mir was in den Kaffee getan und mich bis hierher verfolgen lassen.
Dann hörte ich eine andere Stimme. Die irgendwas von Feinden und Freunden tönte.
Mein Kopf saß wie ein Fels auf meinen Schultern. »Sie wissen, was passiert?«, nuschelte ich. »Mit Leuten, die Cops fertigmachen?«
Der Vollbart lachte, und ich versuchte den Rückwärtsgang einzulegen, aber die Nacht glich einer Mauer hinter mir. Ich begriff, dass dort wirklich jemand stand und mich nach vorne stieß. Donnie Meadows, der Kleiderschrank. Ihm gehörte die andere Stimme.
Meadows schob mich auf den Fahrersitz meines Pick-ups. Er roch nach Pfefferminz-Kautabak.
»Kann nicht fahren«, sagte ich, hörte jedoch, wie die Zündung startete.
Dann hörte ich Lenas Stimme. Ihr Echo hallte irgendwo durch die Finsternis. »Vielleicht wird es Zeit, «
Der Vollbart sagte irgendwas über meine Aufzeichnungen. Er konnte sie nirgends finden. Er fragte den Kleiderschrank, ob er sie irgendwo gesehen hatte.
»Ich seh nur einen verdammten Köter«, raunzte Meadows. »Eine potthässliche gefleckte Bulldogge.«
Ich hörte, wie eine Tür aufgerissen wurde. Ein Jaulen, als irgendwer Purvis hinausbeförderte. Meadows sagte, er würde keine Hunde töten.
Vor mir öffnete sich ein neues Fenster zur Welt.
»Der Truck ist aber groß«, sagte ich. Was keinen Sinn ergab, bis mir klar wurde, dass man gerade meinen Sitz nach hinten verschob. Der Vollbart beugte sich über mich.
Sein Atem roch nach schwarzgebranntem Schnaps und Listerine-Mundspülung, und etwas brannte mir im Mund. . In hochprozentigem Alkohol aufgelöst.
Die Flüssigkeit füllte meine Kehle, und ich würgte einen Moment, bevor ich schluckte. Tabletten waren ebenfalls hineingemischt.
Purvis kläffte in der Ferne, und der Vollbart rief ihm irgendwas zu.
Der Truck setzte sich in Bewegung.
»Nein«, sagte ich.
Aber der Wagen gewann ganz von selbst an Fahrt. Vielleicht mit ein bisschen Anschub per Hand.
Die Scheinwerfer waren ausgeschaltet und meine Lider unendlich schwer. Meadows hatte meinen -150 um die Kurve herum gleich hinter den Landing Patch manövriert. Die Sonne war während der letzten Stunde untergegangen, und man schob mich zu einer dunklen Stelle, die von keinem vorbeifahrenden Auto eingesehen werden konnte.
»Leichte Beute«, hustete ich hervor, als mein Körper loszuwerden versuchte, was auch immer sie mir verabreicht hatten. Ich wollte nichts als kotzen.
»Ja, das ist der Plan«, sagte der Kleiderschrank.
Glühwürmchen tanzten um die zwei Männer herum und schwirrten über ihre Arme hinweg. Sie agierten wie winzige Helferlein, die tatkräftig daran mitwirkten, mich in einen gefährlichen Winkel des Universums zu verbannen.
»Meadows.« Ich zeigte auf ihn.
»Er kennt meinen Namen«, sagte der Kleiderschrank. »Ich will seine Knarre.«
»Nein, die bleibt hier«, antwortete der Vollbart. Er fixierte seinen Riesenkumpel aus stahlblauen Augen. »Entsichere sie, und prüf nach, ob sie geladen ist, denn das hier ist ein ziemlich verwegener Bulle.« Er schaute auf mich herab. »Frohe Weihnachten, Arschloch.«
»Bitte«, sagte ich, sprach jedoch zu niemand anderem als der Dunkelheit. Die Männer waren verschwunden, und ich konnte mich nicht bewegen.
Ich sah den Nachruf vor mir: Und das waren noch meine besseren Eigenschaften.
Dann sah ich ein Licht aufblitzen, und der Boden brach unter mir weg.
Alles drehte sich. Himmel war Erde und Erde Himmel.
Blut lief mir in die Augen, und ich sah den Stahl eines Sattelschleppers. Eine lange weiße Karosserie. Verschlammte Schmutzfänger und kopfüber stehende Reifen.
Dann Feuer und Finsternis. Meine Augen schlossen sich. Ich vernahm die Worte, die vom 21. Dezember letzten Jahres herüberhallten. Lena hatte mich gerufen.
»Ich bin auf dem Weg nach Hause«, sagte sie. »Bis bald.«
Und dann Schwärze.