Remy ließ mich in der Gasse hinter der 13. Straße raus, und ich eilte an der Rückseite von Gebäuden vorbei, bis ich die Anschrift fand. Ein verlottertes Backsteinmietshaus mit Hinterhofeingang.
Ich betrat eine kleine Eingangshalle. Es roch nach nassem Hund, und in den Ecken löste sich grüner Kunstrasen vom Boden.
Der Hauptzweck des Eingangsbereichs schien darin zu bestehen, die Briefkästen der Mieter zu beherbergen. So gut wie alle von ihnen quollen vor Werbung und Flugblättern über. Ein Mülleimer war ebenfalls bis zum Bersten mit Werbung gefüllt, und zu ihr gesellten sich ein Pizzakarton und ein leeres Sechserpack Rolling Rock.
Ich warf mir meine Umhängetasche über die Schulter, um beide Arme frei zu haben, schnappte mir die Pizzaschachtel und schob mir die .22er unters Hemd.
Oben klopfte ich an die Tür von Wohnung Nummer 219.
»Domino«, sagte ich und hielt das Logo vor den Türspion.
Eine Frau öffnete die Tür. Sie war korpulent, hatte lange schwarze Haare und trug ein weites Kleid mit orangem Paisleymuster. Ihre Haut war so gerötet, dass es aussah, als hätte sie Schmirgelpapier als Waschlappen benutzt.
»Ich hab keine Pizza bestellt.«
»Tja, ich liefere auch keine«, sagte ich, ließ die Schachtel fallen und schob den Fuß in die Tür.
»Er ist nicht hier«, sagte sie perplex.
»Ich habe noch gar nicht gesagt, wen ich suche.«
»Sie sind Bulle oder Bewährungshelfer, und Ihre Sorte stellt immer die gleichen Fragen.«
Ich zog meine .22er, richtete sie auf ihren Kopf und drückte die Tür auf.
»Wie sieht’s jetzt aus? Ist er jetzt vielleicht anwesend? Macht sein Bewährungshelfer so was wie das hier?«
Sie war hart im Nehmen, hatte aber Angst und schüttelte langsam den Kopf von links nach rechts.
Ich zwängte mich hinein und zog die Tür hinter mir zu. Ihr Blick ließ Furcht erkennen, als ich den Bolzen verriegelte.
»Sind wir unter uns?«
Sie nickte, und ich hielt sie eng an mich gedrückt, während ich die Bude sicherte. »Bleiben Sie bei mir, Schwester«, sagte ich. »Sollte er aus einer Tür springen, sind Sie eine tote Frau.«
Ich schob sie ins Schlafzimmer. Niemand dort. Dann die Küche. Dreckige Töpfe und Pfannen stapelten sich einen halben Meter hoch in einer alten Farmhouse-Spüle.
Als wir aus der Küche traten, schnappte sie sich eine Bratpfanne und ging auf mich los. Ich wehrte die Attacke mit dem Unterarm ab, drehte ihr den Arm auf den Rücken und presste sie gegen die Wand.
Bis dahin war es mir gar nicht aufgefallen, aber ihr fehlte ein Zahn. Wo ihr rechter Schneidezahn hätte sein sollen, gähnte nur eine rötlich schwarze, blutige Höhle.
»Sagen Sie mir, wo verdammt noch mal Cobb steckt«, sagte ich. »Er und dieser beschissene Riese.«
»Ich weiß es nicht«, sagte sie.
Ich bog ihren Arm weiter zurück und spürte, wie sie zusammenzuckte.
»Ich habe nicht die geringste Ahnung«, brüllte sie.
Ich wirbelte sie herum, sodass wir einander Auge in Auge gegenüberstanden. »Dann haben Sie keinen Wert für mich.«
Ich schob ihr den Lauf meiner .22er in den Mund.
Sie verdrehte verzweifelt den Kopf, um den Lauf zwischen ihren Lippen loszuwerden. »Warten Sie.« Sie begann zu weinen. »Er ist bei diesen reichen Leuten.«
»Ich brauche einen Namen.«
»Ich glaube, er lautet Jester. Oder Hesmer?«
»Hester?«, fragte ich und drückte ihr die Kanone jetzt gegen die Wange.
Ihr Kopf wackelte auf und ab.
»Wo?«, fragte ich.
»Sie sind in Shonus.«
Ich rammte ihr den Lauf fester ins Gesicht.
»Er denkt, er wäre einer von ihnen«, sagte sie. »Sie gegen die Schwarzen.«
In meinem überforderten Kopf drehte sich alles.
Wade Hester war am selben Abend, an dem man mich vergiftet hatte, beinahe getötet worden. Remy meinte, er sei unschuldig.
Mir war klar, dass ich mich nicht darauf verlassen konnte, dass die Frau einen Warnanruf bei Cobb bleiben ließ, weshalb ich sie quer durchs Zimmer zerrte. Mit einem Kabelbinder fesselte ich sie im Schlafzimmer ans Heizungsrohr.
»Scheiße«, jammerte sie. »Lassen Sie mich hier etwa so zurück?«
Ich schaltete den Fernseher ein. Warf ihr die Fernbedienung zu. Nahm eine Tüte Schweinekrusten und zwei Dosen Bier aus dem Kühlschrank. Gab sie ihr. »Sollten Sie die Wahrheit gesagt haben, komme ich morgen wieder und lasse Sie frei.«
Eine Minute später trat ich auf den Hinterhof hinaus, spazierte zwanglos zur Straße und bestieg den Charger.
»War er da?«, fragte Remy.
»Nur seine Freundin«, sagte ich. »Die Hesters – wir haben angenommen, dass sie sauber sind, stimmt’s?«
Remy nickte. »Wegen desselben Giftes, das dich erwischt hat, wäre Wade fast ins Koma gefallen.«
Ich musste irgendeine Verbindung herstellen, damit das hier Sinn ergab.
»Seine Freundin erzählt was anderes.«
Remy schien verwirrt, und ich startete die Zündung und rief Captain Andy Sugarman an, den Cop oben in Shonus County.
»«, begrüßte er mich. »Es überrascht mich, von Ihnen zu hören.«
»Weshalb?«
»Ich habe gehört, man hätte Ihnen die Marke entzogen.«
»Fast«, erwiderte ich. »Wade Hester hat mir den Job gerettet. Weil er auch ein paar Tassen von diesem Kaffee getrunken hat, nachdem ich gegangen bin. Deswegen ist seine Hausangestellte flüchtig und hat uns ihren Sohn Donnie auf dem Silbertablett präsentiert, mit einer hübschen Schleife dran.«
»Was kann ich also für Sie tun?«, wollte Sugarman wissen.
»Ich habe ein schlechtes Gewissen wegen Wade und wollte mal hören, wie’s ihm geht.«
»Ganz gut, schätze ich«, gab Sugarman zurück. »Allerdings scheint mir, dass die Chose einen Keil zwischen ihn und den alten Herrn getrieben hat.«
»Hat er Ihnen das erzählt?«
»Einer meiner Deputys«, sagte Sugarman. »Er hat sich mit einem von ihren Sicherheitsleuten unterhalten. Ich gehe davon aus, dass Wade in ihr Haus am Fluss umgezogen ist. Hat dem Wachdienst gesagt, er solle ihn in Ruhe lassen. Und seinem alten Herrn, ihn erst recht in Ruhe zu lassen.«
Ich legte auf und machte mir Gedanken. Vielleicht hatte Hester junior keine Ahnung, was mit dem Orden lief. Oder vielleicht hatte er sich entschieden, nichts darüber wissen zu wollen, bis die Scheiße, in der sein Vater bis zum Hals steckte, ihn beinahe umgebracht hätte.
Ich nahm die -914 Richtung Shonus. Ich hätte Sugarman fragen können, wo das andere Haus der Hesters lag, aber ich wollte nicht durchblicken lassen, dass ich in seinem Revier herumschnüffelte.
Ich bat Remy, auf ihrem iPad eine Karte der Gegend aufzurufen.
»Gibt es eine Straße entlang des Opagucha River?«
»Zwei sogar«, sagte Remy. »Windy Vista und Highland.«
Ich rief bei uns im Büro an und erwischte Donna, meine Freundin bei der Verwaltung. Fragte sie, ob jemand namens Hester an einer der beiden Straßen Grund besäße.
»Solltest du tatsächlich arbeiten, ?«, fragte Donna.
»Tue ich nicht«, gab ich zurück. »Ich schaue mich nach Immobilien um. Ziehe in Erwägung, den Beruf zu wechseln. Würdest du mir was abkaufen, wenn ich Makler wäre und du meine Visage an einer Bushaltestelle sehen würdest?«
»Auf gar keinen Fall«, sagte Donna. Dann gab sie mir die Adresse durch.