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Wir reden von dem Café schon als von »unserem« Café und wollen auf einem unserer nächsten Streifzüge wieder dorthin zurückkehren, aber auf anderen Wegen. Diesmal sind wir an der Porte de la Chapelle verabredet, vor der Haltestelle der Tramlinie, die parallel zum Périphérique die Stadt umrundet, und ich habe Zeit, mir den Betrieb auf der gewaltigen Baustelle der neuen Adidas-Arena gleich gegenüber anzuschauen, in der mehrere Wettbewerbe der Olympischen Spiele stattfinden sollen, Federball und Gymnastik, wenn ich es recht verstanden habe. Der Platz davor soll bepflanzt werden, Familien sollen hier entlangspazieren, Fahrradfahrer frohgemut und sicher auf Radwegen kreuzen, Kinder tapsig hinter einem Ball herlaufen, ich sehe das Ganze vor mir, weil ich schon mehrfach vor Werbeplakaten gestanden habe, die ähnliche städtebauliche Schönheiten anpriesen. Vorerst ist noch nichts bepflanzt, das Verkehrschaos ist immer noch das alte, der Boulevard Ney ist verstopft, und auf dem schmalen, von niedrigen Gittern eingefassten Streifen zwischen den vier Strängen des Boulevards – zwei Fahrbahnen nach Westen, zwei in die Gegenrichtung – haben sich drei afrikanische Obdachlose niedergelassen. Ihre Kapuzen über die Köpfe gezogen, sitzen sie zusammengekauert auf Kartons; die drei halbhohen Metallabsperrungen, die sie irgendwo mitgenommen und zu einem Halbkreis aufgebaut haben, bilden keinen wirklichen Schutz gegen den Wind. Einer der Männer hat eine Bierdose in der Hand, ringsum liegt ein wenig Müll verstreut, aus der offenen Mülltonne neben ihnen hängt der Ärmel einer Steppjacke heraus. Nichts, was man als »Habseligkeiten« bezeichnen würde. Hinter ihnen drehen sich die olympischen Baukräne. So unglaublich es scheint: Offenbar haben diese drei in der ganzen Stadt – hier ist noch Paris intra muros – keinen ruhigeren, geschützteren Fleck finden können.

Ich wende mich der gerade anfahrenden Tram zu, aus der immer noch kein Thierry steigt, und sehe einen rückwärts gleitenden Rollstuhl auf mich zukommen, in dem ein noch recht junger Typ sitzt und raucht. Mit dem rechten Fuß stößt er sich immer wieder ab und gibt seinem blinden Gefährt neuen Schwung. Wer da gerade hinter ihm an der Haltestelle geht oder steht, auf wen er also rückwärts zurollt, und das nicht einmal besonders langsam, kann und will er nicht sehen. Irgendwann macht er kehrt und fährt rückwärts zurück. Keiner spricht ihn an, alle weichen aus. Sein dünnes fahles Haar ist schon lange nicht mehr geschnitten worden, unter der offenen Jacke trägt er nichts als ein einmal schwarz gewesenes T-Shirt, die Kälte scheint er nicht zu spüren, wie er überhaupt wenig zu spüren scheint, er wirkt, als sei er tief in Gedanken versunken oder, wahrscheinlicher, auf Drogen.

Oh là là, c’est la cour des miracles ici, sagt Thierry, kurz nachdem er aus der Tram ausgestiegen ist, das ist der Hof der Wunder hier – ein gängiger Ausdruck, der im vorrevolutionären Frankreich mal ein Armenviertel meinte, wie es Victor Hugo in Notre-Dame de Paris beschreibt und in dem alle erdenklichen Sorten von Bettlern und Dieben lebten, Leute, die tagsüber als Krüppel, Blinde, Epileptiker und so weiter in die Stadt ausschwärmten und bei Feierabend »wie durch ein Wunder« geheilt zurückkehrten – das Wunder nichts anderes als ein den Allerärmsten als letztes Überlebensmittel gebliebener Betrug. Die Bettler wurden mit der Zeit vertrieben, die Höfe der Wunder aufgelöst, aber nur, um an anderer Stelle wieder zu entstehen. Nein, diese Höfe sind nicht ausgestorben, wie es immer heißt, es gibt sie noch, nicht nur an den Rändern der Stadt, wenn auch dort vor allem, auf ein paar davon sind wir auf unseren Streifzügen schon gestoßen, und wir sehen gleich noch einen weiteren oder was davon übrig geblieben ist, als wir unter dem Périphérique durchgehen.

Vor Kurzem sei hier ein großes Migrantenlager zerstreut worden, sagt Thierry, und, ja, ich erinnere mich, es stand in der Zeitung, Porte de la Chapelle, hier ist dieses Lager also gewesen. Es liegt viel verstreuter Abfall herum; alles noch einigermaßen Brauchbare ist verschwunden.

Wir gehen die Nationale 1 und zugleich die A1 entlang, Erstere verläuft unmittelbar neben uns, Letztere parallel dazu, nur etwas tiefer, zwischen den beiden Strängen der Schnellstraße, von uns Fußgängern nicht einzusehen, von den Anwohnern aber schon, allerdings schaut keiner aus dem Fenster, so viel ich sehen kann. Es bleibt ihnen nicht viel anderes übrig, als sich in ihren Wohnungen zu verbarrikadieren, und zwar eher in den hinteren Räumen, falls es solche geben sollte. Denn doppelte Fenster scheinen jedenfalls bei Weitem nicht alle zu haben; es ist nah an Paris, aber so ungefähr die übelste Wohngegend, die man sich vorstellen kann.

Nachdem Thierry für seine Drehort-Recherche ein paar Fotos von der Olympia-Baustelle und dem verlassenen Migrantenlager in der Périphérique-Unterführung gemacht hat, wollen wir noch zu einer weiteren Baustelle weiter nördlich – vor allem aber will ich zu den Orten, die mit Boughéra El Ouafi verbunden sind, jenem Mann, nach dem die kleine Turnhalle benannt ist, die mir beim letzten Mal aufgefallen war, und von dem ich inzwischen weiß, wer er war, vielmehr kann natürlich keiner wirklich wissen, wer irgendwer war, doch habe ich ein paar Sachen über den Mann herausgefunden, die ich Thierry erzählen kann:

Also, Boughéra El Ouafi war ein Sportler, ein Marathonläufer, und er war Algerier, ein Tirailleur, der 1918 in der französischen Armee an der Besetzung der Ruhr teilnahm, da bin ich mir aber nicht ganz sicher, dass es stimmt, denn sein Geburtsdatum ist ungewiss, jedenfalls wurde er später Arbeiter bei Renault in der Pariser Vorstadt Boulogne-Billancourt und schaffte es nebenbei, zu trainieren und bei den Olympischen Spielen von Amsterdam 1928 die Goldmedaille im Marathonlauf zu gewinnen, wonach er für eine Weile ein Engagement in den USA bekam. Daraufhin wurde er aus dem französischen Sportverband ausgeschlossen, denn es war verboten, mit dem Sport auch Geld zu verdienen.

Wir wechseln einen kurzen Blick.

Ist ja eigentlich in Ordnung, sage ich, das Geld vergiftet den Sport, heißt es immer. Aber wenn du keine reichen Eltern hattest, musstest du unter Umständen sechs Tage in der Woche bei Renault schuften und abends noch trainieren.

Thierry läuft neben mir her und hört schweigend zu.

Er konnte also keinen Wettbewerbssport mehr betreiben. Aber immerhin war er mit einem Batzen Geld aus Amerika zurückgekommen. Mit einem anderen Typen zusammen hat er dann in Paris ein Café aufgemacht, hat sich aber bald von seinem Teilhaber über den Tisch ziehen lassen, und dann war das Geld weg und das Café auch. Er hat also wieder in der Fabrik gearbeitet, diesmal bei Alstom, bis er von einem Bus überfahren und arbeitsunfähig wurde. Am Ende haben ihn seine Schwester und deren Familie in Stains aufgenommen. 1956 hat ihn ein jüngerer algerischer Athlet, Alain Mimoun, noch mal kurz ans Licht der Öffentlichkeit und sogar in das Büro des damaligen Präsidenten René Coty gezerrt, der ihm eine Stelle als Wächter eines Vorstadtstadions besorgte, bis Boughéra drei Jahre später in einem Café-Hotel in Saint-Denis oder in einem Zimmer im Stockwerk darüber erschossen wurde. Unglaublich, oder? Das war mitten im Algerienkrieg, und es ist nie rausgekommen, ob er wirklich gemeint war bei diesem Mord und ob die algerische Unabhängigkeitsbewegung oder irgendein privater Zwist dahinter stand. Und jetzt ist er völlig vergessen. Verrückte Geschichte, oder?

Thierry blickt zustimmend und zugleich, als hätte er schon tausend weitaus verrücktere und schlimmere Geschichten gehört.

Das ist nur die Kurzfassung, sage ich. Ich fand das alles so unfassbar, dass ich mir gleich das einzige Buch besorgt habe, das es über den Mann gibt, eine kurze Biografie, von einem Sporthistoriker namens Clément Genty verfasst. Der hat sich hauptsächlich mit der sportlichen Seite dieses Lebens beschäftigt, aber man erfährt doch einiges mehr als bei Wikipedia. Ach so, ja, einen Podcast über ihn hab ich auch gehört.

Thierry verfällt wieder darauf, meine fingierten Pariser Freunde zu imitieren: Jetzt interessiert sie sich schon für algerische Athleten! Hungerlöhner, die gut im Langlauf waren, weil sie als Kinder barfuß durch ihren Bled gerannt sind! Die Frau ist echt nicht mehr zu retten.

Soll ich dir trotzdem sagen, was in dem Buch steht? Ein unglaubliches Leben, sag ich dir.

Er lächelt nachsichtig, als hätte ich Ahnungslose gerade entdeckt, was es für Ungerechtigkeiten auf der Welt gibt und wie schlecht es den Algeriern in Frankreich ergangen ist, aber ich merke doch, dass er mir aufmerksam zuhört.

Also, diesem Biografen zufolge ist El Ouafi oder Louafi sein Vorname und nicht sein Nachname, und er ist auch nicht 1898, sondern 1903 geboren, aber sicher ist das mit dem Datum nicht. Es steht halt in der einzigen offiziellen Akte, die es von ihm gibt, und das ist seine Sterbeurkunde …

Wir schauen uns an.

Ja, und dann … Er war Analphabet.

Thierry zieht eine Augenbraue hoch.

Also, ich versuch mir das vorzustellen, sage ich. Renault war damals noch ein Familienunternehmen. Die Arbeit fing um sechs Uhr an und dauerte meistens länger als acht Stunden, und das sechs Tage in der Woche. Wann der Mann dabei noch Zeit und Kraft fand, für den Marathon zu trainieren – ich weiß es nicht. Neben den Arabern, die sie »Eingeborene« nannten, gab es in den Fabriken auch Weißrussen, Polen, alles Mögliche. All diese Leute wurden zu sportlicher Ertüchtigung ermuntert, wahrscheinlich, damit sie nicht auf dumme Gedanken kamen. Die indigènes hatten nicht die französischen Bürgerrechte, doch wenn sie wie Boughéra eine Medaille ergatterten, wurden sie für die Dauer ihres Siegs zu Franzosen erklärt. Aber das weißt du ja sicher alles schon.

Thierry grummelt etwas vor sich hin, lässt mich aber weiterreden.

Und dann gewinnt der tatsächlich! In Amsterdam. Die französischen Zeitungen schreiben was von »dem Schwarzen El Ouafi«, dem französischen Afrikaner, der keinen Alkohol trinkt und auch noch Vegetarier ist und deshalb den Franzosen gegenüber im Vorteil. Soll ich dir mal sagen, was die Renault-Leitung der Presse gegenüber hat verlauten lassen?

Ich krame in meiner Tasche, denn ich habe das Buch mitgenommen, aus dem ich das alles habe, um es Thierry zu zeigen, und lese vor: »El Ouafi: ein ausgezeichneter Arbeiter, mit dem wir überaus zufrieden sind und der bei seinen Kameraden sehr beliebt ist. Der kleine Algerier« – »der kleine Algerier!« – »ist seit vier Jahren als Dreher tätig, und wir haben ihm noch nie etwas vorzuwerfen gehabt. Er ist pünktlich und genau wie seine Kameraden den strengen Regeln des Hauses unterworfen.«

Thierry verdreht die Augen.

Wir gehen immer noch die A1 und die N1 entlang; Erstere verläuft an dieser Stelle unterirdisch, was den Lärm etwas erträglicher macht.

Ja, und dann also dieser Sieg, der Mann wird kurz gefeiert, ich glaube, sie haben ihm zwei Tage für den Wettbewerb freigegeben, und das war’s: Er muss wieder in die Fabrik zurück. Aber dann bieten ihm die Amerikaner für ein paar Monate einen Vertrag an, sie bezahlen ihm die Überfahrt und zehntausend Dollar, auch wenn’s dann vielleicht am Ende nur fünftausend sind, so genau weiß man’s nicht, er wird dort ein bisschen rumgeführt und nimmt an Wettbewerben teil, aber eher wie ein Zirkuspferd. Für die Amerikaner ist er kein Franzose, sondern eindeutig Araber, und zwar ein Araber, der’s den Franzosen mal ordentlich gezeigt hat.

Thierry grinst.

Dann geht’s wieder zurück, und in Paris will er jetzt einen auf Geschäftsmann machen. Mit einem Compagnon zusammen kauft er zwei Hotel-Restaurants und ein Café-Hotel, und zwar mitten in Paris, nicht in der Vorstadt! Aber der andere ist schlauer als er und knöpft ihm das Geld ab, die Sache kommt zwar vor Gericht, aber das Geld sieht er nicht wieder.

Und dann ist er wieder Arbeiter, sagt Thierry nicht im Ton einer Frage.

Nicht sofort, sage ich, aber genau weiß ich’s nicht. 1934, also sechs Jahre nach der Goldmedaille, trifft ihn ein algerischer Sportler in einem Gemeinde-Krankenhaus in Algerien, er ist völlig runtergekommen und gesundheitlich angeschlagen – und trotzdem kehrt er wieder nach Frankreich zurück. Für eine Weile ist er Zeitungsverkäufer in Bourg-en-Bresse, vierhundert Kilometer südöstlich von Paris, keine Ahnung, wie es ihn dahin verschlägt, jedenfalls fällt er dadurch auf, dass er Zeitungen vom Vortag verkauft, das geht also auch nicht gut. Man schiebt es auf seinen Analphabetismus.

Thierry lächelt gequält.

Ja, und dann geht’s wieder in die Vorstadt zurück, nach Saint-Ouen. Er arbeitet als Sprühlackierer bei Alstom. Wohnen tut er in einem Hotelzimmer am Boulevard Victor-Hugo in Saint-Ouen. Und kaum, dass er sich wieder ein bisschen stabilisiert zu haben scheint, wird er von einem Bus überfahren. Von da an ist er Invalide.

Und kriegt bestimmt eine komfortable Invalidenrente vom französischen Staat, weil er ihm in der Armee, als Hochleistungssportler und Arbeiter so treu und fleißig gedient hat, meint Thierry sarkastisch.

Er hat Glück, dass er in Stains bei seiner Schwester unterkommen kann. Aber wie gesagt, das ist noch nicht alles. Erst kommt noch ein weiterer Gerichtsprozess.

Was denn jetzt? Hat er vielleicht mal einem Franzosen eins übergebraten?

Weiß nicht, ob ich das glauben soll, was der Biograf da schreibt. Viel scheint er über die Angelegenheit auch nicht rausgekriegt zu haben, nur dass Boughéra – ich stocke und schaue kurz zu Thierry rüber –, es wird dir komisch vorkommen, mir übrigens auch, aber das steht da wirklich so: Er scheint in eine »Banlieue-Karawanserei« investiert zu haben.

Thierry stößt entnervt Luft zwischen den Zähnen aus.

Für seine Kamelherde oder was?

Wahrscheinlich ist er wieder auf jemanden gestoßen, der ihn für reich hielt und ihm Geld abknöpfen wollte. Aber er wird freigesprochen.

Ich öffne das Buch und suche im Gehen nach einer Passage, die ich mir angestrichen habe.

Hier, das soll er nach dem Prozess gesagt haben: »Ich bin glücklich. Jetzt, wo ich kein Geld mehr habe, werde ich in nichts mehr verwickelt werden.«

Und als ihn jemand umbringt? Ist er da nicht in was verwickelt?

Davon hat er wahrscheinlich gar nicht viel mitbekommen, die sind reingekommen und haben ihn und seine Schwester abgeknallt und eine seiner Nichten verletzt. Vielleicht hatten sie’s tatsächlich auf seinen Schwager abgesehen. Ob das mit dem FLN zu tun hatte oder nicht – glaube nicht, dass sich das noch rausfinden lässt. Übrigens müsste es hier irgendwo rechts demnächst in die Rue du Landy abgehen, in der das Café war, in dem sie ihn erschossen haben.

Wir sind darauf gefasst, dass in dieser Gegend nichts mehr so aussieht wie im Jahr 1959, und tatsächlich ist das Haus mit der Nummer 10 nun ein modernes, mehrstöckiges Wohnhaus. Es könnte aber sein, dass sich durch die Neubebauung der Gegend, seit sie für die Weltmeisterschaft 1998 das große Fußballstadion in der Nähe gebaut haben, die Hausnummern verschoben haben, und wir gehen ein bisschen die Straße auf und ab und entdecken nicht weit entfernt ein Café-Hotel, natürlich geschlossen, ein Überbleibsel aus früheren Zeiten – die Farbe blättert ab, der einst helle Putz hat schwarze Feuchtigkeitsflecken, die heruntergelassenen Metallvorhänge im Erdgeschoss sind zerkratzt und zerschunden –, das haargenau so aussieht, wie ich mir ein Café-Hotel aus den Fünfzigerjahren vorstelle. Hôtel Bel-Air heißt es, und über dem Café gibt es nur ein weiteres Geschoss, in dem, wie in dem Café in Stains neulich, jemand zu wohnen scheint, ein Fenster ist geöffnet, in dem anderen hängen Vorhänge. »Chambres au mois et à la journée« – Monats- oder Tagesvermietung steht auf einem kleinen Schild.

Ist Boughéra El Ouafi im ersten Stock dieses Hauses erschossen worden? Ich zeige Thierry ein paar der in dem Buch abgedruckten Fotos, auf dem Titelbild ist er in vollem Lauf und von vorne zu sehen, kurz vor der Ziellinie vielleicht. Seine Züge sind nicht verzerrt von der Anstrengung, er sieht gelöst aus, die Augen halb geschlossen. Sein nasses Trikot trägt die Nummer 71. Er ist alleine. Das Foto war in einer amerikanischen Zeitung abgedruckt mit der Bildunterschrift »Dark Horse« wins Olympic Marathon – El Ouafi of South Africa, running for France, captures event.

Dunkles Pferd.

Na klar, der Araberhengst, sagt Thierry sarkastisch.

Na klar. Aber warum Südafrika?

Keine Ahnung, das Bild ist doch in Amerika aufgenommen. Nord- oder Südafrika, für die Amerikaner ist das alles eins.

Und für die Europäer?

Auch.

Ich zeige ihm noch ein paar andere Fotos aus dem Buch, darunter eins von Boughéra El Ouafis Grab auf dem Muslimischen Friedhof von Bobigny, einer anderen Vorstadt des Neun-Drei-Départements. Es ist klar, dass wir uns diesen Friedhof bei einem unserer nächsten Gänge anschauen werden.

An dem Hotel-Café läuft eine Frau vorbei, deren Steppjacke und Haare genau die gleiche Pinkfarbe haben. Wir streunen noch ein bisschen in dem Viertel herum und stoßen dabei auf andere Inselchen aus der Mitte des 20.Jahrhunderts, niedrige graue Häuser, zum Teil schon mit zugemauerten Fenstern, dazwischen eine Mini-Privatsperrmüllhalde, die jemand schlecht und recht mit einer Mercedes-Werbung verdeckt hat – die Plastikplane, auf die sie gedruckt ist, muss irgendwo auf einer Baustelle mitgenommen worden sein. In einer Hecke schreien Hunderte oder Tausende von Sperlingen, als sei das alles hier ein einziger riesiger Skandal.

Im Zickzack durchstreifen wir die Gegend westlich des Stadions, ein »Viertel« kann man dieses von Bahngleisen zerschnittene Areal zwischen Canal Saint-Denis und Seine beim besten Willen nicht nennen. Es ist so eisig kalt und windig, dass unsere Gespräche versiegen, mein Mund ist eingefroren und kann nicht mehr artikulieren. Um uns her nichts als Gleise, Autostraßen, wieder sind die A1 und die N1 nicht weit, und eine unüberschaubar große Baustelle, hinter der die spitzen Metallstrukturen des Stadionrings hervorscheinen. Ein Schwimmbad für die Olympischen Spiele wird hier gebaut und steht auch schon halb; das Dach hängt, wie geplant, in der Mitte durch. Wie nicht geplant, soll es 174,7 Millionen Euro kosten, lese ich später und verstehe, warum die Baustelle so viel größer ist als das Schwimmbad, das natürlich, da es mehrere Becken umfassen soll, auch nicht gerade klein ist. Eine dreihundert Meter lange »bewohnte« Brücke über die Gleise wird es hier geben, die mehrere Tausend Menschen gleichzeitig werden »bewohnen« können. Ist das praktisch, oder ist das Größenwahn, wir können es nicht entscheiden und bleiben lange im Eiswind stehen.

Im Café Le Montjoie sind diesmal nur zwei Männer an der Theke, sie trinken Bier, vor allem der eine scheint schon einiges intus zu haben. Rachid lächelt, als er uns begrüßt, und fragt: Zwei Espresso? (Vielleicht haben wir einen allerersten Schritt in Richtung Stammkunden getan.) Der Angetrunkene will noch ein weiteres Bier bestellen, doch Rachid bestimmt in einem entschiedenen und zugleich fürsorglichen Ton: Geh erst mal was essen. Der so Angesprochene bleibt friedlich, der Alkohol scheint ihn nicht angriffslustig zu machen, oder vielleicht ist es auch Rachids freundlichbestimmte Art, jedenfalls bleibt das Glas vorerst leer, und der zweite der beiden Männer macht sich tatsächlich auf, etwas zu essen zu besorgen, und kommt kurz darauf mit einer Pizza zurück. Er stellt den offenen Karton auf die Theke und bietet jedem von uns ein Stück an. Thierry lehnt für uns beide auf liebenswürdige Weise ab; ich lächele nur, weil ich denke, ich mache hier als Frau besser nicht groß den Mund auf. Zwar ist es nicht das typische Arabercafé, in dem nur Männer sitzen, aber immerhin ist der Patron wohl ein Araber oder ein Franzose arabischer Herkunft. Während die beiden ihre Pizza teilen, setzt sich Rachid an einen der Tische und fängt an, sein mitgebrachtes Mittagessen zu essen, Reis oder Couscousgrieß mit etwas Gemüse, so viel ich sehen kann, ich glaube nicht, dass er es vorher warm gemacht hat, und ich sehe auch nirgendwo einen Mikrowellenherd.

Wie kann er bloß von diesem Café leben? Der Espresso kostet einen Euro. Sind hier zu anderen Tageszeiten vielleicht mehr Kunden?

Eine Gelegenheit, mit Rachid ein Gespräch anzufangen, ergibt sich auch diesmal nicht; nicht, dass er unnahbar oder abweisend wäre, auch schüchtern wäre nicht das richtige Wort. Er ist einfach sehr zurückhaltend.

Du, ich mag den sehr gern, den Rachid, sage ich zu Thierry, als wir wieder draußen sind, und es ist klar, dass Thierry ihn auch mag.

Er lacht. Oje, jetzt verliebt sie sich auch noch in einen Algerier, das musste ja früher oder später passieren. Also die Frau, die ist jetzt völlig abgedriftet. Diese komischen Gewaltmärsche durch die Banlieues, das ging ja noch, war sogar ganz interessant, aber jetzt hat sie sich auch noch in einen Algerier aus Stains oder Pierrefitte oder sonst woher verknallt, ich sag dir, das geht jetzt aber langsam ein bisschen zu weit.