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Diesmal wollen wir unsere Kreise etwas ausweiten, von Villepinte nach Aulnay-sous-Bois und Sevran, doch der RER B hält nicht in Villepinte, sondern fährt weiter bis Parc des Expositions, kurz vor dem Flughafen Roissy-Charles de Gaulle. Macht nichts, dann gehen wir eben von hier aus los. Der Parc des Expositions, das sind Messehallen, hier finden große Handelsausstellungen statt, und prompt sehen die Passagiere anders aus als an den Stationen davor, die meisten von ihnen sind hellhäutig und im Business-Look. Es ist eine der wenigen Vorstädte, in denen ich schon einmal gewesen bin, allerdings nur ein einziges Mal, und zwar, als ich zu Ikea wollte. Für Leute ohne Auto gibt es die Möglichkeit, von hier aus einen Bus zu nehmen; von der Vorstadt habe ich damals so gut wie nichts gesehen. Thierry und ich machen uns wie immer zu Fuß auf. Nicht in Richtung Messe, sondern nach Aulnay-sous-Bois, wo Thierry mir die ehemalige Cité des 3000 zeigen will (gleiches Prinzip wie in La Courneuve, bloß anstatt der viertausend nur dreitausend Wohnungen, und auch hier ist ein Teil der Hochhäuser inzwischen abgerissen worden), eine Wohnsiedlung, die mittlerweile in Cité de la Rose des Vents umgetauft wurde.

Klar, Windrose klingt besser als 3000, spottet er, das bringt doch gleich ein bisschen Poesie in die Sache.

Kaum haben wir ein paar Bürogebäude hinter uns gelassen, geraten wir schon wieder in Gegenden, die eindeutig nicht für Fußgänger gemacht sind. Zu-Fuß-unterwegs-Sein ist in der Vorstadt nicht vorgesehen, von Flanieren ganz zu schweigen, überall sind Autos, Autos über uns, Autos neben uns, Autos von links, Autos von rechts, wieder geht es durch ein Industriegebiet und an einer Baustelle entlang, wieder gelangen wir an eine Autobahnunterführung, und wieder fragen wir uns, wie wir bloß hierher geraten sind. Thierry sagt: Da hat sie schon wieder ihrer Leidenschaft für die unwirtlichsten Orte der Banlieues nachgegeben. Von Gehsteigen keine Spur, wir stapfen durch das welke Laub, das sich an den Straßenseiten häuft. Gehen, wo niemand geht, scheint unsere unausgesprochene Devise. Aber egal, wo du auch bist, irgendwann kommst du immer an einen Kreisel, und tatsächlich, ein Kreisel taucht auf, und an dem Kreisel sogar eine Bushaltestelle, Citroën Productions Aulnay-sous-Bois steht daran, wir sind also schon in Aulnay angelangt. Die Haltestelle besteht aus nichts als einem Schild, keine Bank, kein Dach. Keiner wartet hier um diese Zeit auf einen Bus, doch in wie einsame Gegenden auch immer wir uns verirren, und so allein wir uns auch glauben mögen: Überall stoßen wir, wenn auch nicht unbedingt auf den ersten Blick, auf Artgenossen. Mehr noch: Umso einsamer es irgendwo wirkt, umso sicherer kann man sein, auf Menschen zu treffen; und so entdecken wir ein paar Migranten, die an dem Kreisel stehen, zwei, drei jüngere fahren mit E-Rollern vorbei.

Wir biegen links ab.

Schau mal, da kommt ein Weg raus!, sagt Thierry, auf ein Wäldchen deutend. Wir sind die ganze Zeit an einem Park vorbeigelaufen! Statt an dieser Nationale Soundsoviel ohne Gehsteig hätten wir ganz bequem durch einen Park spazieren können. Aber du wolltest natürlich wieder den Hardcore-Weg nehmen!

Er amüsiert sich bestens, doch weiß ich genau, dass auch er lieber querfeld-, nein querstraßenein als über einen ausgeschilderten Spazierweg geht.

Auf dem Asphaltstreifen, der jetzt neben der Fahrbahn verläuft, kommt uns ein junger schwarzer Mann auf einem E-Roller entgegen, der wie die meisten jungen Männer der Banlieues, die ich bisher gesehen habe, schwarz gekleidet ist: schwarze Jeans, schwarzer Hoodie mit tief über den Kopf gezogener Kapuze, und vor dem Gesicht oder besser um Hals und Kopf herum ein bis über die Nase reichendes enges Teil, das vielleicht ein wenig wärmen mag, dessen Hauptfunktion aber darin zu bestehen scheint, das Gesicht zu verdecken. Kein Kleidungsstück für Alpinisten, sondern für Banlieue-Bewohner. Der junge Mann fährt schnell und ohne uns anzuschauen an uns vorbei. Über dem dünnen schwarzen Stoffband, das sein Gesicht verdeckt, lugen weiße EarPods hervor, deren Enden wie zwei dicke Tränen seine Wangen hinunterfließen. Schwarzer Mann weint weiße Tränen, nein, das Bild ist allzu kitschig, wenn nicht Schlimmeres, und ich behalte es lieber für mich, aber in den folgenden Monaten wird es mir immer wieder in Erinnerung kommen wie ein hartnäckiges, aufdringliches Sinnbild, das hier an dieser Nationalstraße blitzlichtartig vor mir aufgezuckt ist und gegen dessen Wiederkehr ich mich nicht wehren kann.

Wir gehen an dem alten Velodrom vorbei zur Cité de la Rose des Vents, wo ein Freund von Thierry wohnt, Adama, der tagsüber aber in Ivry-sur-Seine, im Süden von Paris, bei der Arbeit ist. (Die Wege von einer Vorstadt in die andere sind eine Strafe für sich, sagt Thierry, und tatsächlich ist sein Heimweg bis Pantin am Ende unserer Streifzüge umständlicher und langwieriger als meiner nach Paris). Es sind nicht viele Leute auf der Straße, vor allem auffallend wenige Männer und auch keine chouffeurs. Thierry erklärt mir, dass gerade die Zeit des Freitagsgebets sei und dass es danach wieder belebter werde.

Mit Adama und dessen Freunden habe er hier an warmen Abenden öfter bis in die späte Nacht hinein auf Plastikstühlen vor der Siedlung gesessen, gleich gegenüber der wie immer den Wohnblöcken beigestellten Kirche.

Ob wohl auch ich hier einmal an einem Sommerabend sitzen könnte mit Thierry und Adama und dessen Freunden?

Thierry meint, ja, kein Problem, man müsse nur jemanden kennen aus der Cité, der einen einführe.

Auch als Frau?

Vielleicht nicht als eine aus der Siedlung, aber bei mir gehe das schon.

Ich frage ihn (und mich), ob ich die Leute überhaupt verstehen würde, es ist ja ein eigener Jargon, beinahe eine eigene Sprache, die sie hier sprechen und der ich Mühe habe zu folgen, wenn ich die Kids in der Metro untereinander reden höre.

Thierry ist zuversichtlich: Du wirst sie schon verstehen, so schwierig ist das nicht.

Ich bin gespannt, gebe aber zu (vor mir selbst, nicht vor Thierry), dass mir die Aussicht auf einen solchen Abend auch Angst macht. Nicht, dass ich um Leib und Leben fürchten würde. Vielmehr stelle ich mir vor, dass ich den ganzen Abend über als ungeschickter Fremdkörper, als eine, die weder über die gängigen Umgangsformen verfügt noch über eine Sprache, die sie nicht von den anderen trennt, still daneben sitzen würde. Aber der Sommer ist noch weit, und es ist alles andere als sicher, ob ein solcher Abend je zustande kommen wird.

Wie es stets eine kleine, verschlossene Kirche gibt, so gibt es auch, meistens unsichtbar, weil sehr unauffällig in einem modernen Haus oder Hinterhof untergebracht, eine Moschee. Und irgendwo ist immer eine Ecke mit ein paar Läden (auf die Idee, so etwas »Ladengalerie« zu nennen, könnte nur jemand kommen, der eine solche Ecke noch nie gesehen hat), meist wenige kleine Geschäfte, ein Mini-Market, eine Bäckerei. Hier aber steht ein richtiger Supermarkt mit zwei großen Gipsdrachen davor, daneben eine Halal-Metzgerei und ein Männer-Café.

Warum gibt es in Paris alle zweihundert Meter einen Supermarkt, entweder Franprix oder Carrefour oder Monoprix oder alle drei, und warum hat es keine dieser Ketten bis hierher, in diese Wohngegenden, geschafft?, frage ich Thierry. Die gibt es schließlich auch sonst im ganzen Land!

Die trauen sich hier nicht her, hier wird geklaut und kaputt gemacht, und die Kunden haben kein Geld. Es sind meistens Araber, die hier Läden haben.

Aber der hier ist chinesisch.

Gut, die Chinesen, die sind überall, an denen gleitet das alles ab.

Aber wohnen die auch hier?

Er zuckt mit den Schultern.

Die bleiben unter sich, wie jetzt alle. Zu meiner Zeit war es noch durchmischt, aber das ist vorbei. Die Malier mit den Maliern, die Tunesier mit den Tunesiern, die Algerier … Mit den anderen wollen sie nichts zu tun haben.

Inzwischen sind wir dem Zentrum von Aulnay näher gekommen, und da ich mich gerne ein bisschen ausruhen würde, biegen wir in eine kleinere, recht friedlich wirkende Wohnanlage ein und setzen uns auf eine Bank, eigentlich nur eine Holzplanke vor einem Spielplatz, wo eine unverschleierte junge Frau aufpasst, dass ihre drei Kinder nicht von den Geräten purzeln. Abgesehen davon ist nur noch ein sehr junges Paar zu sehen. Wie alt könnten die beiden sein – vielleicht vierzehn, fünfzehn? Das Mädchen ist in einen Schleier gehüllt, es ist klein und hat noch ein wenig Babyspeck. Weil die beiden sehr verliebt und ausschließlich mit sich selbst beschäftigt sind, kann ich in aller Ruhe ihren Liebesspielen zuschauen. Eines davon besteht darin, sich gegenseitig hochzuheben. Der Junge schafft das spielend und freut sich gleichermaßen an der engen Berührung und an seiner Kraft; mehrmals hintereinander hebt er sich das verschleierte Mädchen wie einen Kartoffelsack über die Schulter, wobei das Mädchen leise quietscht, wie es von jeher – nur meistens lauter – gepiesackte Teenagerinnen tun. Auch sie versucht, ihren Freund hochzuheben, schafft es aber zu ihrer beider Freude nur ein paar Zentimeter über den Boden. Die beiden tauschen zärtliche Gesten und leicht aufgedrückte Küsschen.

Wie ist das denn möglich, frage ich Thierry halblaut. Ist das nicht total verboten und verpönt? Darf sie sich denn mit ihrem Freund in der Öffentlichkeit so zeigen, wenn sie verschleiert ist?

Wahrscheinlich ist sie nicht von hier. Nicht aus der Siedlung.

Ach so, man darf also schon gesehen werden, aber nicht von den Seinen, ja?

Die würde sich das nie erlauben, wenn ihre Familie hier leben würde.

Wir gehen weiter in Richtung des Bahnhofs Sevran-Beaudottes, es ist ein sonniger, aber wieder sehr kalter Tag heute, und ich wundere mich, gegenüber einer zehnstöckigen, anscheinend noch nie renovierten Wohnsiedlung aus den Achtzigern eine ältere schwarze Frau auf einem Klapphocker sitzen zu sehen, vor sich auf einem umgedrehten Karton kleine Türme aus Tupperware-Dosen mit Essen, selbst zubereitetem, nehme ich an, das sie den Passanten auf einer völlig menschenleeren Straße zum Verkauf anbietet – nur gibt es eben keine Passanten bis auf uns, die wir zwar Hunger, aber keine Lust auf eine gekochte, kalte Mahlzeit haben. Die Dosen können nur für Kunden aus der Nachbarschaft gedacht sein, die sich das Essen zu Hause aufwärmen können.

Bevor wir zum Bahnhof kommen, wird es wieder chaud, Thierry hat ein untrügliches Gespür dafür, jedenfalls bin ich bereit, es für untrüglich zu halten. In den Siedlungen sieht er die chouffeurs an den Ecken und die Leute, die in ihren geparkten Autos sitzen, er hat die Balkone im Blick und sogar die Dächer, während ich mich oft gar nicht traue, hinzuschauen, um nicht als Auswärtige und zudem noch neugierige und nicht züchtig auf den Boden blickende Frau aufzufallen, wie es in meiner Klischee-Vorstellung von Frauen hier erwartet wird. (Dabei habe ich jedes Mal, wenn ich doch mal aufmerksam irgendwo hinschaue, das Gefühl, als achte niemand besonders auf mich, ja eigentlich sogar, als sei ich unsichtbar.) Doch glaube ich Thierry gerne, dass hier nicht alles in Ordnung ist. Wo sonst haben die Erdgeschosse Balkone? Engmaschig vergitterte Balkone, die genau auf der Höhe des Gehsteigs liegen und auf deren Mauern die Feuchtigkeit dunkelgrüne Bergkonturen gezeichnet hat? Auf einem dieser vergitterten Erdgeschossbalkone sitzt, in eine Zeitung oder ein Kreuzworträtsel vertieft, ein älterer Mann. Viel ist nicht von ihm zu sehen, er trägt, obwohl Corona mehr oder weniger ausgestanden und er allein auf seinem Balkon ist, eine medizinische Maske und auf dem Kopf eine Schirmmütze. Ein großes, ehemals weißes Sofa aus Lederimitat steht vorne an der Hauswand zwischen zwei geschlossenen Klappfensterläden, und jetzt sehe ich auch die chouffeurs, nicht auf dem Sofa, aber vor einem Hauseingang. Zwei junge Typen fangen an, sich zu prügeln, ein paar andere stehen dabei und schauen ungerührt zu. Auch auf der anderen Straßenseite gibt es Krach, aber zwischen zwei Frauen, von denen die eine einen breitkrempigen Hut trägt und die andere einen Schleier. Wir können sie zwar nicht verstehen, aber wir sehen ihre vorwurfsvollen, verächtlichen Gesten, die Thierry später sehr gut nachzuahmen weiß.

An der Bahnstation Sevran-Beaudottes herrscht ein reger Handel: Einkaufswagengrills und Hähnchenspieße, Handy-Kabel, Zigaretten, Erdnüsse in ihren Schalen. Wir fahren hungrig zurück, und erst jetzt, beim Aufschreiben, frage ich mich: Warum haben wir eigentlich nicht diese Hähnchenspieße probiert?