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In »unserem« Café sind heute Vormittag nicht wenige Gäste, die wir und die uns freundlich grüßen und die zusammenrücken, um uns Platz an der Theke zu machen. Rachid ist zwar nicht da und, da er keine Angestellten hat, auch sonst keiner, der bedienen würde, aber niemand stört sich daran. Vor der Schmalseite der Theke steht einer, vielleicht ein Rentner, der sprechen möchte, aber nicht kann, er versucht zu sprechen, gibt sich die größte Mühe, doch die Worte werden von irgendeiner Kraft in seinem Mund zurückgehalten und zerstampft, sodass sie als undeutlicher Wortbrei herauskommen, was ihn jedoch nicht zu stören scheint, er nimmt dieses Hindernis sehr geduldig auf sich. Nur manchmal, wenn es ihm partout nicht gelingen will, etwas herauszubringen, wird er kurz ein bisschen ärgerlich.

Wieder sind da die Hinkende mit ihren Krücken und der Mann in seinen Dreißigern von neulich, ein Arbeitsloser, der Marokkaner oder Algerier sein könnte, außerdem ein Paar um die Fünfzig vor zwei Gläsern Weißwein. Am hinteren Ende der Theke steht ein junger Mann mit dünnen, halblangen Haaren, der in Begleitung seines Smartphones gekommen ist und sich nicht in die Gespräche mischt. Er trinkt einen Espresso, und als Rachid wiederkommt, bestellen wir auch einen. Er kommt von draußen und beeilt sich, und zum ersten Mal bemerke ich, dass er einen steifen Rücken hat; er beugt sich nicht hinunter, wenn er aus den unteren Schränken etwas braucht, sondern geht in die Knie.

Das Café ist eine kleine Welt für sich, ein familienartiges, aber nach außen offenes Gebilde. In den meisten innerstädtischen Cafés ist es ein ständiges grußloses Kommen und Gehen, während es hier, auch weil der Raum so klein ist, unmöglich scheint, ohne ein Wort einzutreten und sich einfach an einen Tisch zu setzen. Doch nicht nur, dass sich die Gäste hier grüßen, und zwar jeder jeden; nicht wenige geben beim Hereinkommen den Anwesenden sogar die Hand. Und auch wir werden uns allmählich, ganz allmählich, in mitteilsame und zuhörende Teile dieser kleinen Gesellschaft verwandeln. Es ist erstaunlich, was diese unter Rachids Obhut für eine mächtige Wirkung entfaltet: Jetzt, da das Café in Worten und Bildern vor mir steht, zieht es mich sofort wieder hin, ich möchte aufspringen und mich auf den Weg machen, und auch die Erinnerung daran, wie es an diesem Tag weitergeht, mindert nicht diesen Drang. Neben mir steht der zu dem Paar gehörige Mann, ein großer, kräftiger Typ mit rötlichem Teint, mit großer Wahrscheinlichkeit ein Franzose, jedenfalls kein Maghrebiner. Verächtlich schnippt er die vor ihm auf der Theke liegende Zeitung weg, Le Parisien, deren Schlagzeile heute lautet: »Covid: Eine Krankheit wie jede andere?«

Haben die das jetzt auch endlich gemerkt!, schnaubt er. Das Fragezeichen hinter dem Titel scheint er nicht bemerkt zu haben. In der Hoffnung, mal mit jemandem ein Gespräch anzufangen – denn inzwischen ist mir klar geworden, dass dies ein Ort ist, an dem ich als Frau durchaus auch den Mund auftun kann –, sage ich: Ich glaube, ich bin die Einzige, die diese Krankheit noch nicht gehabt hat, und tatsächlich wendet mein Nachbar sich mir zu.

Was für ein Riesenbetrug die Impferei gewesen sei, sagt er. Aber bald würden herrliche Dinge geschehen! Die ganze Clique dort oben werde verschwinden, und dann würden sehr schöne, herrliche Dinge passieren, natürlich nicht denen, die sich mit diesem Scheiß hätten spritzen lassen, die würden krepieren, Entvölkerung hätten die da oben das genannt, dabei sei das ein Klacks, dieses Corona, gerade mal zweihundert Meter von hier wachse ein großer Busch Beifuß, das Kraut helfe sehr gut. Ansonsten Paracetamol, im schlimmsten Fall Chloroquin, mehr brauche man wirklich nicht, es sei ganz harmlos, seine Frau und er hätten es längst gehabt.

Beifuß, ach so, warum hat mir das keiner gesagt?, werfe ich dazwischen, immer noch in der Hoffnung, es würde sich ein Gespräch ergeben; stattdessen spinnt er bloß ungestört seinen Faden oder besser sein Seil weiter: Diese jämmerliche, kleine Welt mit diesen Leutchen dort oben, das alles werde zusammenbrechen und weggewischt werden, wir Gelbwesten, wir Streikenden, wir würden bloß darauf warten. Ein kleiner Stoß noch und dieses faule Gemäuer werde in sich zusammenfallen, alles werde gratis sein, der Arzt, die Behandlungen, alles, und sein Gesicht strahlt dabei, wie von innen mit einer roten Glühbirne erleuchtet oder von einem himmlischen Lichtstrahl getroffen, seine Begleiterin stimmt ihm zu, sie heben ihre Gläser, und ich sage passenderweise: Santé – Gesundheit (zum Wohl).

Während dieses Endzeitmonologs hat Rachid angefangen, mit dem Mann ohne Worte Domino zu spielen. Ohne dass dieser ihn in einer für mich sichtbaren Weise dazu aufgefordert hätte, hat Rachid eine Schachtel mit Dominosteinen aus dem Regal hinter sich hervorgeholt und die Steine mit dem Punktegesicht nach unten auf der Theke gemischt. Es ist offensichtlich, dass die beiden nicht zum ersten Mal zusammen spielen. Zu Beginn der Partie hat der Mann ohne Stimme eine Schachtel Zigaretten aus der Tasche gezogen und angefangen zu rauchen. Mir ist es erst nicht weiter aufgefallen, doch jetzt merke ich, dass hier im Café ganz selbstverständlich geraucht wird. Rachid stellt jedem, der einen braucht, einen Aschenbecher hin. Er selbst raucht nicht, er lüftet nur manchmal, wenn ihm der Rauch zu viel wird.

Ich schaue den beiden beim Domino-Spielen zu, auch der Marokkaner (oder Algerier) sieht hin. Das Zuschauen hat etwas Beruhigendes: das Nachdenken über den nächsten Zug, die langsamen Bewegungen, die wachsende Dominoschlange, die sich um die Thekenecke windet. Der Mann ohne Worte raucht, und manchmal ergreifen ihn Hustenanfälle. Es geht mir zu Herzen, wie fürsorglich Rachid ihn behandelt, wie er ihm ein Wasserglas hinstellt, wie er wartet, wie besorgt er ihn ansieht. Mit Rachid ist der Mann nicht ganz ohne Worte, Rachid kennt ihn und versteht ihn besser als die anderen. Zwischendurch, wenn der Mann ohne Worte am Zug ist, spült Rachid mit der Hand das bisschen Geschirr ab. Zugleich aber kümmert er sich immer wieder auch um die anderen Gäste, von denen die meisten ihn allerdings selten rufen und Ewigkeiten vor ihrem Espresso stehen. Zu essen gibt es nichts im Café. Wenn jemand zahlen will, zieht Rachid ein kleines Portemonnaie hervor; die alte Kasse vorne an der Theke scheint nicht mehr in Gebrauch zu sein.

Der Umstürzler mit dem Glühbirnengesicht ist mit seiner Frau wieder abgezogen. Keiner hat sich an seinen Reden gestört, keiner ist darauf eingegangen, vermutlich haben sie sie schon öfter gehört. Nach ihrem Weggang verschieben sich die Plätze, Thierry und ich sind aufgerückt, sitzen jetzt neben den Dominospielern, und Thierry erzählt mir von seiner letzten Reise zu seiner Familie in Algerien, und zwar absichtlich so laut, dass Rachid ihn hören kann. Und tatsächlich reagiert dieser auch gleich, er dreht den Kopf zu uns und fragt:

Sie sind Algerier?

Wir sind die Einzigen hier, die er siezt, aber immerhin ist es das erste Mal, dass er sich an uns, vielmehr an Thierry, richtet.

Sieht man Ihnen gar nicht an, meint er.

Dabei siehst du deinem Vater ähnlich, sage ich zu Thierry gewandt, dessen Vater ich vor Jahren ein paar Mal gesehen habe.

Und das ist auch schon mehr oder weniger alles, was an diesem Tag zwischen ihm und uns an Worten ausgetauscht wird, aber es ist doch ein erstes Band, wie ein unausgesprochenes Einverständnis zwischen den beiden, das mich auch ein bisschen mit einbezieht.

Hast du gesehen?, fragt Thierry, als wir wieder draußen sind. Ein kleiner Fortschritt.

Glaubst du, er ist Algerier?

Thierry ist sich nicht ganz sicher.

Könnte schon sein. Aber irgendwas ist anders.

Abwarten.

Wir wollen zum Muslimischen Friedhof in Bobigny, auf dem Boughéra El Ouafi, der Marathonläufer, begraben liegt. Es ist ein weiter Weg, auf dem sich Thierry noch eine weitere Olympia-Baustelle ansehen will.

Wie bist du eigentlich dazu gekommen, diesen Auftrag über die Olympischen Spiele anzunehmen?, frage ich ihn. Was interessiert dich daran?

Er antwortet nicht.

Kann es sein, dass es in deinem Film um etwas ganz anderes gehen soll?

Er zieht ein Gesicht, als sei ich auf einer richtigen Spur, warm, aber nicht heiß, doch als könne er mir leider keine weiteren Hilfestellungen geben. Ich frage mich, ob dieses Filmprojekt nicht von vornherein ein Vorwand war und er nicht einfach leidenschaftlich gerne die nördlichen Vorstädte zu Fuß erkundet, wobei ihm meine Gesellschaft sehr willkommen ist.

»Fort de l’Est« steht auf einem Schild kurz nach der Autobahn A1, unter der wir durchgelaufen sind, ein militärisches Gelände, das von der Autobahn aus angeblich gut zu sehen ist, doch der Zugang ist versperrt, und wir sind nun einmal Fußgänger und sehen die Festung also nicht. Auf der Böschung neben der Straße schauen ein Löffel und eine Gabel aus der Erde.

Um Paris herum gibt es nicht nur mehrere Ringe von Autostraßen, sondern seit der Mitte des 19. Jahrhunderts auch einen Ring von Festungen, und später lese ich, dass in dem unseren Blicken verborgenen Fort de l’Est während des Algerienkriegs ein Militärgericht tagte, vor dem unter anderem Mitgliedern der Organisation de l’armée secrète der Prozess gemacht wurde, Franzosen also, die mit gewaltsamen Mitteln die abtrünnige algerische Kolonie behalten wollten (auch die ehemalige Résistance-Kämpferin und Streiterin für die algerische Unabhängigkeit Anne Beaumanoir hätte sehr gut zu den OAS-Opfern zählen können). Der von einem solchen Gericht zum Tode verurteilte Jean-Marie Bastien-Thiry zum Beispiel hielt Charles de Gaulle für einen gefährlichen Marxisten. Zusammen mit ein paar anderen verübte er einen Mordanschlag auf den Präsidenten, weil dieser den Algeriern ein Referendum in Aussicht gestellt und ihnen damit den Weg in die Unabhängigkeit geöffnet hatte. Vergeblich versuchte Jean-Marie Le Pen, ihn aus der Festung zu befreien, der Mann wurde 1962 erschossen. Als ein Jahr später in der Kathedrale Notre-Dame eine Messe für ihn gelesen wurde, saß Jean-Marie Le Pen unter den Gläubigen (unter den weiter an das Kolonialreich Glaubenden).

1968 wurde der Attentäter amnestiert; seine Auszeichnungen und Orden wurden ihm posthum wieder angehängt. Heute betreiben die Anhänger eines französischen Algerien eine Website zu seinen Ehren, auf der sich unter anderem die Aufzeichnung einer Erklärung findet, die er während des Prozesses abgab und in der er in gemessen-kaltem Stakkato den versuchten Präsidentenmord rechtfertigt.

Ich versuche zum ersten Mal in meinem Leben, mich in einen Offizier der französischen Armee hineinzudenken, in einen dieser Oberstleutnants und Generäle, die sich damals dem OAS anschlossen und einen Staatsstreich planten: Da waren sie ihr ganzes bisheriges Militärleben lang bereit gewesen, ihr Leben »für Frankreich«, das heißt für die Kolonialmacht Frankreich zu lassen; waren in Indochina stationiert gewesen, in Algerien und auf den Komoren; hatten gekämpft, damit die Kolonien erhalten würden und der französische Staat großmächtig bleibe; das Prinzip der Kolonialherrschaft war ihnen von jeher als ein gutes und richtiges dargestellt worden – gewiss, es ging um Macht und Herrschaft, aber, so lautete ihr Auftrag, auch um eine zivilisatorische Mission –; in Algerien hatte ihnen die oberste Befehlsgewalt von Anfang an befohlen, die Aufstände niederzuschlagen, und viele waren dabei gestorben. Jahrelang ging das so. Und dann, ohne dass eine militärische Niederlage vorausgegangen wäre, hieß es plötzlich von alleroberster Stelle: Kehrtwende. Wir ziehen uns zurück und lassen den Algeriern ihre Unabhängigkeit.

Wofür haben sie denn nun jahrelang ihr Leben riskiert, wofür sind ihre Kameraden gestorben? Ist es nicht nachvollziehbar, dass einige dieser Männer durchgedreht sind? Nachvollziehen heißt nicht entschuldigen, nur erspüren, wo dieser Wahnsinn herrühren könnte. Wie kann man denn seinen Offizieren über Jahrzehnte, nein, Jahrhunderte eintrichtern, dass sie für Frankreich Land erobern und besetzen und dafür eventuell auch sterben wollen müssen, und sich anschließend wundern, wenn sie diese Eroberungen nicht wieder hergeben, sondern behalten wollen? Ist das nicht völlig verrückt? Heute sollen sie dafür sterben, dass Algerien Frankreich erhalten bleibt, am nächsten Tag werden sie dafür hingerichtet.

Wir gehen die Rue du Maréchal Lyautey und damit im Grunde auch wieder an Kolonien entlang: Tonkin, Madagaskar, Marokko, Algerien sind die Einsatzgebiete dieses 1934 gestorbenen hohen französischen Offiziers, der als besonders human gilt und das wahrscheinlich auch war, der aber zur Aufgabe hatte, das französische Kolonialreich auszudehnen und die eingenommenen Gegenden zu »befrieden«, also den Widerstand zu unterbinden.

Über einem Fenstergitter hängen mehrere Lagen Wäsche übereinander zum Trocknen aus. Wieder einmal halten wir lange vergeblich Ausschau nach einer Bäckerei, doch als wir schließlich an einer vorbeikommen, muss ich lachen, weil Thierry einen kurzen Blick durch das Schaufenster wirft und sagt, C’est des rebeus – das sind Araber, und weitergeht.

Hey, sag mal, das sind doch deine Cousins! Aber ihre Sandwiches verschmähst du, soso.

Ich mache mich weiter ein bisschen über ihn lustig, weil er so oft seine Zugehörigkeit zur Banlieue und zu Algerien unterstreicht und sich von den weißen Franzosen und den Parisern absetzt, sich aber in allem Möglichen sehr französisch und eigentlich auch nicht wenig pariserisch geriert, vom Bio-Baguette, das er gerne kauft, über die Ausstellungen, die er sich anschaut, bis zu der renommierten Pariser Hochschule, an der er einen Abschluss gemacht hat.

Und wer von uns hat aus seinem Wohnzimmer den Blick auf den Sacré Cœur, sagt er prompt, du oder ich? Bist du in der Cité des 4000 groß geworden? Und bist du vielleicht in der Schule als dreckiger Araber beschimpft worden?

Ich lache noch ein wenig, gebe aber klein bei, auch wenn der Sacré Cœur bei mir zu Hause in weiter Ferne schwebt. Manchmal ist die Kirche auch von der Banlieue aus in noch weiterer Ferne zu erkennen, und jedes Mal, wenn ihre Kuppel am Horizont auftaucht, ruft Thierry: Ah, ah, jetzt wirst du wieder nostalgisch, gell? Dort drüben! Dein Zuhause! Und er streckt seine langen Arme sehnsuchtsvoll in Richtung Sacré Cœur aus. Wir lachen, und ich sage: Ich weiß, ich weiß, du wohnst ja hier draußen in einer Abriss-Siedlung und schmeißt deinen Sperrmüll immer gleich aus dem Fenster raus.

Wir durchqueren Aubervilliers und wundern uns über die »Frauen willkommen«-Aufkleber, die an manchen Cafés kleben, gehen aber trotzdem nicht hinein. Auch hier gibt es eine Festung, das Fort d’Aubervilliers – ob da auch Frauen willkommen sind? Tatsächlich ist das Gelände nicht abgesperrt, auch militärisch wird es nicht mehr genutzt, sondern ist ein »pluridisziplinärer Kulturort«, Point fort genannt, an dem im Winter nur ein paar vereinzelte Leute herumwerkeln, aber wir können uns einen Teil der Befestigung anschauen, wobei uns vor allem die auf einem abgesperrten Gelände stehenden leeren Hochhaustürme dahinter faszinieren: fünf dreckig-beige, oben zinnenartig abschließende Betongebäude, dem Anschein nach schon lange verlassen und vermutlich auf ihren Abriss wartend; Reihen über Reihen hoher, schmaler Fenster, darüber halb oder ganz geschlossene Rollläden, Vertiefungen in Fensterform, wo gar keine Fenster sind.

Thierry kann sich nicht losreißen: Wie könnte man sich hier Zugang verschaffen? Ein idealer Drehort wäre das, dort oben auf dem Dach.

Wir rätseln über die Funktion der Gebäude, Thierry vermutet ehemalige Verwaltungseinrichtungen, ich einen postapokalyptischen Überlebensort. Am Ende stellt sich heraus, dass die Türme ehemals Kasernen und Teil des Militärgeländes waren, und später finde ich sogar eine Facebook-Gruppe, in der Gendarmen, die hier einmal stationiert waren, ihre Erinnerungen austauschen.

Als wir das Festungsgelände verlassen, macht mich Thierry auf zwei Männer aufmerksam, die an der Straße stehen und warten.

Autoreparateure, sagt er.

Ich schaue mir die womöglich aus Osteuropa stammenden Männer genauer an, sie haben Rucksäcke dabei und tragen Wollmützen, Turnschuhe und dunkle Anoraks.

Und wie kann irgendwer ahnen, dass das hier Autoreparateure sind?, frage ich Thierry.

Die Leute wissen das, ich weiß es ja auch. Ich hab sie schon öfter gesehen, die stehen jedes Mal hier, wenn ich vorbeifahre. Das etabliert sich mit der Zeit, man sieht sie hier stehen und Autos reparieren.

Und wenn sie gerade keins reparieren, weiß man, dass sie auf Kundschaft warten?

So ist es.

Und wieso gerade hier?

Na, irgendwo müssen sie ja stehen. Und hier kommen viele Autos vorbei, und es ist Platz zum Anhalten.

Wir wenden uns nach Norden und streifen, nun in Bobigny, durch eine Cité, die einerseits neun sternförmige Wohntürme umfasst, wobei man die dreizackigen Sterne allerdings nur sieht, wenn man aus dem Himmel oder im Internet darauf schaut, und eine gewaltige Betonschlange andererseits. Die Betonschlange der Cité des Courtillères mit ihrer sauberen, mit kleinen Glaskacheln in wechselnden Pastelltönen verkleideten Fassade ist frisch renoviert und schmuck und gefällt Thierry nicht besonders, er mag es lieber, wenn die chouffeurs an allen Ecken stehen. Aber sie erinnert ihn an eine andere, die er mir bei Gelegenheit zeigen will, auch in Bobigny.

Nach den Sternen und der Schlange kommen gewöhnlichere und niedrigere Sozialwohnungsbauten aus den Fünfzigern, Cité du Pont de Pierre genannt, und davor die Große Moschee von Pantin, die man, wenn man es nicht wüsste, für eine mit Billigmaterialien gebaute Lagerhalle halten würde. Über eine Wiese gehen wir daran entlang und entdecken an der Seite des Gebäudes ein kleines Schild, auf das jemand mit der Hand »Femmes« geschrieben und einen Pfeil daneben gemalt hat: Hier geht es also zu einem gesonderten Eingang für Frauen.

Ist ja schön von euch, dass ihr sie auch reinlasst, sage ich. Wenn auch nur durch ein Hintertürchen.

Fehlte nur noch, dass sie den Haupteingang nehmen!, lacht Thierry.

Wir sind jetzt in der Nähe der Olympia-Baustelle, die Thierry sehen wollte, streifen aber erst noch zwischen den Sozialwohnungen herum, niedrige, heruntergekommene Plattenbauten, in einem davon hat es gebrannt, über drei Stockwerke hinweg ist die Fassade völlig verkohlt. Daneben eine kleine Kirche, die aus der gleichen Zeit wie die Siedlung stammt, eine Ecke, an der es irgendwann mal ein Centre médical und ein paar Geschäfte gegeben hat: Alles schläft seit Jahren hinter vor sich hin rostenden Eisenvorhängen.

Und dann, an einem der Wohnblöcke, in der Rue Rameau, eine verrostete Plastiktafel: »Hier ist 1959, erschaffen von Albert Uderzo und René Goscinny, Asterix geboren. Albert Uderzo wohnte damals an dieser Adresse.«

Hier ist Asterix geboren! Im Französischen heißt geboren () auch: entstanden, doch die wörtliche Übersetzung macht ihn lebendig und zu einem Bewohner dieser Siedlung; Asterix, ein Baby, das in einem Kinderwagen über diesen Gehweg geschoben wird.

Was Albert Uderzo nicht weiß und ich auch nicht, als ich vor Asterix’ Geburtshaus stehe, ist, dass nur zwei Minuten weiter, dort wo heute die Olympia-Baustelle ist, die Überreste eines gallischen Dorfes gefunden wurden; und unter dem angrenzenden Krankenhaus Avicenne eine fünfhundert Gräber umfassende gallische Nekropole, die größte Europas. Ist es nicht, als wäre Asterix hier – nicht geboren, sondern wiederauferstanden?

Mindestens ebenso merkwürdig ist, wie dieses Netzwerk der Zufälligkeiten sich weiterspinnt, denn das Gallische ist fortan räumlich mit dem Muslimischen verknüpft. Das Dorf liegt nah der Moschee und die Nekropole auf dem Gelände eines Krankenhauses, das ursprünglich das »franko-muslimische« war. Beide liegen sie in Bobigny, also in einer der Vorstädte, in der viele (oder deren Vorfahren) aus ehemaligen französischen Kolonien stammen. Lange war es amüsant oder schockierend, dass auch die französischen Schulkinder auf den Antillen oder in einem Dorf der Kabylei die Geschichte »unserer Vorfahren, der Gallier« lernen mussten, ebenso wie die Einwandererkinder in den Pariser Vorstädten. Hier, in dieser Ecke von Bobigny, stellt sich heraus, dass Letztere auf ihren vermeintlichen Vorfahren gehen und stehen. Als Einheit (die Gallier) gibt es diese Vorfahren zwar nicht und hat es sie auch nie gegeben, weil sie auch damals schon nichts anderes als ein Durcheinander von Stämmen und Völkern waren – was eine solche Abstammung auch bei den einwandfrei französischen Kindern zweifelhaft macht; umso mehr natürlich bei afrikanischen Einwanderern. Aber davon einmal abgesehen: Macht man sich, wenn man irgendwo einwandert, die Geschichte eines Landes zu eigen? Wird man von den fremden Vorfahren quasi posthum adoptiert? Behält man seine angestammten Ahnen trotzdem bei? Erweitert sich die Familie einfach? Oder muss man seine biologischen Vorfahren an der Grenze abgeben?

»Sobald man Franzose wird, hat man gallische Vorfahren«, sagte Nicolas Sarkozy vor ein paar Jahren, was er nicht wörtlich gemeint haben mag, sondern im Sinne von: Die französische Geschichte wird die jeweils eigene. Aber ist das wirklich so? Die Frage beschäftigt mich umso mehr, als ich gerade dabei bin, einen Einbürgerungsantrag zu stellen. Werde ich demnächst womöglich von Galliern abstammen? Wer in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Deutschland geboren ist, dem fällt es schwer, die Geschichte des eigenen Landes als eine lange Reihe heldenhafter Kämpfe und glorreicher Errungenschaften zu betrachten. Was ich als Deutsche zuerst sehe, wenn ich mich umblicke, und was mir zunächst einmal die Sicht auf Früheres versperrt, ist ein unüberschaubar großer Leichenhaufen, es sind Berge aus Brillen, menschlichen Haaren und Gebissen. Und nun soll also nach meiner Einbürgerung die Landschaft eine ganz andere werden? Durch die Flussbetten wird das Blut der Feinde Frankreichs fließen, die Berge werden aus ihren Leichen gemacht sein. Ich werde von Ludwig dem XIV. und von Napoleon und von de Gaulle abstammen, und als Cousin dritten Grades werde ich womöglich sogar einen senegalesischen Tirailleur haben. Schluss mit den ewigen Trümmerlandschaften: blühende Gefilde, schmetternde Fanfaren!

Die Ausgrabungsarbeiten sind längst abgeschlossen, jetzt wird dort, wo sich das gallische Dorf befand, ein Sportkomplex hochgezogen. PRISME steht auf dem Plakat und dass dieser Ort »den Regeln universeller Konzeption« gehorchen soll, ein städtebaulicher Jargon, mit dem gemeint ist, dass die künftigen Sportanlagen auch für Behinderte gedacht und zugänglich sein werden. Für mein unsportliches Auge ist auf dieser Baustelle nicht viel zu sehen, bisher eigentlich nur drei hohe, für sich stehende Wände, wie ein Kartenhaus, dessen Karten sich nicht berühren und von dem ich mich deshalb frage, warum es nicht in sich zusammenfällt. Thierrys Blick wendet sich, wie eigentlich immer, sofort von den geplanten Wettbewerbsstätten ab und stattdessen einem Daneben oder Woanders zu, in diesem Fall dem an die Baustelle angrenzenden Krankenhaus Avicenne, dem ehemaligen franko-muslimischen Hospital. Ich hätte die unauffällige Fassade eher einem soundsovielten Wohnblock zugeschrieben, aber es ist die Rückseite des Krankenhauses, vor der wir stehen.

Wir umrunden das Gelände, bis wir zu dem im neomaurischen Stil gehaltenen, dem Tor Bab Mansour von Meknès nachempfundenen Eingangstor gelangen, dessen Vorbild in den Dreißigerjahren, als das Krankenhaus gebaut wurde, hier in der Nachbarschaft kaum jemand je gesehen haben dürfte. Heute auch nicht, aber wer nachsieht, merkt: Der Eingang sieht auf den ersten Blick tatsächlich dem Tor von Meknès ähnlich. Auf den zweiten fällt jedoch auf, dass eigentlich nur die Formen übereinstimmen, aber bis auf ein paar Mosaike auf der Fassade so gut wie alle Ornamente fehlen. Es ist ein schlichter Bau mit ein paar orientalischen Elementen. Das Exotischste daran ist, dass der Name des Krankenhauses auf der linken Seite der Fassade auf Französisch und auf der rechten auf Arabisch zu lesen ist (jedenfalls nehme ich nicht an, dass die Schriftzeichen rechts »Fick dich, Frankreich« bedeuten).

»Franko-muslimisches Krankenhaus« besagte nicht etwa, dass hier Franzosen und Muslime gleichermaßen behandelt wurden (es ist keine Wortverbindung wie beispielsweise »deutsch-französische Freundschaft«). Gedacht war es ausschließlich für die in Paris und Umgebung lebenden und arbeitenden Muslime. Die muslimischen Kranken sollten von den übrigen getrennt werden; sofern sie noch in anderen Krankenhäusern lagen, wurden sie zwangsweise hierhergebracht und zugleich behandelt und überwacht. Das Hospital war nicht dem Krankenanstaltenverbund unterstellt, sondern dem Polizeipräsidium, und die toten Gallier schliefen noch ungestört unter dem neomaurischen Dekor.

Auf der Straßenseite gegenüber haben ELM Leblanc und Bosch ihre Niederlassungen; rechts, jenseits der Autobahn A86 (du schon wieder?), beginnt die Nachbarvorstadt Drancy, und zwar mit den Wohnblöcken einer Cité, und da wir schon einmal ganz in der Nähe des größten nicht muslimischen Friedhofs Frankreichs sind, der sich über zwei Vorstadtgemeinden erstreckt – Bobigny und Pantin –, beschließen wir, bevor wir unser eigentliches Ziel, das Grab von Boughéra El Ouafi, ansteuern, erst einmal dort einzukehren. Wir laufen an der Friedhofsmauer entlang, über der graue Plastikfetzen wie unheilvolle Fahnen in den kahlen Baumkronen flattern. Als wir den Eingang finden, sagt mir Thierry, dass sein Halbbruder hier begraben liege.

Ein Bruder, was für ein Bruder? Ich wusste gar nicht, dass du Geschwister hast.

Dieser Halbbruder sei älter als Thierry gewesen und bei seinen Großeltern aufgewachsen. Die Mutter sei mit zwanzig von einem weißen Schornsteinfeger schwanger geworden …

Das denkst du dir jetzt aber gerade aus …

Wenn ich dir’s sage! Warum auch nicht, so gut wie alle Schornsteinfeger waren damals Weiße. Heute auch noch, vermutlich.

Und warum hat sie den nicht geheiratet?

Weil er auf und davon ist. Irgendwo nach Südfrankreich.

Und dann haben deine Großeltern das Kind großgezogen?

Meine Mutter, also unsere Mutter, hatte damals eine Stelle als Schreibkraft in einer Baufirma, da konnte sie sich nicht um das Kind kümmern. Und in dieser Firma hat sie dann irgendwann meinen Vater kennengelernt, als der die Fabrik verlassen hatte und anfing, am Bau zu arbeiten.

Und von dem ist sie dann auch gleich schwanger geworden?

Ich glaube, der hat sie absichtlich geschwängert, um sie dann heiraten zu können. Der wollte unbedingt eine französische Frau – ich glaube, der hätte auch eine glatzköpfige Einbeinige genommen, wenn er keine andere gefunden hätte.

Aber das Kind von ihr, also das ältere, das sie schon hatte, wollte er nicht, oder wie?

Genau. Das haben die Großeltern behalten müssen. Der hätte kein Kind von einem anderen Mann großgezogen. Schon das eigene … das hat er mehr großgeschlagen als -gezogen.

Geprügelt hat er dich?

Na ja, nicht oft. Alle paar Monate ist er halt ein bisschen durchgedreht. Ich hab ihn zur Weißglut gebracht. Ich hab ihn nämlich durchschaut, schon ganz klein, ich wusste immer schon genau, worum es ihm ging.

Und worum ging’s ihm?

Ums Geld. Und: Er wollte kein Araber mehr sein.

Kann man das nicht auch ein bisschen verstehen, vor allem in der französischen Gesellschaft der Sechziger? Geld hatte er keins, und vom Araber-Sein hatte er in Frankreich nur Nachteile.

Wie immer, wenn ich Anstalten mache, seinen Vater verstehen oder entschuldigen zu wollen, oder wenn ich auch nur ansatzweise Gründe suche für sein Verhalten, hört bei Thierry der Spaß auf. Der Spaß hört auf, heißt bei ihm, dass er weiter lacht. Oder in spaßhaftem Ton redet. Nur ist dieser Ton ein härterer, höhnischerer. Ich merke das nicht immer oder reagiere nicht gleich darauf, und auch jetzt lasse ich erst mal nicht ab:

Das war Ende der Fünfziger, Anfang der Sechziger, er hat erlebt, dass sein Land, Algerien, zwar zu Frankreich gehörte, die Algerier aber einen anderen Status hatten als die Franzosen, sie hatten nicht die vollen Bürgerrechte, eine Art Apartheid war das. Und in Frankreich dann die Slums. Sechs Tage in der Woche arbeiten und abends in sein Dreckloch kriechen. Das waren andere Verhältnisse damals!

Pfffff … Und dann will er zu denen gehören, die ihn und die Seinen so behandeln??

Ich sage ja nicht, dass ich es richtig oder schön finde von ihm, ich versuche nur, die Gründe dafür zu sehen. Und wenn jemand aus so bitterer Armut kommt, will er vielleicht erst mal an Geld ran? Vielleicht können wir das überhaupt nicht verstehen. Auch diese Art, mit dem Geld, wenn man es dann endlich hat, umzugehen, das dicke Auto, die vergoldeten Wasserhähne (weiß nicht, ob er welche hatte). Für uns ist das Angeberei, aber um in so was Angeberei zu sehen, muss man vielleicht selbst einigermaßen im Wohlstand geboren sein. Oder?

Thierry schnaubt nur wieder voller Unverständnis und Verachtung, und ich höre endlich auf zu bohren. Vielleicht liegt Scham hinter seiner Verachtung.

Hast du denn diesen Bruder häufiger gesehen?, frage ich.

Wenn wir manchmal sonntags zum Mittagessen bei den Großeltern waren, oder zu irgendwelchen Festen. Weihnachten, Geburtstage. Sonst beinahe nie.

Aber ihr habt doch ganz in der Nähe gewohnt, du hast mir die Häuser gezeigt, nur ein paar Straßen weiter.

Wir sind sogar in die gleiche Schule gegangen, aber er war vier Jahre älter als ich. Der hat sich für mich nicht interessiert, und er hat es mir übel genommen, dass unser Großvater ihn immer wie einen Volldeppen behandelt hat.

Und dich nicht?

Mich nicht, und das, obwohl ich einen Araber zum Vater hatte. Aber ich hatte bessere Noten. Das war für ihn eine zusätzliche Demütigung. In der Schule haben wir beide so getan, als wären wir keine Brüder. War nicht schwer, wir hatten ja nicht die gleichen Namen. Er hieß Jean-Luc Dubois, ich Thierry Bensalem.

Der Friedhof ist flach, unüberschaubar groß und von einem symmetrischen Gitter von Wegen durchzogen; es ist, als wäre man auf einem Schachbrett unterwegs, unter dem die geschlagenen Figuren begraben liegen. Außer auf den an manchen der Grabsteine befestigten Medaillons ist kein Mensch zu sehen, der Himmel fliegt grauschimmelgrau über uns und über die Toten hinweg, während wir, jeder für sich, aber immer in Sichtweite, zwischen den Gräbern hindurchstreifen und vor den verwitterten Emaillegesichtern innehalten, die uns aus ihren toten Augen eindringlich anblicken.

Eine Reihe schwarz glänzender Grabmäler, auf denen Farbfotos und goldene chinesische Schriftzeichen prangen, endet mit einigen identischen, aber unbeschrifteten Steinen, die noch auf ihre Toten warten. Daran schließt sich ein jüdisches Friedhofsviertel an, in dem sich viele Tote ein Haus teilen, und ich erzähle Thierry von der Mutter einer jüdischen Freundin, die nicht sehr weit von hier lebt, in Aubervilliers, und die ich dort schon besucht habe.

Eine der wenigen Banlieue-Bewohnerinnen, die ich kenne, neben dir natürlich, sage ich. Sie wohnt schon seit vierzig Jahren in Aubervilliers, gleich auf der anderen Seite des Périphérique.

Und, wie gefällt es ihr dort?

Sie findet es scheußlich!

Thierry lacht und tut verwundert: Wieso bloß? Versteh ich nicht.

Sie findet es furchtbar hässlich und dreckig, dein Neun-Drei! Sie schwört nur auf Paris, die schönen Straßen, die Ufer der Seine …

Und? Hast du ihr nicht gesagt, wie schön es hier ist?

Da müssest du vielleicht mal mitkommen, um ihr das zu verklickern. Ich hab ihr gesagt – um ihr zu erklären, warum ich hier dauernd mit dir rumstreune –, dass man auch einen Reiz finden kann in dem, was man nicht kennt. Aber das ist es ja, sie kennt Aubervilliers seit vierzig Jahren, sie hat die Nase voll von den von dir gepriesenen Schönheiten!

Pffff! Keinen Sinn für Ästhetik, die Frau.

Als sie dort hingezogen sei, habe es zum Beispiel noch Läden gegeben, einen Bäcker, einen Metzger, einen Käseladen, man habe einkaufen können, sage ich, und einen Kaffee trinken.

Nur noch Ausländer!, ruft Thierry ironisch. Keine französischen Geschäfte mehr, oje, oje, nix wie weg.

Unter dem Périphérique traue sie sich nicht mehr durchzugehen.

Lauter obdachlose Migranten!, ruft er.

Und es liege dauernd Abfall auf ihrer Straße.

Ah! Sperrmüll! Da haben wir’s wieder!

Nein, ganz gewöhnlicher Abfall. Der Gehsteig werde jeden Tag sauber gemacht, aber wenn sie am nächsten Morgen rauskomme, liege schon wieder neuer Müll da, die Leute würden alles einfach hinschmeißen.

Sind halt Barbaren, die haben nicht gelernt, Ordnung und Sauberkeit zu halten in ihren Hütten.

Sein Ton wird immer ironischer und sein Lächeln härter.

Ich sag dir doch nur, wie diese alte Dame das erlebt! Muss ja nicht jeder in Freudenschreie ausbrechen wie du, wenn er vor einem runtergekommenen Monsterwohnblock oder einem Sperrmüllhaufen steht. Seltsamerweise findet sie Paris oder Venedig schöner.

Warum hat dieser Friedhof eigentlich keinen muslimischen Teil?, fragt er unvermittelt, aber die Frage ist keine, er will sagen: Ist doch klar, Muslime wollen sie keine auf ihren Friedhöfen, die Franzosen.

Wir sind auf unseren Streifzügen schon mehrfach auf Friedhöfen gewesen, und tatsächlich haben wir bisher kaum je muslimische Namen gesehen.

Ich würde das wirklich gerne wissen, sage ich. Haben die Leute kein Geld, sich eine Konzession zu kaufen, wollen sie lieber in ihrem Heimatland begraben werden? Was sind die Gründe?

Ah, ah, das ist die große Frage, sagt er, als wäre die Antwort nur allzu offensichtlich.

Dass ich mir die Frage noch nie gestellt habe, verrät vermutlich schon meine Blödheit oder Gedankenlosigkeit, aber so ist es, ich weiß es wirklich nicht und möchte es gerne wissen. Erklär es mir, sage ich.

Er sagt mir weder die Gründe noch, dass er sie auch nicht kennt, und erst später finde ich heraus: Es scheint so zu sein, dass eine Mehrheit der Muslime, vor allem die Männer, in ihrem Herkunftsland beerdigt sein wollen. Aber es gibt noch andere Motive, darunter die Tatsache, dass den Muslimen auf französischen Friedhöfen nur wenig eigener Raum in Form von »muslimischen Karrees« zugestanden wird (auch wenn sich das in den letzten Jahren in den großen Städten verbessert hat) und viele von ihnen lieber unter ihren Glaubensbrüdern als zwischen den anderen Toten beerdigt werden wollen. Trotzdem bleibt es für mich unerklärlich, wo diese vielen Toten geblieben sind: Wir werden noch viele Friedhöfe im Neun-Drei-Département sehen und höchst selten muslimische Gräber: Unzählige muslimische Menschen haben in diesen Vorstädten gelebt, die können doch nicht so gut wie alle tot das Mittelmeer überquert haben? Oder ist der muslimische Friedhof von Bobigny, zu dem wir jetzt noch gehen werden, so riesig?

Bevor wir den Cimetière de Pantin verlassen, lese ich eine rote Keramikrose auf, die der Sturm von einem Grab gerissen hat und die rundherum derart angestoßen ist, dass sie kaum noch rot und kaum noch als Rose zu erkennen ist.

Zum muslimischen Friedhof führt der Chemin des Vignes, der Weg der Weingärten: Ob hier tatsächlich irgendwann mal Wein angebaut wurde? Heute jedenfalls ist der Name reiner Hohn. Anfangs geht es noch: die üblichen Lagerhallen, ein Wasserturm, keine Wohnhäuser, keine Fußgänger. Dann wird es immer trübseliger, die Straße nimmt kein Ende und führt durch die Ödnis einer ausgestorbenen Industriezone. Auf den rissigen Gehsteigen liegt Abfall verstreut, wie von einer nahen Müllhalde hingeblasen. Oder sind es die am Straßenrand Halt machenden Lastwagenfahrer, die ihren Abfall aus dem Fenster werfen? Es ist ein so über die Maßen trister und verwahrloster Weg, dass Thierry einen möglichen Drehort zu wittern beginnt, ihm gefällt es hier, und tatsächlich ist es so trostlos, dass es schon wieder komisch ist, wir schauen uns an und können es nicht glauben. Diese Straße soll zu einem Friedhof führen? Es kommt kein Schild mehr, und ich sehe mehrfach auf das Handy, aber ja, wir sind richtig. Wer hier hingegen nicht richtig zu sein scheint, ist der Friedhof. Hier ist kein Ort für einen Friedhof. Je länger wir auf dieser geraden Straße laufen, umso lauter wird es, es ist, als würden pausenlos zwanzig Glascontainer auf einmal ausgeschüttet, aber Glas ist es nicht, es ist Bauschutt, in der Ferne wird rechter Hand bald eine weite Bauschuttlandschaft sichtbar, Raupenbagger, die über Schutthalden kriechen. Links ein Schrottplatz, an dessen Rändern Autos gestapelt sind. Und daran angrenzend, also den Bauschutthügeln und den lärmenden Baggern gegenüber, der Haupteingang des muslimischen Friedhofs.

Sprachlos stehen wir im Eingangsbereich des Friedhofs und schauen uns um. Der Krach ist ohren- und hirnbetäubend, jenseits der Friedhofsmauern ragen auf einer Seite die Autotürme hervor, auf der anderen die langen, abgeknickten Arme der Zangen- und Löffelbagger, die bedachtsam und stetig gestikulieren, wie um über den Bauschutt und die Mauer hinweg den Toten etwas zu vermitteln, und zwar so langsam und deutlich, als seien diese gar nicht tot, sondern nur etwas schwer von Begriff.

Das Gras auf dem Friedhofsboden ist kurz, sonst gibt es so gut wie keine Gewächse, um die sich Friedhofsangestellte kümmern müssten, alles ist kahl und leer, die Gräber sind an den Rändern gruppiert, in der Friedhofsmitte stehen nur ein paar lose verstreute Grabsteine. Wo könnte Boughéra El Ouafi liegen? Wir wenden uns den Schildern zu, die vor dem kleinen Eingangsgebäude stehen, und werden auch gleich fündig. Zwar wird er nicht namentlich genannt, aber es wird auf das »Carré des élites« hingewiesen, und wir denken, ja, hier könnte es ihn hinverschlagen haben. Den muslimischen Zuwanderern, ist auf dem Schild noch zu lesen, sei es vor allem darum gegangen, beieinander zu sein, doch sei es für den Verstorbenen oder dessen Angehörige oft auch wichtig, mit Menschen gleichen Horizonts zusammenzuliegen (références communes), weshalb sich die Karrees 5 und 5bis durch den hohen sozialen Status der dort Beerdigten unterschieden.

Boughéra El Ouafi liegt tatsächlich bei den »Eliten«, auch wenn sein sozialer Status der denkbar niedrigste war. In Algerien ist er in tiefster Armut aufgewachsen, und bis auf eine sehr kurze Zeitspanne hat er auch in Frankreich immer zu den Ärmsten gehört; nur einmal, ein einziges, denkwürdiges Mal, hat er eine Goldmedaille gewonnen, und deshalb liegt er nun zwischen Botschaftern und Prinzen, deren Grabmäler allerdings auch nicht viel prachtvoller sind als seines.

Die Karrees 5 und 5bis sind klein, wie es Eliten geziemt; wir haben sein Grab schnell entdeckt, zumal ein von der Verwitterung rosarot gefärbtes Foto von ihm an den Stein gelehnt ist (dasselbe wie auf der Biografie, die ich erstanden habe, und das ihn als »Dark Horse« in Amerika zeigt). Grabstein und Grabumrahmung sind aus verwittertem, grünschwarz bemoostem, wenig elitengemäßem Beton. Auf der kleinen Plastiktafel mit dem Foto, die an den Stein gelehnt ist und wie von Angehörigen gestiftet, jedenfalls nicht wie eine offizielle Gedenktafel wirkt, stehen die Worte:

Marathon-Champion bei den Olympischen Spielen 1928

Seine Leistung, wenngleich aus dem kollektiven

Gedächtnis verschwunden, ist von Dauer.

Diesem Helden gilt Frankreichs Dank.

Während ich auf den schmalen Mann mit den ausgehöhlten Wangen blicke, der aus dem Grab heraus mit offenem Mund auf mich zuzulaufen scheint, schnürt sich mir plötzlich die Kehle zu, weil in diesem Augenblick alles gleichzeitig auf mich eindringt, die end- und trostlose Straße, über die wir kamen, das Bauschuttgetöse, der Held, dem zu danken Frankreich vergessen hat, der schnelle, grauscheckige Himmel, die Autostapel, das kollektive Gedächtnis, die träge herumfuchtelnden Baggerarme, und im Auge dieses Wirbelsturms von Eindrücken rennt gelassen und gleichmäßigen Schrittes Boughéra El Ouafi, er rennt und rennt, er kennt keine Müdigkeit, er rennt von jeher, rennt in der Nacht der Zeit, in der Klarheit der Träume, im stillen Auge des Sturms, rennt unbeirrbar, ohne zu keuchen, ohne zu klagen, in der endlosen Offenheit des heutigen Tages und aller kommenden Tage, glorreich, stumm. Und weder Frankreichs Geringschätzung noch die amerikanische, weder Bauschuttberge versetzende Bagger noch neidische Gauner können ihm etwas anhaben.

Lange stehen wir vor Boughéra El Ouafis Grab. Mir fällt auf, dass der Stein nicht, wie die meisten übrigen, die runde, in der Mitte sich zuspitzende Form der Moscheekuppel von Mekka hat und auch keine arabischen Schriftzeichen trägt. Später wird mir klar, dass auch ein weiteres Merkmal muslimischer Gräber nicht übernommen wurde, denn das Grab ist mit einer Grabplatte bedeckt, was im Islam nicht erlaubt ist: Kein Stein darf auf dem Toten lasten, nur eine Einfriedung ist zugelassen, und eigentlich darf auch kein Sarg den Leichnam bergen, sondern nur ein Leichentuch. Es ist also streng genommen gar kein muslimisches Grab, und erst nach und nach, lesend und nachdenkend, werde ich merken, dass Boughéra El Ouafis Schicksal noch trauriger ist, als ich zunächst angenommen habe, denn in Frankreich, wo er die meiste Zeit seines Lebens verbrachte, blieb er trotz seiner Goldmedaille immer »der kleine Algerier«, der nur für die Dauer seines Sieges eingemeindet wurde, und in Algerien war er durch seine Goldmedaille für Frankreich kompromittiert, er hatte mit dem Besatzer kollaboriert. Nach seinem gewaltsamen Tod 1959 bezahlte das Olympische Komitee, das ihn 1930 ausgeschlossen hatte, sein Grab. Ob das Komitee auch Grabmal und -platte für ihn aussuchte? Wer auch immer das tat, war jedenfalls nicht darauf bedacht gewesen, ihm eine islamische Ruhestätte zu geben. Seiner Nichte zufolge, so heißt es in seiner Biografie, sei er in Algerien nie gewürdigt worden. Nur die Jugendherberge seines Heimatdorfes Ouled Djellal trage seinen Namen. Wie der schwarze Protagonist jenes Romans von René Maran, Un homme pareil aux autres, aus dem Frantz Fanon zitiert, hätte er von sich sagen können: »… ich war so weit, dass ich mich fragte, ob mich nicht meine gesamte Umgebung betrog: Das Volk der Weißen erkannte mich nicht als einen der seinen an, das schwarze verleugnete mich. Das ist exakt meine Situation.«

Gibt es überhaupt einen Ausweg aus einer solchen Situation?

Beim Nachdenken über den Roman, vielmehr über Fanons Kommentar dazu, muss ich an die Gespräche denken, die Thierry und ich häufig führen, und in denen er sich über meine europäische Unwissenheit und Privilegiertheit mokiert und ich mich über sein Sich-als-Afrikaner-Darstellen mokiere, weil ich ihn eigentlich mindestens genauso französisch oder genauso wenig afrikanisch finde wie mich selbst. Aber was heißt »französisch sein«, wenn einen Tag für Tag Hautfarbe oder Name als Nichtfranzosen ausweisen?

Jean Veneuse, der dunkelhäutige, in Bordeaux groß gewordene Protagonist des von Fanon zitierten Romans, liebt eine weiße Frau, und sie liebt ihn, doch gestattet er sich diese Liebe nicht, solange er nicht ihren Bruder, der sein bester Freund ist, um Erlaubnis gebeten hat. Dieser Bruder schreibt ihm daraufhin einen langen, liebevollen Brief, in dem er Jean versichert, er brauche sich nicht so zu quälen, er habe doch »seine Insel« schon mit drei oder vier Jahren verlassen und sei deshalb gar kein nègre: »Wisse, dass Du ein Franzose aus Bordeaux bist.« Er sei genau wie er selbst, nur eben »ausgesprochen dunkelhäutig«. Frantz Fanon fasst es so zusammen: »Der Weiße, um dessen Erlaubnis gebeten wurde, gibt also seine Schwester her – aber unter einer Bedingung: du hast nichts gemein mit den wirklichen Negern. Du bist nicht schwarz, du bist ›ausgesprochen dunkelhäutig‹«. Das sei es, so Fanon, was schwarzen Studenten in Frankreich häufig widerfahre – man weigere sich, sie als »véritables nègres« zu betrachten. Die seien nämlich Wilde, während der Student zivilisiert sei.

Reagiere ich nicht ähnlich wie dieser wohlmeinende Bruder, wenn ich Thierrys Sicht seiner selbst als Afrikaner nicht ernst nehme? Zwar ist Thierry nicht dunkelhäutig, aber er trägt einen Namen, der ihn überall als Araber ausweist. Sein Vater wollte mit allen Kräften als Franzose durchgehen; das Wort Algerien kam nie über seine Lippen, er nahm einen anderen Vornamen an, und wäre das möglich gewesen, hätte er wahrscheinlich am liebsten auch den Nachnamen gewechselt. Aber der Name Bensalem war ein nicht zu kappender Anker, er war das Einzige, was ihn noch an die andere Seite des Mittelmeers band. Sein Sohn ist in Frankreich geboren und damit nach französischem Recht als Franzose auf die Welt gekommen, doch statt die väterliche Herkunft zu verstecken, beansprucht er sie für sich. Dass der Vater seine Herkunft verleugnete, erfüllt ihn mit Scham, und diese Scham kann er nur überwinden oder lindern, wenn er sich selbst klar und deutlich dazu bekennt.

Während ich noch hier vor Boughéra El Ouafis Grab stehe und auf das rosarote Bild eines Mannes schaue, den weder auf dieser noch auf jener Seite des Mittelmeers oder des Atlantiks je irgendwer für einen echten Franzosen hielt, überkommt mich meinerseits die Scham darüber, Thierry so eindeutig Frankreich zugerechnet zu haben. Thierry mag als Franzose geboren sein, französische Lebensgewohnheiten haben und wie die meisten Franzosen keinerlei Religion anhängen, er ist doch auch Algerier – nicht nur durch seinen Vater und dessen Namen, den er trägt, sondern weil er die Verleugnung der Herkunft durch den Vater aufheben muss, wenn er nicht will, dass die Scham ihn zerfrisst.

Wir sind alle, denke ich jetzt, weder das, was wir sein wollen, noch was andere in uns sehen, sondern eine unentwirrbare Mischung aus beidem, und was wir für freie Entscheidungen halten, ist oft nur das Ergebnis einer Kettenreaktion, die von Generation zu Generation weiterläuft und mal in diese, mal in jene Richtung ausschlägt.

Auf dem nahen Carré militaire, über dem schwer und nass die französische Fahne hängt, sind einem Schild zufolge »ein paar der 250 000 muslimischen Soldaten begraben, die zwischen 1943 und 1945 das Mittelmeer überquert haben und die Hälfte der französischen Befreiungsarmee stellten«. Vor der Fahne am Boden: drei wahrscheinlich schon seit dem 11. November, also seit zwei Monaten, verwelkte Blumensträuße oder -gestecke – die obligaten, von blauweißroten Bändern umwundenen Gedenktagesblumen im Zustand fortgeschrittener Verwesung. An der Böschung vor dem Militärkarree, so weist ein anderes Schild aus, sind anonyme Soldaten begraben: ein Massengrab, das sich nicht so nennt.

Der einzige andere Besucher auf dem Friedhof, den wir ganz überblicken können, ist eine Besucherin. Keine Vorstädterin. Ihr Auto, das sie am Eingang des Friedhofs gelassen hat, zeigt ein Pariser Nummernschild. Es ist eine elegant gekleidete Frau, die statt eines Schleiers einen Schal locker um den Kopf gelegt hat und uns lächelnd grüßt, als sie an uns vorbeigeht. Nachdem sie zunächst längere Zeit an einem der Gräber des Elite-Karrees nah dem des Marathonläufers verharrt hat, geht sie wie wir kreuz und quer über den Friedhof, doch anders als wir hat sie feste Ziele. Sie sucht verschiedene Gräber auf, die sie zunächst ein bisschen säubert und herrichtet, bevor sie sich mit leicht geneigtem Kopf an das Grab stellt und dem oder der Toten darin zu gedenken scheint. Sie stellt sich nicht vor das Grab, sondern an die Seite, und erst jetzt, da ich dies aufschreibe, wird mir klar, warum: Weil die Toten im Islam auf der Seite liegend begraben werden, das Gesicht nach Mekka gewandt. Auf der Seite? Mir kommt das erst sehr seltsam vor, zumal eine solche seitliche Lage bei einem Leichnam wohl nur durch Stützvorrichtungen erreicht werden kann, aber es stimmt natürlich, dass ein auf dem Rücken Liegender zum Himmel schaut und nur der seitlich liegende Tote in Richtung Qibla sehen kann. Ich nehme also an, die Frau stellt sich an die Seite des Grabs, damit ihr der Tote zugewandt ist.

Es ist schon vier Uhr, als wir, den muslimischen Friedhof im Rücken, wieder auf menschliche Behausungen stoßen, aber wir wollen noch bis zur Porte de Pantin, also bis nach Paris, gehen, und zwar über die endlose Nationale 3, von der uns ein dickes Bündel Bahngleise und der Canal de l’Ourq trennen. Wir laufen einen größeren Umweg und stoßen zuerst an ein zwischen Kanal und Schnellstraße klemmendes Gelände, eine sogenannte ferme culturelle urbaine, einen kulturellen Stadtbauernhof, auf dem ein paar junge Verrückte im Frühling offenbar Gemüse anbauen, und auf der N3 schließlich blicken wir von der anderen Seite auf die Baumüllhalde, auf der nach einem undurchschaubaren Prinzip Schutt hin und her befördert wird. Hinter uns, lediglich zwei-, dreihundert Meter Luftlinie vom Friedhof entfernt, die Mülltrennungsanlage Syctom, die ich mir nur als Sitcom merken kann und über der wie über einem heimkehrenden Fischerboot Dutzende von Möwen kreisen.

Wir gehen lange die vierspurige, autobahnähnliche N3 entlang Richtung Paris, vorbei an Lagerhallen, einem Klaviergeschäft, Pianos International, das offenbar nur hier genug Platz für seine Ware fand, einem weiten Brachland, neuen Wohnanlagen, die auf der anderen Seite Kanalblick haben; die zur Schnellstraßenseite hin gelegenen Wohnungen dürften wesentlich günstiger sein. Vor dem Baumarkt Batkor erzählt mir Thierry, dass er hier einmal mit einem jener Migranten gesprochen habe, die darauf warten, dass einer der sich mit Baumaterial eindeckenden Handwerker sie für den Tag anheuert. Der Mann habe auf der Rückseite des Baumarkts im Kanal geangelt, und als er seine Angel aus dem Wasser gezogen habe, habe Thierry gemerkt, dass gar kein Angelhaken an der Schnur befestigt gewesen sei. Er habe ihn darauf angesprochen, und der Angler habe geantwortet, das wisse er wohl, aber das Angeln tue ihm gut. Derselbe Migrant habe ihm erzählt, dass er bald seinen Asylantrag stellen wolle, vorher aber noch genug Geld verdienen müsse, um eine Geschichte zu kaufen, die funktioniere, also die Chancen auf eine Anerkennung des Antrags verbessere. Die Geschichten, mit denen bereits ein Antrag angenommen worden sei, seien wertvoll und würden weiterverkauft. Man müsse dann allerdings noch jemanden finden, der sie leicht verändere und an die eigene Person anpasse, damit es nicht so auffalle. Solche Geschichten könnten Leben retten.