Im Café streckt mir Rachid heute zum ersten Mal die Hand hin, und ich strecke meine vor, um sie ihm zu geben, merke aber sofort, dass er eigentlich nur die Kaffeetassen wegnehmen will, die noch von den vorigen Kunden vor mir auf der Theke stehen. Wir müssen beide lachen und geben uns dann doch die Hand, Thierry wird daraufhin auch mit Handschlag begrüßt, und wir fangen endlich an, uns zu duzen.
Die ehemalige Krankenschwester sitzt vor ihrem üblichen Glas Roséwein und beugt sich heute über ein Kreuzworträtsel. Zwischen ihr und Thierry lehnt ein Typ in seinen Dreißigern an der Theke, dessen Redeschwall unser Eintreten nicht unterbrochen hat; er trägt sein dunkelblondes Haar kurz geschoren und trinkt heute anscheinend nicht sein erstes Bier, was den Wortfluss immerhin ein wenig bremst. Links von mir hat der Halbstumme seinen Stammplatz eingenommen, und zwischen uns beiden steht ein alter Mann, den ich hier noch nie gesehen habe und der so klapperdürr, so hohl- und schmalwangig ist, dass er wie ein Toter aussähe, wäre sein Blick nicht so lebendig, seine Miene nicht so munter. Die beiden alten Männer verstehen einander, obwohl auch der zweite, wie wir bald merken, nicht reden kann – nicht einmal schlecht und recht wie der andere, sondern gar nicht, ohne dass die beiden gehörlos wären. Thierry und ich schauen uns ungläubig an: Es kann doch wohl nicht sein, dass hier, an diesem Ort der langen Monologe, an dem wir nie mehr als sechs oder sieben Kunden gesehen haben, zwei Nicht-Redner zusammenkommen? Der Halbstumme wirkt, als hätte ein Schlaganfall seine Sprechfähigkeit beeinträchtigt; der Ganzstumme scheint eine Kehlkopfoperation gehabt zu haben, jedenfalls reime ich es mir so zusammen.
Während die beiden Nicht-Redner nun ihr kaum hörbares Gespräch weiterführen, erzählt der junge Serbe – denn der Biertrinker, so erfahren wir, ist serbischer Herkunft –, wie er gestern Abend mit ein paar Kumpels gefeiert habe, und dann um vier Uhr morgens – glaube er – ins Bett gegangen und um acht, weil er pinkeln musste, wieder aufgestanden sei: Da hab ich mir gesagt, vielleicht musst du zur Arbeit gehen. Bin bei der Arbeit angekommen, da haben sie mir gesagt, du gehst wieder nach Hause. Gut, vielleicht hatte ich ein paar Bier intus. Also bin ich wieder nach Hause, das heißt nicht nach Hause, da kann ich nicht hin – wenn meine Frau mich so sieht, reißt sie mir den Kopf ab. Und da bin ich zu Onkel Rachid.
Die anderen lächeln. Er nimmt einen Schluck Bier aus der Flasche; Fassbier gibt es bei Rachid nicht.
Ah, der Onkel Rachid, der beschützt mich.
Die gute Seele von Seine-Saint-Denis, sage ich.
Der Ganzstumme zu meiner Linken legt eine durchsichtige Plastiktüte mit einer Spritze neben sein Glas Wein vor sich auf die Theke; wahrscheinlich ist er Diabetiker, denke ich mir, während ich weiter dem Biertrinker zuhöre.
Dabei wohn ich kaum zwanzig Meter weg, sagt er gerade, aber ich kann nicht nach Hause. Dann krieg ich sofort die Kleine aufgebrummt. Erklär mal der Madame, dass ich nicht in einem Zustand bin, auf die Kleine aufzupassen. Nee, nee. Die soll sie mal schön zur Tagesmutter bringen, und ich geh sie dann um sieben abholen.
Während er von den Dummheiten erzählt, die das Kind von früh bis spät anstellt, und die schrillen Laute nachahmt, die es dabei gerne ausstößt, zieht der Ganzstumme neben mir die Spritze aus der Tüte, saugt den gesamten Inhalt seines Rosé-Glases damit auf, hebt dann seinen Pullover, schließt die Spritze an den Schlauch an, der aus seinem Bauch hervorragt, und spritzt sich den Rosé direkt in den Magen. Das alles mit der größten Selbstverständlichkeit und ohne dass irgendjemand in der Kneipe daran Anstoß nähme oder den Vorgang auch nur besonders beachten würde. Nur Thierry und ich werfen uns einen kurzen Blick zu.
Du glaubst, da ist bloß ein kleines Kind im Raum, aber das ist wie zwanzig!, sagt der Biertrinker und fängt an, eine Kinderstimme zu imitieren: So, jetzt nehm ich mir mal das Ajax, ich putz jetzt mal die Fließen. Hmmm, das riecht aber gut (er mimt das Kind, wie es die Ajax-Flasche zum Mund führt). Nnnnnein, das machst du jetzt nicht! Okay, dann nehm ich die PlayStation, nein, das auch nicht, okay, dann … Da bist du bald am Ende mit deinen Nerven.
Er redet mit schwerer Zunge, aber eigentlich eher wie einer, der komisch lallend einen Betrunkenen nachahmt, als wie der Betrunkene, der er ist, und nachdem ich mich anfangs vor ihm gehütet habe, ist er mir inzwischen geradezu ans Herz gewachsen, falls das innerhalb von ein paar Minuten möglich ist.
Ihre Mutter weiß nicht, dass ich die Kleine manchmal zu Rachid mitnehme, fährt er fort. Neulich hat sie sie hier im Kinderwagen vorbeigeschoben, da standen ein paar Männer vor dem Café. Lina! Lina!, die haben die Kleine gesehen und ihr sofort zugewinkt und gerufen. Oje, oje, da war was los: Was ist das denn, die ist ja in dieser Kneipe bekannt wie ein bunter Hund! Warum kennt da jeder meine Tochter?! Woher wissen die alle, wie sie heißt?
Meine Frau ist Algerierin, Kabylin, ah, la, la, wallah, mein Bruder, sagt er zu Thierry, mach diese Dummheit nicht, und lacht. Ich hab sie geheiratet, ich hab ein fantastisches Kind mit ihr, serbo-kabylisch, das ist eine schöne Mischung, aber ihr Leben – noch nicht mal Onkel Rachid weiß darüber Bescheid –, das war nicht rosarot, ihr Leben. Aber dann … Sie ist ohne Papiere hergekommen – wie, behalt ich für mich. Immer hat sie sich durchgeschlagen, immer gearbeitet.
Ich frage, ob seine Frau inzwischen Papiere hat (oder frage ich, ob sie die französische Staatsangehörigkeit bekommen hat?), und er schaut mich mit einem seltsamen Lächeln an, als wollte er sagen: Wo kommst du denn her, du bist ja wohl völlig ahnungslos, auf welchem goldbestickten Kissen bist du denn zur Welt gekommen?
Ja, sagt er schließlich, wir haben eine Tochter, und ich bin Franzose.
Da hat sie jetzt das Problem nicht mehr, sage ich.
Nein, jetzt hab ich das Problem!
Alle lachen.
Und dann haben ihre Brüder versucht, zu kommen, Freunde von ihr haben versucht, zu kommen, mit dem Schiff, mit dem Zug … die sind nie über die Grenze. Und dort musst du das teuer bezahlen, wenn du herkommen willst. Die Leute verdienen wenig, sie sparen, keine Ahnung, fünf Jahre lang, um diese verfluchte Reise bezahlen zu können. Bloß um dann geschnappt zu werden. Und warum? Das sind Leute, die wollen auch nur ein Leben haben, das ein bisschen besser ist als dort, wo sie herkommen. Und um ihren Eltern ein bisschen Geld zu schicken … Wenn man sein Eckchen hat, und man’s gut hat. Man weiß nichts vom Elend der Leute. Es geht einem gut. Man hat zu essen, zu trinken. Es gibt viele, die wissen gar nicht … Stimmt doch, wenn’s uns gut geht – ich red jetzt mal wie unter Freunden –, dann scheißen wir doch drauf. Wir leben gut, haben ein Dach überm Kopf. Wir haben die PlayStation 5, wir haben einen Fernseher, wer weiß was für’n Mist noch. So ist’s gut. Und dann kommt da jemand, der will aus seiner Scheiße rauskommen, bloß um seiner Familie zu helfen. Da ist man nicht unbedingt …
Er schaut mich an. Überhaupt habe ich das Gefühl, dass er sich seit einiger Zeit mehr und mehr an mich richtet, vielleicht, weil ich ihm zuhöre, vielleicht auch … weil ich mich besonders angesprochen fühlen soll?
Ich weiß nicht, ob Sie verstehen, was ich sagen möchte …?
Er blickt mich fragend an.
In diesem Augenblick ist mir, als würden sich mir alle Blicke zuwenden, mir, die ich nicht in der Vorstadt lebe, die ich genug Geld habe und in Europa geboren bin, und die Hitze wallt mir ins Gesicht, während der Fragende auf eine Antwort wartet.
Ich glaube, ich verstehe es, sage ich leise.
Zum Glück kommt in diesem Moment eine ältere Frau herein, die von allen sofort aufs Freundlichste begrüßt wird und einige der Gäste auf beide Wangen küsst. Rachid stellt sie uns als seine Mutter vor, und ich schmelze dahin, als die kleine, in einen hellen Morgenmantel gehüllte Person mit der sonnenblumengelben Pudelmütze auf dem dunkelhaarigen Kopf mich mütterlich-liebevoll anblickt: Ich sähe einer ihrer Töchter – Rachids Schwester also – sehr ähnlich, sagt sie und lässt sich die Ähnlichkeit von Rachid bestätigen. Und die Tochter sei auch so groß wie ich. Rachid sieht mich an und nickt; ich weiß nicht, ob er tatsächlich findet (und vielleicht selbst schon gedacht hat), dass ich seiner Schwester ähnele, oder ob er nur seiner Mutter nicht widersprechen will, jedenfalls habe ich plötzlich zu meiner Freude eine kleine Verbindung zu Rachids Familie.
Wer soll denn sonst den Abfall wegtragen?, fragt der Serbe in die Begrüßungsszene hinein. Ich möcht mal einen Franzosen sehen, der bereit wäre, den Müllmann zu machen.
Na, die sind auch nicht alle Müllmänner, die Migranten, meint Rachid.
Und wer hat dein Haus gebaut?, fragt der Biertrinker. Ein Pole … Ich weiß nicht, sind wir das Problem, oder ist es der Staat? Ich versteh das nicht. Ich zerbrech mir nicht den Kopf, aber ich würd das gern kapieren.
Und wie geht’s im Ritz?, fragt Rachids Mutter ihn.
Es scheint zunächst, als würde der Serbe im Hotel Ritz arbeiten; tatsächlich arbeitet er in einem Café-Restaurant unweit davon.
Kaum hat sich Rachids Mutter ein Stück weg an einen Tisch gesetzt, steht der Glühbirnenmann von neulich in der Tür und fängt einen seiner Endzeitmonologe an, bei dem ihm die Augen immer mehr aus den Höhlen quellen: Die Regierung wird fallen, sagt er, diese reichen Dreckschweine werden wir so was von fertigmachen, im Übrigen braucht man überhaupt keine Regierung, wir werden das sehr gut selbst erledigen, wir setzen bei allem die Mehrwertsteuer auf fünf Prozent runter, deine Kneipe wird knallvoll sein, sagt er zu Rachid, ich bin eine ehemalige Gelbweste, ihr werdet schon noch sehen, das wird alles hochgehen, wenn wir erst richtig ausrasten, wird alles hochgehen, ihr werdet’s erleben, und dabei steht ihm die ganze Zeit ein beunruhigendes Lächeln auf den Lippen, sein Kopf glüht röter und röter, bald wird er platzen. Der Glühbirnenmann ist gut angezogen, sein Hemd ist frisch gebügelt.
Der Serbe bestellt noch ein Bier und widerspricht: Doch, doch, man brauche sehr wohl eine Regierung, aber die Politiker seien alle gleich, nichts würde sich je ändern.
Die sind nicht alle gleich, sage ich, wenn erst Le Pen dran ist, wird’s anders zugehen, das werden wir dann schon merken.
Glauben Sie? Er ist skeptisch, meint aber, immerhin werde es mehr Ordnung geben. Außerdem ist er gegen Streiks und Demonstrationen, das sei schlecht für sein Gewerbe.
Ich verstehe, dass er zu den Leuten gehört, die es nach einer starken Hand verlangt, und sage: Das passt aber nicht so gut zusammen mit den armen Migranten, die nur ein besseres Leben wollen. Die sind jetzt schon schlecht dran und werden die Ersten sein, denen es an den Kragen gehen wird.
Er glaubt das nicht, sieht keinen Widerspruch in seinen Reden und wird vermutlich Le Pen wählen.
Thierry und ich verabschieden uns bald darauf, und kaum sind wir draußen, sagt Thierry: Hast du gesehen, wie der Typ sich den Roséwein gespritzt hat? Pullover hoch, den Rosé direkt in den Magen gespritzt, Pulli wieder runter, keiner schaut hin, keiner stört sich dran. Eine alltägliche Beckett-Szene. Ein neuartiges Trinken. Das Leben der Kneipe.
Vor lauter angestautem Entsetzen lachen wir uns eine Weile krumm – das kann doch nicht wahr sein, hast du das gesehen, Wahnsinn. Als der Mann sich den Wein spritzte, hat Rachid ein unsichtbares Glas gehoben und ihm zugeprostet.
Wahrscheinlich haben wir beide noch nicht viel von der Welt gesehen. Noch nicht einmal Thierry, der Vielgereiste, der wesentlich mehr davon zu Gesicht bekommen hat als ich. Aber das …? Keine fünf Kilometer von der Porte de la Chapelle und damit von Paris entfernt? Nein, so etwas ist auch ihm noch nie begegnet.
Wir gehen durch La Courneuve, vorbei an den Resten der Cité des 4000. An einem Kreisel weisen drei untereinanderhängende Schilder nach:
CENTRE VILLE
VERLAINE
LES SIX ROUTES
BRAQUE
SYNAGOGUE
MOSQUÉE
Warum steht die Synagoge zuerst? Hat das eine Bedeutung, gibt es überall etwas zu verstehen, oder geschehen solche Anordnungen rein zufällig? Ich wundere mich, dass es in La Courneuve überhaupt noch eine Synagoge gibt. Viele jüdische Familien seien aus La Courneuve weggezogen, habe ich gelesen. Wie viele genau, weiß keiner, weil Statistiken zur religiösen Zugehörigkeit in Frankreich verboten sind, doch der jüdischen Gemeinde zufolge gab es dort vor zehn, fünfzehn Jahren noch dreihundert jüdische Familien und heute nur noch sechzig. Schuld sei der grassierende Antisemitismus.
Wir folgen dem Schild nicht, sondern gehen weiter in Richtung Aubervilliers, bis links eine »Grünfläche« auftaucht und dahinter ein gewaltiges, halb fertiges, in einen Ring aus Glas und Metall gehülltes Gebäude. Von einer der Grünflächenbänke aus haben wir die drei Kräne im Blick, die sich gemächlich über der Baustelle drehen, und den kleinen Spielplatz, der unmittelbar vor dem entstehenden Gebäude eingerichtet ist. Dunkel- und weniger dunkelhäutige Kinder spielen zusammen Fußball; auf einer Nachbarbank sitzen zwei verschleierte Frauen.
Da Thierry auch nicht weiß, was es mit dem ringförmigen Riesengebäude auf sich hat, schaue ich, noch auf der Bank sitzend, nach: Hier wird für über eine Milliarde Euro ein gewaltiges Datacenter gebaut, vierzigtausend Quadratmeter, auf denen Firmen wie Facebook, Google, Tinder ihre oder vielmehr unsere Daten aufbewahren, den ganzen unstofflichen Quark, den wir Tag für Tag aufrufen oder versenden und in dem natürlich auch ein paar nützliche Dinge schwimmen. Von diesen Elektronikbergen gehen Risiken aus; für den Fall von Stromausfällen sollen gefährlich hohe Mengen Kraftstoff eingelagert werden, und die Abkühlung der Anlage wird einen Höllenlärm machen, den der Glas- und Metallring, der das Ganze umgibt, lindern soll.
Wenn ich den Kopf hebe, geht mein Blick auf den Spielplatz, der an die Umzäunung der Data-Anlage grenzt, ein paar Meter nur von dem noch unfertigen Gebäude entfernt. Was ist das für eine Welt, in der man so nah an gigantischen, heißen, vibrierenden, lärmenden Datenmengen Kinder spielen lässt? Ich betrachte den Spielplatz etwas genauer: Neben ein paar armseligen Turngeräten ist da ein Häuschen auf Pfählen, von dem die Kinder, nachdem sie es erklommen haben, auf einer kleinen Rutsche hinuntergleiten können. Zwei Kleinkinder sind gerade oben angekommen. Und nun sehe ich, dass auch eine Mutter im langen schwarzen Niqab dort oben steht, eine düstere, vermummte Gestalt, die sich auf dieses bunte kleine Spielgerät verirrt zu haben scheint.
Zwischen Wohnsiedlungen und zwei hier zusammenlaufenden mehrspurigen Straßen klemmen zwei absurd anmutende Tennisplätze, um die herum Abfall auf den Böschungen verstreut liegt, auch ein Leihrad hat jemand den Abhang hinuntergeworfen. Von der Autobahnbrücke blicken wir auf vier Gleis- und acht Autospuren; Datacenter und Spielplatz sind in nächster Nähe. Zwischen den Gleisen und den Autospuren bohrt sich ein fünfzig Meter hoher, nach oben sich verjüngender stählerner Monumentalturm mit Wendeltreppe schraubenartig in den Himmel, ein Gebilde, das offenbar zu nichts anderem als zur Beleuchtung dieser liebreizenden Gegend dient.
In Aubervilliers gelangen wir von einer Cité zur anderen, es ist Nachmittag, vor den Schulen stehen die Eltern und warten auf ihre Kinder. Diese Kinder-Abholstunde ist eine friedliche, und da es ein milder Märztag ist, setzen Thierry und ich uns auf ein Mäuerchen, auf dem ein Stück weit weg ein junges Mädchen intensiv mit ihrem privaten kleinen Datacenter beschäftigt ist. Zwei junge Männer sind dabei, Sperrmüll aus einem der Wohngebäude zu tragen; jedes Mal, wenn einer von ihnen herauskommt, wächst der Müllberg vor dem Haus an.
Ich unterhalte mich mit Thierry über Rachid und das Café, als wir einen dunkelhäutigen Mann in seinen Dreißigern vorbeikommen sehen, mit Wanderschuhen an den Füßen und einem kleinen Rucksack auf dem Rücken; in den Händen, halb über seinem Kopf, trägt er eine dieser schwarzen Plastiktonnen, über die ich neulich schon gerätselt habe. Wir blicken der Silhouette des Mannes nach, der den Plastikzylinder wie ein aus dem Gleichgewicht geratener Gewichtheber schräg über seinen Kopf stemmt. Dann setzt er ihn ab und ruht sich eine Weile aus.
In der Rue des Cités, in der Nähe der Porte de la Villette, lese ich eine abgestoßene, leere CD-Hülle vom Gehsteig auf: Le Saint Coran, der Heilige Koran. Traduction des Sens. Übersetzung der Bedeutung? Vielmehr: der Bedeutungen? Ist das nicht etwas redundant, ich meine, gibt nicht jede Übersetzung die Bedeutung wieder? Wurde hier vor allem auf eine wortgetreue Übersetzung wert gelegt?
Gefesselt von den vielen Häkchen und Schleifchen und auf der Kante stehenden quadratischen Pünktchen, die sinnstiftend um die arabischen Schriftzeichen tanzen, trage ich die so gut wie aller Bedeutungen entleerte Hülle unter dem Périphérique hindurch mit mir heim.
Zu Hause schaue ich nach, was es mit dieser Audio-Fassung auf sich hat: Die zuerst 1959 veröffentlichte Übersetzung stammt von Muhammad Hamidullah, einem 1908 geborenen sunnitischen Islamforscher aus Indien, der unter anderem in Frankreich und Deutschland studierte. Mit den seither zahlreichen Überarbeitungen, zuletzt unter der Aufsicht der von Saudi-Arabien gesteuerten Islamischen Weltliga, die dafür den König-Fahd-Komplex heranzog, war der Übersetzer nicht einverstanden, allerdings wurde er gar nicht erst gefragt, und seine Proteste, unter anderem ein Brief, den er 1989 direkt an den König Fahd richtete, blieben ohne Antwort. Die revidierte Übersetzung wurde weltweit kostenlos verbreitet.
Ich denke noch weiter über die ungewöhnliche Formulierung »Übersetzung der Bedeutungen« nach. In der Tat: Warum sollte man sich beim Übersetzen immer für eine bestimmte Bedeutung entscheiden müssen? Wäre es nicht sinnvoller, verschiedene mögliche Bedeutungen nebeneinander stehen zu lassen? Zumal bei einem alten Glaubensbuch, das doch unmöglich einen eindeutigen Sinn haben kann, sondern im Lauf der Jahrhunderte und sogar in ein und demselben Übersetzerkopf verschiedene Auslegungen möglich macht. Doch ein offener, vielfältiger Bedeutungsraum, ahne ich, ist es nicht, was hier mit »Traduction des sens« gemeint ist.