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Wir sind an der Porte de Saint-Ouen verabredet. Ich warte an der Tram-Haltestelle auf Thierry. Diese Ringbahnlinie, die am Périphérique entlangführt, scheint hauptsächlich von Nicht-Franzosen oder Nicht-Französisch-Stämmigen genutzt zu werden, sie fährt langsam und muss an den mit Autos zugestellten Kreuzungen oft warten. Ein junger Maghrebiner (oder Franzose maghrebinischer Herkunft) in schwarz-silbrig glänzenden Sportschuhen, eine um neunzig Grad zur Seite gedrehte schwarze Baseballkappe auf dem Kopf, kommt zielstrebig auf die Haltestelle zu und steigt sofort auf eine jener halbhohen, schrägen Anlehnbänke, die eigens so konzipiert sind, dass sich keiner darauf setzen und schon gar nicht legen kann. Kaum oben angelangt, streckt er seinen rechten Arm durch die handbreite Lücke zwischen zwei Teilen der Haltestellenüberdachung und verstaut dort eine kleine Tasche. Er prüft kurz, ob sie auch stabil liegt und nicht herunterfallen kann. Innerhalb von Sekunden ist er wieder unten und verschwindet in die Richtung, aus der er gekommen ist.

Dann steigt Thierry aus, und wir brechen auf in Richtung Cité Charles-Schmidt, ein »Drogen-Hotspot«, den Thierry sich anschauen will, doch die Cité hat nur wenige schmale Zugänge, die von allen Seiten überwacht werden. Wir geben es auf.

Ich als Algerier könnte ja reingehen, meint Thierry. Mit meinen drei, vier Worten Arabisch schlag ich mich durch. Wenn mir jemand dumm kommt, sage ich einfach: Hey, hier im fünften Stock hat früher meine Großmutter gewohnt! Ihr werdet mich doch wohl nicht davon abhalten wollen, noch mal das Haus meiner geliebten Großmutter zu sehen! Meine Großmutter Nurrrra! Gut, dich allerdings werden sie ausplündern.

Und du wirst sagen: Wer ist das denn, ich kenn die Frau nicht, die folgt mir überall hin, ich hab die noch nie gesehen.

Das sind halt meine Cousins, die tun mir nichts.

Okay, ich geh schon mal vor. Kannst ja nachkommen, wenn du mit deinen Cousins fertig bist.

Ein paar Schritte weiter sehen wir in der Rue Garibaldi einen Zettel mit einem Foto an einem Laternenpfahl kleben. Über dem Foto steht:

SALUT JE CHERCHE UN

VIEUX ARABE TRÈS SOUPLE

COMME SUR LA PHOTO

TELEFON 06…

– auf Deutsch: Hallo ich suche einen alten, sehr gelenkigen Araber wie auf dem Foto.

Der französische Satz enthält einen Fehler und ist ungeschickt zweideutig formuliert, denn zweifellos wird hier nicht irgendein möglichst gelenkiger Araber gesucht, sondern ein bestimmter: derjenige, der auf dem Foto zu sehen ist. Das Foto ist allerdings eine schlechte Fotokopie und der Abgebildete kaum zu erkennen. Unter der hohen Stirn verschwinden die Augen tief in den Höhlen. Auch der Mund ist nur ein höhlenartiger Schatten. Der alte Mann liegt – wahrscheinlich im Freien, auf einer Wiese – auf dem Bauch, die Arme vor der Brust verschränkt und die Beine hinter sich in der Luft gekreuzt, sodass seine großen schwarzen Schuhe am Ende der ineinander verschlungenen Beine auf akrobatisch scheinende Weise über seinen Kopf hinausragen.

Für einen Mann dieses Alters muss er tatsächlich sehr gelenkig sein, doch wird wohl keiner, der diesem verirrten alten Araber über den Weg läuft, ihn auf seine Geschmeidigkeit prüfen. Vermutlich war es einfach das einzige Foto, das die Angehörigen besaßen. Doch wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, mithilfe dieses unkenntlichen Porträts den alten Mann wiederzufinden?

An der nächsten größeren Kreuzung, vor der Metrostation Garibaldi, fällt mir eine vielleicht dreißigjährige Afrikanerin oder Französin afrikanischer Herkunft auf, die über ihrem schwarzen Rollkragenpulli ein gelb-braun-rot-blau leuchtendes afrikanisches Gewand mit glockigen Ärmeln trägt, in dessen Muster die Worte Journée internationale de la femme, 8 mars 2023 und Je pense à ma mère eingearbeitet sind. Während Thierry in einiger Entfernung stehen bleibt und einen Mundwinkel hochzieht, spreche ich die junge Frau auf ihr außergewöhnliches, frauenkämpferisches Kleid an, und da sie erfreut und freundlich reagiert, frage ich sie, ob ich ein Foto von ihr machen kann. Sie ist einverstanden. Das dunkle Brillengestell schief auf der Nase, steht sie neben einem jener zum Grill umfunktionierten Einkaufswagen vor der Metrostation, wo sie gerade geröstete Kastanien kaufen wollte, und lächelt fein. Auf ihrem Bauch prangt eine (nicht sehr) dunkelhäutige Frau mit geschlossenen Augen und offenem, lachendem Mund, eine Faust auf Ohrhöhe geballt.

Wir sind jetzt im Zentrum von Saint-Ouen angelangt, wo man sich in einem Viertel von Paris wähnen könnte. Die Architektur ist ähnlich, wenn auch oft niedriger; es gibt Cafés und Läden, die es auch in Pariser Straßen geben könnte, und der Sacré Cœur schaut am anderen Ende der Straße über die Dächer. Doch kaum gehen wir ein paar Schritte weiter, fängt wieder das Banlieue-Durcheinander an: Wohnanlagen verschiedenen Datums, Baustellen, Unterführungen. Am Boulevard Victor-Hugo hat der Marathonläufer Boughéra El Ouafi eine Weile ein Hotelzimmer bewohnt, doch da ich die Hausnummer nicht kenne und das Hotel sicher längst nicht mehr existiert, laufen wir vergeblich ein Stück diese unwirtliche Straße entlang, bis wir auf den kleinen Friedhof von Saint-Ouen stoßen, ein flaches, unbepflanztes Stückchen Land, an das unmittelbar ein heruntergekommener, kolumbariumartiger Wohnblock mit Friedhofsblick grenzt. Zum ersten Mal in meinem Leben sehe ich hier jemanden auf einem E-Roller über einen Friedhof sausen. Es ist ein junger Schwarzer, dessen lange, zusammengebundene Zöpfchen während der Fahrt sanft auf seinem Rücken schaukeln. In der Nähe des Friedhofs steht ein bärtiger Mann mit Morgenmantel und Badelatschen vor uns auf dem Gehweg und unterhält sich mit einer Frau, die sich an ein parkendes Auto lehnt.

Und? Siehst du in Paris vielleicht Männer im Morgenmantel auf der Straße rumlaufen?, fragt Thierry.

Ich gebe zu, dass ich in Paris noch nie einen Mann im Morgenmantel auf der Straße gesehen habe. Ehrlich gesagt, gehörte das aber auch nicht zu den Dingen, die ich bisher besonders vermisst habe, sage ich.

Ah! Da sieht man’s wieder, diese Verschlossenheit für fremde Welten, neue Eindrücke.

Na, wenn du willst, kannst du das ja als Sehenswürdigkeit in deinen Neun-Drei-Reiseführer aufnehmen, sage ich.

Wir wollen noch einmal zur Île Saint-Denis, an deren westlichen Ufer wir neulich kehrtmachen mussten. Diesmal gehen wir am südlichen Zipfel der Inselsichel los. Schon von der Brücke aus sehen wir die drei abgewrackten Türme der Cité Marcel-Paul. Die chouffeurs sind wie fast überall Schwarze; einer sitzt auf einem drehbaren Bürosessel auf Rollen vor dem vordersten der Türme, neben sich eine lange Reihe leerer Cola- und sonstiger Dosen. Die Cité soll demnächst abgerissen werden, die Wände sind feucht und schimmeln, lese ich später, doch schon von außen ist klar, dass an diesen Gebäuden seit Jahrzehnten nichts mehr gemacht wurde.

Hinter der Cité, am äußersten Zipfel der Insel, Île des Vannes genannt, liegt ein Fußballplatz, auf dem ein paar Jungs vor leeren Zuschauertribünen spielen, und ein »Sportpalast«, in dem in den Siebzigern Konzerte von Pink Floyd und Led Zeppelin stattfanden und der seither neben der Cité vermodert. Für die Olympischen Spiele soll er renoviert werden.

Wir gehen das östliche Ufer entlang nach Norden, vorbei an mächtigen, gerade erst fertig gewordenen Wohngebäuden und unzähligen Baustellen auf beiden Seiten des Seine-Arms, auf denen Teile des zukünftigen »Olympischen Dorfes« wachsen. Wie viele Häuser und alte Industriegebäude mussten dafür abgerissen werden? Das neu bebaute Gelände ist unüberschaubar, hinter jedem entstehenden Neubau wächst noch ein weiterer, bis plötzlich die Baustellen einem ehemaligen Zementwerk Platz machen, durch dessen Öffnungen der Wind pfeift. Wir sehen dunkelhäutige Menschen ein- und ausgehen, offensichtlich ist das Gebäude bewohnt, und tatsächlich lese ich am Abend, dass sich hier seit drei Jahren um die fünfhundert Menschen, hauptsächlich aus dem Tschad und dem Sudan, eingerichtet haben. Als wir zwei Monate später noch einmal vorbeikommen, überragt eine mattsilbern leuchtende Stacheldrahtrolle die das Gelände umschließende Mauer, und ein Wächter bewacht den Eingang: Die Bewohner sind ausquartiert worden. Hier, in unmittelbarer Nähe des Olympischen Dorfes, waren sie noch unerwünschter als anderswo. Eben noch lebten diese Menschen neben uns; am frühen Morgen wurden sie abtransportiert. Wo mögen sie hingekommen sein?, fragen wir uns, bevor wir weiter unseren Alltagsbeschäftigungen nachgehen. Es waren Menschen darunter, die arbeiten (einer ist Schweißer in Stains, ich höre ihn in einer Radiosendung sprechen), Kinder, die zur Schule gehen. Aus diesen Zusammenhängen wurden sie herausgerissen, und da sie keine Aussicht auf Papiere haben, werden sie sich ein anderes Schattenloch suchen, werden sie anderen Ortes Schattennachbarn sein, bis sie auch aus diesen neuen Schatten wieder vertrieben werden und so weiter, von Schatten zu Schatten bis zum letzten großen Schatten, dem einzigen, der uns alle gleichmacht, besser als jede Revolution.

Über die nächste Brücke verlassen wir die Insel und gelangen zur RER-Bahnstation Saint-Denis, vor der schwarze Jugendliche herumlungern. Bis zu unserem Café ist es von hier aus nur noch eine halbe Stunde Weg, vorbei am Park der Ehrenlegion und vorher noch an einem Krankenhaus, Hôpital Casanova, bei dem ich mich frage, warum es ausgerechnet nach einem Massenverführer benannt ist, bis ich merke, dass nicht der berühmte Venezianer, sondern eine kommunistische Résistance-Kämpferin, Danielle Casanova, die Namensgeberin ist.

Außer uns sind heute nur der Marokkaner und zwei Männer im Café, die sich bald zum Kartenspielen an einen Tisch zurückziehen. Rachid begrüßt uns herzlich, er scheint sich über unser Kommen zu freuen. Thierry erzählt ihm wieder von Algerien und von Aït Ahmed, und Rachid, der sonst nicht besonders viel Interesse für Algerien auf bringt, hört ihm diesmal aufmerksam zu. Thierry erzählt, wie Aït Ahmed Ende der Neunziger aus seinem Schweizer Exil als Präsidentschaftskandidat nach Algerien zurückgekehrt und während der Wahlkampagne von einem alten Mann angesprochen worden sei. Dieser sei ihm in die Arme gefallen und habe ihn begrüßt wie einen alten Bekannten, er habe geweint und geweint (Thierry macht die überschwänglichen Begrüßungs- und Klagegesten des alten Mannes nach). Irgendwann hätten sie einander weinend in den Armen gelegen, bis Aït Ahmed schließlich gesagt habe: Entschuldigen Sie, aber … woher kennen wir uns denn? – Ja, erinnern Sie sich denn nicht?, habe der andere gerufen. Ich war es doch, der Sie 1964 zum Tod verurteilt hat!

Das sei Algerien, habe Aït Ahmed zu Thierry gesagt.

Wir müssen lachen. Meine Vermutung, dass Rachid, wie Aït Ahmed, kabylischer Herkunft ist, bestätigt sich. Das ist vielleicht auch der Grund, warum er nicht Arabisch spricht, die Sprache seiner Mutter war vermutlich das kabylische Berberisch.

Seine Mutter werde demnächst nach Algerien reisen, sagt er, um ihre Familie zu besuchen, sie habe Geschwister in Algier, in einem Vorort, und eine unverheiratete Schwester in der Kabylei, wo die Familie herkomme. Doch sie schimpfe dauernd, weil nichts richtig funktioniere in diesem Land. Wenn sie zu Hause bei ihrer Schwester in den Bergen bliebe, ginge es ja noch, aber nein, sie liebe die Stadt. Seine Mutter habe einen starken Charakter, mit dem sie sich in Algerien immer wieder Probleme einhandele. Zum Beispiel wolle sie sich auf eine Café-Terrasse setzen und rauchen dürfen, ohne zurechtgewiesen oder schief angesehen zu werden. Auf dem Markt handle sie Preise gerne selber aus, doch die Händler hätten es nicht gern, wenn sich Frauen direkt an sie wendeten.

Sie sucht die Probleme!, wirft Thierry lächelnd ein.

Ja, ja, sie lasse sich nichts gefallen, sagt Rachid. Ihre Schwester jedenfalls, die habe es schwer gehabt in den Neunzigern, weil sie weiter als Lehrerin habe arbeiten wollen. Das sei aber nur unter Lebensgefahr möglich gewesen. Jeden Tag habe sie einen anderen Weg zur Schule genommen.

Die Islamisten wollten nicht, dass Frauen arbeiten gehen, doch wenn ich Rachid recht verstehe, war das noch größere Problem, dass seine Tante in der Schule Französisch lehrte – die Sprache des Kolonisators. Dass sie eine Frau war, kam noch erschwerend hinzu. Die Frauen hatten zu Hause zu bleiben. Vor allem die verheirateten. In der Kabylei sei das anders, sagt Rachid. Er scheint den Rest Algeriens für sehr zurückgeblieben zu halten.

Thierry und er reden dann darüber, wie schlecht Araber in Frankreich immer noch behandelt würden. Rachid erzählt von Freunden, die man im Café einfach wie Luft behandele, während die Franzosen am Nebentisch sofort Getränke serviert bekämen. Von der Arbeitssuche ganz zu schweigen. Für eine Stelle mit »Kundenkontakt« wolle man keine Araber haben, und auch sonst so wenige wie möglich.

Und die Wohnungssuche … Mit seinem Nachnamen habe er nichts gefunden, er habe seine Frau vorschicken müssen, sagt Thierry.

Die Leute erinnerten einen dauernd an die eigene Herkunft, sagt Rachid. Er habe neulich ein paar Worte mit einer Frau gewechselt, die ihn gleich gefragt habe, ob er Kabyle sein. Nein, Madame, ich bin Franzose, habe er gesagt. Immer werde man auf seine Herkunft verwiesen. Dabei esse er Schweinefleisch und alles. Manchmal sei ihm das sogar vorgeworfen worden. Einmal, mit dreizehn, vierzehn, habe ein Freund ihn gefragt: Und? Die Religion? Nein, das sagt mir nichts, habe er ihm geantwortet. Da ist deine Mutter dran schuld!, habe der Freund gerufen, und er habe geantwortet: Nein, da ist niemand schuld, das ist einfach so. Aber später, so mit fünfzehn, sechzehn, da habe dann doch seine Herkunft angefangen, ihn umzutreiben, er sei damals auf eine Platte des kabylischen Sängers Idir gestoßen, diese Musik habe ihn aufgewühlt damals, aber lange habe das nicht angehalten. Mit Anfang zwanzig habe er es noch mal versucht, aber nein, es sei nicht gegangen, er habe an nichts anknüpfen können.

Er fühle sich auch immer entre deux ailleurs, sagt Thierry – wörtlich: zwischen zwei Woanders, weder ganz hier noch ganz dort.

Wir erfahren dann noch, dass Rachid bis vor zehn, zwölf Jahren als kaufmännischer Angestellter für verschiedene Firmen gearbeitet hat, bis seine Mutter, die eigentliche Inhaberin und bis dahin alleinige Betreiberin des Cafés, gesundheitliche Probleme bekommen hat und Rachid seine Stelle aufgegeben hat und eingesprungen ist. Ursprünglich nur kurzfristig. Und nun ist er immer noch da, von morgens um neun bis abends um zehn steht er an sechs Tagen in der Woche hinter der Theke. Angestellte kann er sich nicht leisten. Urlaub auch nicht. In seinen wenigen freien Momenten muss er zu Hause für seine kranke Mutter sorgen. Um seine eigenen Rückenprobleme kann er sich nicht kümmern, weil er es sich nicht erlauben kann, das Café zuzumachen, um zur Physiotherapie zu gehen. Er lebt mit seiner kranken Mutter ein paar Häuser weiter.

Noch nie hat uns Rachid so viel von sich anvertraut. Mit seiner leisen, sanften Stimme und ohne je zu klagen oder wehleidig zu klingen. Und dann, vielleicht weil heute so wenig los ist im Café, erzählt er uns, dass er nebenher noch eine andere Tätigkeit hat, der er mit Leidenschaft nachgeht: Er hat einen kleinen Verlag gegründet, in dem er in sporadischen Abständen, jedes Mal, wenn eine neue Nummer fertig ist, eine Zeitschrift herausgibt, die er im Internet vertreibt. In der nächsten Ausgabe soll es um alte amerikanische Science-Fiction-Serien gehen, The Invaders, Star Trek, Mission: Impossible und so weiter. Immer stehen die Sechziger-, Siebzigerjahre im Mittelpunkt. Offenbar richtet sich die Zeitschrift an Nostalgiker – wie er selbst einer ist? Taucht er mit der Zeitschrift wieder in die glücklichsten Jahre seines Lebens ein? Sein Leben heute, so viel ich davon bisher sehen konnte, besteht darin, den Verlorenen, Einsamen, den Siechen des Viertels einen Zufluchtsort zu bieten und dabei selbst gerade so über die Runden zu kommen. Er trinke nicht. Er rauche nicht. Jeden Centime, den er sparen könne, stecke er in diese Zeitschrift.

Die Filme, die Autos, die Gegenstände, die Musik jener Jahre – da gebe es noch viel zu tun. Aber es sei schwierig, im Moment werde alles immer teurer, das Papier, der Druck, die Versandkosten … Es gebe Blogs, die sich auf diese Epoche spezialisiert hätten, dort tue er sich um. Es sei nicht leicht, denn er habe hier im Café nicht die nötige Konzentration. Wenn nicht viele Kunden da seien, setze er sich zwischendurch an den Computer.

Das Gute sei, sagt Thierry, dass er sich einen kleinen Raum für sich geschaffen habe.

Ja, das brauche er, sagt Rachid. An etwas anderes denken. Das sei wichtig.

Da denkst du jeden Tag dran, sagt Thierry, mehr als Feststellung denn als Frage, und Rachid bestätigt es.

Das helfe ihm, den Rest zu ertragen.

Uns zu ertragen!, sage ich. Wir sollten nicht mehr so oft kommen und dich zuquatschen.

Er lächelt kopfschüttelnd und holt einen uralten Laptop unter der Theke hervor und klappt ihn auf wie einen Mund voller Zahnlücken: Es fehlen einige Tasten, die aber scheinbar trotzdem noch irgendwie zu bedienen sind. Auf dem schlechten Bildschirm zeigt er uns den Cover-Entwurf der neuen Zeitschriftausgabe, ganz im Sechzigerjahrestil. Für die Textbeiträge und das Layout bezahlt er freie Mitarbeiter.

Mir ist rätselhaft, wie er das finanzieren kann. Sicher mühsam genug, denn die Ausgaben erscheinen in niedriger Auflage und in großen Abständen.

Nachdem er den zwei Kartenspielern noch ein Bier gebracht hat, zeigt uns Rachid eine verblasste Postkarte, auf der das Café in den Neunzigerjahren zu sehen ist, als seine Mutter es von einer Frau namens Mauricette übernahm. Vor dem Café steht ein Kamel. Damals hatte sich eine Zeit lang ein Zirkus ganz in der Nähe niedergelassen. Sicher gab es mehr Brachland. Jemand hatte das Kamel zum Café geführt. Ob Rachids Mutter ihm wohl etwas zu trinken hingestellt hat, wie man es mit Hunden tut?

Das Café hat sich nicht verändert. Es sah damals schon wie ein Überbleibsel aus den Fünfzigerjahren aus.

In den Neunzigern sei die ursprüngliche Bevölkerung abgewandert, sagt er. Stattdessen seien Nord- und Schwarzafrikaner hergezogen.

Das Café sei aber ein Ort, wo alle möglichen Leute hinkämen, sagt Thierry. Das habe uns gleich so angezogen.

Ein Zufluchtsort, sagt Rachid.

Ich: Und wie wir empfangen wurden beim ersten Mal! Das werde ich nie vergessen.

Er habe sich schon ein bisschen gewundert, was wir hier machten, sagt Rachid.

Unbekannte!, ruft Thierry. Was wollen die denn hier?

Erst habe er geglaubt, wir wollten vielleicht ein Haus in der Gegend kaufen.

Wir sagen ihm, dass wir nicht vorhätten, zusammenzuziehen, und dass wir zwar verheiratet seien, aber nicht miteinander.

Als wir wieder draußen sind, bricht es aus mir heraus: Gibt es denn keine Möglichkeit, Rachid irgendwie zu helfen? Er braucht mindestens schon mal einen neuen Computer! Ich verstehe nicht, wie man mit so einem Ding überhaupt arbeiten kann, noch nie habe ich ein derart klappriges Gerät gesehen, außer auf dem Sperrmüll vielleicht. Es fehlen jede Menge Tasten! Damit kann doch kein Mensch etwas Vernünftiges zustande kriegen.

Während Thierry ruhig neben mir hergeht und mir leicht spöttische Seitenblicke zuwirft, steigere ich mich immer weiter in ein bei mir sonst nicht besonders stark entwickeltes Helferinnensyndrom hinein. Wie man es denn anfangen könne, ihm ein bisschen Geld zuzuschustern, frage ich. Statt eines Espressos für einen Euro könnte man natürlich etwas Teureres trinken, aber was dabei herausspringen würde, wäre ja lächerlich. Mir ist es ein umso dringenderes Bedürfnis, Rachid zu helfen, als ich ihn von Anfang an sehr mochte und heute zu spüren glaube, dass das Café für ihn einen beruf lichen und existenziellen Abstieg bedeutet, eine Sackgasse, aus der er nicht wieder herausfindet, und sein ganzes Leben fortan an diese Parallelbeschäftigung hängt, die er sich unter widrigsten Umständen erkämpft und die ihm ungeheuer wichtig zu sein scheint, wichtiger vielleicht sogar als ein heiler Rücken, weil sie ihm zeigt, dass seine Existenz nicht in dem armseligen, ungeheizten, wenn auch von mir und anderen geliebten Café aufgeht, ja, dass er für anderes gemacht ist und aus eigener Initiative so etwas Komplexes wie eine Zeitschrift konzipieren und realisieren kann.

Ich rede und rede. Thierry lächelt nur.

Plötzlich fällt mir ein, dass ich einen alten Laptop zu Hause herumstehen habe, der noch funktionstüchtig ist, den ich aber, als ich vor drei Jahren genug Geld hatte, um mir einen neuen zuzulegen, zu lahm fand, und ich frage Thierry: Könnte ich ihm den nicht geben? Oder könntest du das nicht machen? Du könntest ihm doch einfach sagen, dass du dir einen neuen gekauft hast, weil der alte nicht mehr genug Speicher hatte für das Filmmaterial, das du brauchst. Und dass du keine Verwendung mehr dafür hast.

Thierry lächelt immer schiefer und zieht jetzt dabei eine Augenbraue hoch.

Und hast du nicht auch einen alten Kühlschrank, der nicht mehr so richtig kühlt, den du ihm geben könntest?, fragt er spöttisch.

Ich sehe sofort ein, dass es so nicht geht.

Ich dachte doch nur … Weil das Ding eh nur bei mir rumsteht … Und es sicher noch viel besser funktioniert als der zahnlose Laptop, den er hat …

Thierry erklärt mir, dass man so nicht mit Leuten umgehen könne, dass ein Geschenk auch demütigend sein könne und dass man aufpassen müsse, wie man es anfange, wenn man jemandem etwas Gutes tun wolle, und ich spüre sofort, dass er recht hat.

Aber wie können wir es denn sonst anfangen? Mir fällt nichts ein.

Thierry denkt kurz nach.

Vielleicht können wir einen meiner Kurzfilme im Café zeigen, sagt er. Wir laden ein paar Leute ein, und er verkauft fünfzig oder hundert Getränke mehr als an jedem anderen Abend.

Ich staune, wie schnell Thierry eine Lösung eingefallen ist, bei der Rachid nicht als Almosenempfänger dasteht, sondern als einer, der eine kleine Filmaufführung veranstaltet.

Du musst den anderen als Menschen ernst und wichtig nehmen, sagt er jetzt gar nicht mehr spöttisch. So geht das nicht, hier, nimm das, das brauch ich eh nicht mehr.

Ich merke, dass meine erste Regung unbedacht war.

Kurz darauf verfallen wir wieder in einen unserer überdrehten Dialoge, die mir guttun, weil ich mir weniger bescheuert vorkomme, sobald ich mich über mich selbst lustig machen kann.

Also der Typ im Café, sagt Thierry, der hat da so ein klappriges Teil … Glaubst du, ich kann (er legt sich die Hand aufs Herz) …

Ich: … glaubst du, ich kann ihm meine olle Waschmaschine andrehen, die nicht mehr schleudert … ohne dass er sich beleidigt fühlt? Übrigens wär’s am besten, wenn du ihm das olle Ding anbieten würdest und nicht ich.

Er (mich weiter nachahmend): Ja, genau, am besten wär’s, wenn du ihn beleidigst und nicht ich! Ja, ist mir irgendwie lieber, wenn du das übernimmst.

Ich: Ach, und wenn ich schon dabei bin, ich hab da noch den ganzen Keller voller Kram, einen ausrangierten Drucker, einen Drehsessel, der sich nicht mehr runterdrehen lässt, ich komm mit den Füßen gar nicht mehr auf den Boden. Vielleicht kann er das eine oder andere davon gebrauchen?

Er: Am besten miete ich einen Kleintransporter und stell ihm den ganzen Kram vor die Tür. Wollt ich eh loswerden, das Zeug.

Ich: Ich war schon immer sehr großzügig!

Es ist schon fast dunkel, als wir an der nahen Cité des Francs-Moisins anlangen; in der kalten Märzluft sitzen zwischen zwei Wohnblöcken und einem Parkplatz, ein Stück Stoff um den Kopf gewickelt, ein paar ältere Afrikanerinnen im Boubou-Kleid und grillen. Jüngere Schwarze stehen um den Grillplatz herum und unterhalten sich leise. Wir hören die Stimmen, ohne etwas zu verstehen. Eine große Ruhe geht aus von dieser Zusammenkunft, jedenfalls kommt es mir, der Vorübergehenden, so vor, und wir tragen diese Ruhe zwischen den mächtig und nackt sich gegenüberstehenden Blöcken der Cité hindurch und wieder zurück, vorbei an den chouffeurs, die in der Mitte und an allen Hauseingängen stehen, doch erst nachdem wir die Cité wieder verlassen haben, ertönt ein erster lang gezogener Ruf, dann ein zweiter und ein dritter, und bald hallt die ganze Gegend von dem Männergesang, die Stimmen lösen sich ab, weiten sich aus, und während wir uns entfernen, hören wir sie noch lange immer leiser und leiser widerhallen.