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Als wir uns an der Bahnstation La Plaine – Stade de France treffen und zu »unserem« Café aufmachen, erzähle ich Thierry gleich, was ich zu dem Kriegerdenkmal noch alles herausgefunden habe: Der Künstler, Paul Moreau-Vauthier, sei selbst ein Poilu, also Soldat, im Ersten Weltkrieg gewesen, er sei 1916 verletzt worden und habe später etliche Kriegerdenkmäler entworfen, bis er 1936 bei einem Unfall gestorben sei (sein Auto fuhr gegen einen Baum). Eines seiner Kriegerdenkmäler sei ein Denkmal für die »Helden der Schwarzen Armee« gewesen, eine Würdigung der afrikanischen Soldaten der Kolonien, die in der französischen Armee gekämpft und unter anderem die deutschen Truppen daran gehindert hatten, bis nach Paris vorzustoßen. 1924 sei das Denkmal in Reims aufgestellt worden, und eine Replik davon in Bamako, doch die Wehrmacht habe das Standbild 1940 aus Reims abtransportiert und vermutlich wie viele andere Denkmäler eingeschmolzen. Diese Plastik sei den Deutschen jedoch besonders zuwider gewesen: Afrikanische Soldaten hätten nach dem Ersten Weltkrieg im Rheinland zu den Besatzungstruppen gehört, von »schwarzer Schmach« oder »Schande« sei damals in Deutschland viel die Rede gewesen. 2013 sei ein französischer Bildhauer mit einer Replik der übrig gebliebenen Replik aus Bamako beauftragt worden, die seit 2018 in Reims fast am gleichen Platz wie ihre Vorgängerin stehe: vier entschlossen, aber etwas dümmlich dreinblickende afrikanische Soldaten hinter einem strengen französischen Offizier, der die Trikolore trägt.

Klar, meint Thierry in sarkastischem Ton, die müssen immer von einem schlauen Franzosen befehligt werden, alleine bringen sie’s zu nichts.

Dafür haben sie dann auch weniger Rente als die französischen Soldaten gekriegt, sage ich. Die Veteranenrente lag für einen Franzosen bei 417 Euro im Monat und für einen Algerier bei 57, hab ich gelesen. Nachdem einer von ihnen Anklage erhoben hatte, wurden 2006 die Rentenbeträge angeglichen. Da war allerdings der letzte Tirailleur längst gestorben.

Tja, Pech für sie, meint Thierry.

Ich denke noch weiter über das Denkmal für die Helden der Schwarzen Armee nach. Was war das für eine Würdigung? Als tapfere Hilfskräfte waren diese schwarzen Helden durchaus willkommen; wenn sie im Kampf starben, bekamen sie in seltenen Fällen sogar ein Denkmal, doch ein Verhältnis von gleich zu gleich war nicht vorgesehen. Soldaten und billige Arbeitskräfte aus fremden Ländern konnte Frankreich gebrauchen, die Ressourcen dieser Länder auch, nur ebenbürtige Mitbürger nicht. Im besten Fall sah man in diesen Männern unbändige Kinder, die erst noch erzogen und zivilisiert werden mussten und denen man, wenn sie sich mutig und brav gezeigt hatten, ein bisschen Anerkennung zollte; im schlechtesten Untermenschen.

Wir sind in »unserem« Café in der Rue Roland Vachette angelangt. Heute stehen der arbeitslose Marokkaner und der französische Rentner mit Baskenmütze, den wir schon einmal gesehen haben, an der Theke. Wir erfahren, dass Ersterer aus dem Osten Marokkos, aus Oujda, nah der algerischen Grenze, stammt. Die Marokkaner hätten ihre Wege durch die Berge, über die sie die Grenze überquerten, erzählt der Marokkaner, sie gingen in Algerien Benzin kaufen und brächten es auf Eselsrücken zurück, hin und her, hin und her, so gehe es die ganze Zeit.

Auch wenn die Grenze geschlossen ist, die Algerier und die Marokkaner finden immer rüber, sagt Thierry, der die Grenzregion bei Tlemcen von der algerischen Seite her kennt.

Die Esel kennen die Wege alleine, für zehn Esel braucht es nur einen Führer, sagt der Marokkaner, der selbst schon Benzin geschmuggelt hat. Zehn Kilometer gehen die so. Ich schwör dir, die rutschen nicht ab. Vor Ort wird abgeladen, die Esel bekommen zu fressen und zu trinken, und schon geht’s wieder los. Die Grenze ist zu, aber gehandelt wird die ganze Zeit. Da fließt Geld, schwör ich dir! Da kannst du schnell fünfhundert Euro verdienen. Nicht nur hier kannst du Geld verdienen, wenn du ordentlich malochst, dort auch!

Ordentlich malochen heißt dort ordentlich schmuggeln, sagt Rachid, und alle lachen.

Aber das sind doch keine Drogen! Lebensmittel sind das. Zum Essen. (Ich dachte, Benzin, aber gut.)

Thierry kennt Schmuggelhändler in Algerien, Trabendisten werden sie genannt, von Trabendo, Schmuggel. Er erzählt von einem Bekannten seines Freundes aus Constantine, der Elektronik aus China einführt, reine Schmuggelware. Kein Problem. Der habe noch nicht mal eine Firma, aber das big business. Nur als er mal eine ganze Fabrik habe importieren wollen, habe es Probleme gegeben. Keine Freiheit gebe es hier, habe er geschimpft, total korrupt sei dieses Land … Dabei zahle er selbst den Grenzbeamten seit dreißig Jahren Schmiergelder!

Der Marokkaner erzählt, dass keiner sie möge, die Marokkaner aus Oujda, weder die Algerier noch die Marokkaner. Die Algerier nicht, weil sie Marokkaner seien, und die Marokkaner nicht, weil sie wie die Algerier sprächen. Sie hätten den gleichen Akzent.

Aber wir mögen uns untereinander!

Thierry schimpft auf die Franzosen und auf den Schaden, den hundertdreißig Jahre französische Kolonialherrschaft in Algerien angerichtet habe.

Das ist schlimm, sagt der Marokkaner, aber das war Krieg, dagegen kann man nichts machen. Auf beiden Seiten hat es Tote gegeben, auch von den Franzosen sind viele umgekommen.

Er scheint den Franzosen die Kolonisierung nicht weiter übel zu nehmen.

Rachid dreht sich zu dem französischen Rentner mit Baskenmütze um.

Du bist doch immerhin achtzehn Monate in Algerien geblieben, oder?, fragt er ihn.

Und dazu kamen vorher schon dreieinhalb Monate in Frankreich.

Dreieinhalb Monate Ausbildung?, frage ich.

Ja. Aber nach einem Jahr durften wir auf Urlaub zurück.

Im Aurès-Gebirge warst du, oder?, fragt Rachid weiter.

Ja, da war es gut, ich wär gerne die ganze Zeit über dort oben geblieben, statt dann nach Algier zu müssen. Dort oben in den Bergen waren wir …

… gut untergekrochen, ergänzt Rachid.

Dort hatten wir einen Hauptmann, der keinen Ärger wollte. Wir waren eine Kompanie auf der einen Seite des Berges, und dann gab’s noch eine auf der anderen Seite, die haben ständig attackiert. Und? Fazit? Was ist dabei rausgekommen? Jede Nacht wurden die von den Fellahs angegriffen. Während wir unsere Ruhe hatten.

Die ganze Zeit?

Solange wir im Aurès waren, ja.

Und dann?

Dann, an den Bahnstrecken entlang, da hatten wir Verluste. Wir hatten eine Stellung an den Gleisen.

Die Szene, die er jetzt erzählt, ist wirr, es ist die Rede von einer Tür, die in der Nacht geöffnet wurde, von fünf Toten, von einem Einzigen, der sich retten konnte, indem er von »dort oben« runtersprang und sich den Fuß prellte. Von Büschen, hinter denen es sich regte, von eigenen Männern, auf die man fast geschossen habe. Von jemandem, den sie dann abgeholt hätten (den, der gesprungen war, vermutlich). Weiß nicht, was aus dem geworden ist, schließt er. Der hat nachts immer geschrien.

Und Sie sind nie mehr nach Algerien zurückgekehrt danach?, fragt ihn Thierry.

Nein.

Aber damals, was haben Sie damals von dem Ganzen gedacht?, will ich wissen.

Ach, das war ja schon das Ende bei uns, als wir kamen, war’s ja schon vorbei, sagt er, ohne auf die Frage zu antworten.

Wann war das? 1960?

61.

Aber haben Sie damals gedacht, dass das richtig war, dieser Krieg, oder war Ihnen das egal? Sie waren doch noch sehr jung.

Die Umstehenden lachen, weil ich so unverblümt und insistierend frage, und ich entschuldige mich sofort dafür (erhoffe mir aber trotzdem eine Antwort). Doch wieder redet der alte Mann weiter, als hätte er meine Frage gar nicht gehört:

Nach und nach hat sich’s verändert. Die höheren Offiziere sind zuerst verschwunden. Wir hatten einen Hauptmann, der ging nachts immer auf die Jagd. Ein Kumpel hat immer gesagt: Ich hab die Nase voll, ich kann nicht schlafen, der nimmt mich immer auf die Jagd mit. Das war auch ein Risiko. Man weiß ja nie. Manche wollten sich rächen. Aber was gut war, das war, als wir am Meer waren. Wir haben dort ein Weingut bewacht. Das war vielleicht ein Haus, das der hatte, der Typ! (Seinem Gesicht nach scheint es geradezu ein Schloss gewesen zu sein.) Der hat gegen uns Strafanzeige erstattet, weil wir ein paar Weintrauben von einem vorbeifahrenden Lastwagen geklaut haben. Wir haben ja nicht drei Kilo geklaut! Nur ein paar Handvoll. Hat der sich gleich beschwert. Dabei haben wir ihm das Haus bewacht. Wenn wir nicht dagewesen wären … Die anderen haben doch nur drauf gewartet … Nee, nee, manche waren nicht nett.

Dieser Mann hat also sein Leben riskiert, um französischen Großgrundbesitz zu schützen, denke ich. Dann fragt Thierry ihn, wie alt er damals war.

Zwanzig.

Haben Sie irgendwas als Erinnerung behalten? Fotos?

Nein, ich hab alles weggetan. Alles weg.

Nein!, ruft Thierry ungläubig.

Doch, ich hab das Zeug nicht behalten wollen. Das hätte alles gut gehen können, fügt er geheimnisvollerweise hinzu.

Aber es ist nicht gut gegangen, sagt Thierry.

Nein. Um zehn Uhr morgens mussten wir denen Essen bringen, wir sind zu zweit los, zu einer Kompanie, die ich weiß nicht wie viele Kilometer weit weg stationiert war. Gleichzeitig hab ich die Post mitgenommen und noch anderen Kram. Und wenn wir dann zurückkamen um zwei, das war eine Hitze! Wahnsinn. Wir sind einer Frau begegnet (une dame, sagt er), die war mit ihren kleinen Kindern zu Fuß unterwegs, da hab ich zu dem Fahrer gesagt, halt an, halt an, wir nehmen sie ein Stück mit. Und der Fahrer, der hat das gleich dem Hauptmann erzählt, das war verboten, sogar eine Frau mit kleinen Kindern.

Sogar vor den Frauen musste man sich hüten damals?, frage ich.

Musste man. Aber die hat sich gefreut! Sie hat uns was zu essen gegeben, das war vielleicht scharf (er verzieht das Gesicht). Aber die Kinder haben sich kaputtgelacht. Das waren schöne Momente. Aber oben in den Bergen haben wir keine Frauen gesehen. Höchstens beim Holzholen, mit einem großen Bündel Holz auf dem Kopf. Oder mal beim Doktor, zum Verbinden oder so. Aber das durften sie nicht.

Schwierig, sagt Thierry.

Aber ich erinner mich, die kleinen Häuschen. Ganz hinten an der Wand, da haben die Frauen gesessen, ganz abgekapselt. Manchmal durfte der Doktor doch mal kurz rein.

Die Schrecklichkeiten des Krieges sind euch wohl erspart geblieben, sagt Rachid.

Ja. Eigentlich hätten wir das einzige Problem, das wir hatten, nicht haben sollen. War ja schon alles zu Ende.

Aber wie war das mit den Leuten dort, mit der Bevölkerung? Hatten Sie mit denen was zu tun?, frage ich neugierig.

Kein Kontakt.

Außer, Sie haben jemanden in Ihr Auto einsteigen lassen.

Wir hatten keine Kontakte.

Das war verboten?

Nein, aber wir hatten keine Kontakte. Nur mit den Harkis (den Algeriern, die auf der Seite der Franzosen gekämpft haben). Wenn wir vorbeifuhren, haben die eine kleine blauweißrote Fahne hochgehoben. Was nicht hieß, dass es ein Stück weiter nicht eine Straßensperre geben konnte. Die saßen da und spielten die meiste Zeit. Aber wir haben den Kontakt nicht gesucht.

Und jetzt, wie denken Sie jetzt über diese ganze Zeit?, frage ich zur Belustigung der anderen noch einmal.

Na, den Militärdienst musste man machen, ich hätt ihn lieber in Frankreich gemacht.

Das ist alles, was ich aus ihm herauskriege.

Manche wurden nach Deutschland geschickt. Manche gleich nach Algerien. Und wir, wir sind dreieinhalb Monate in Maison-Laffitte geblieben. Zum Training. Da ging’s uns gut. Wir hatten noch nicht kapiert.

Und dann haben Sie kapiert, sage ich.

Und dann haben wir kapiert.

Auch Thierry lässt nicht locker und fragt ihn noch einmal nach Fotos, aber nein, die seien alle weggekommen, zudem seien die Filme, die man damals vor Ort kaufen konnte, schlecht gewesen, die seien bald vergilbt.

Hatten Sie nicht die Negative?

Aber dann hab ich alles weggemacht.

Weggeschmissen?

Er nickt.

Außer, was im Kopf war, sage ich.

Da hätt ich gleich den Kopf wegschmeißen müssen!

Und haben Sie bei Ihrer Rückkehr mit Ihrer Familie darüber geredet?, fragt Thierry.

Nicht so viel. Alles, was Tod ist und so, davon haben sie nichts erfahren.

Und dann sagt er noch mal: Es war ja schon das Ende. Dabei kamen immer noch neue Rekruten an! Als wir abgelegt haben mit der Charles-Plumier, kam gerade noch ein Schiff mit Neuen an.

Noch am selben Abend finde ich heraus, dass die Charles-Plumier ein Bananendampfer war, der 1939, kurz nach seiner Konstruktion, bewaffnet und zum Hilfskreuzer umfunktioniert worden war, 1940 aber im Rahmen der sogenannten Operation Catapult von der Royal Navy vor Gibraltar abgefangen und neutralisiert wurde, weil er, wie ein großer Teil der französischen Kriegsflotte, nach der Kapitulation in die Hände der Deutschen zu fallen drohte. Das Schiff wurde dann in die Navy eingegliedert und nahm an der Landung der Alliierten in Nordafrika und später in der Normandie teil. 1945 wurde es Frankreich wieder zurückgegeben, 1948 wieder zum Fracht- und Passagierschiff umgebaut, um 1962 also einen jungen Mann, der inzwischen als Achtzigjähriger neben mir an der Theke steht, von Algerien nach Frankreich zurückzubefördern!

Thierry und der Veteran reden dann noch ein bisschen über Algier, darüber, wie es sich verändert hat seit der Unabhängigkeit; Thierry erzählt, mit der Restaurierung der zum »Weltkulturerbe« erklärten Kasbah sei der französische »Stararchitekt« Jean Nouvel betraut worden.

Wieso denn bloß schon wieder ein Franzose?, frage ich, aber keiner hat eine Antwort.

Dann kommt Rachids Mutter zur Tür herein und küsst mich rechts und links und noch einmal rechts und links auf die Wangen.

Ah, l’Algérie française, das französische Algerien, das war noch was!, ruft sie aus, als sie uns reden hört.

So?, frage ich ungläubig. War das gut?

Ja. Mein Vater hatte eine Pferdemetzgerei, sagt sie, ohne dass ich unmittelbar einen Zusammenhang herstellen kann.

Die Araber essen kein Pferdefleisch, fährt sie fort. Genauso wenig wie Schweinefleisch.

Die Kabylen aber schon?, frage ich.

Genau. Bei den Kabylen gibt es welche, die essen Schweinefleisch.

Und Pferdefleisch.

Ja. Mein Vater isst gerne Schweinefleisch. Meine Mutter isst keins. (Sie sagt es in der Gegenwartsform, obwohl ihre Eltern sicher längst nicht mehr leben.) Meine Mutter hat nie gearbeitet, mein Vater war erst Angestellter, dann hat er sein eigenes Geschäft aufgemacht.

Die Pferdemetzgerei.

Obwohl es inzwischen frühlingshaft warm ist, trägt Rachids Mutter immer noch ihre gelbe Pudelmütze, mit der sie unwiderstehlich aussieht.

Aus irgendeinem Grund fängt Thierry jetzt an, mit ihr über den FLN und Aït Ahmed zu reden, für den sie zwar die größte Hochachtung hat, in dem sie aber fälschlicherweise einen Freund der Franzosen sieht, wie wahrscheinlich ihr Vater einer war. Keiner widerspricht ihr, wozu auch; sie bringt alles ein bisschen durcheinander, aber wenn sie auf ihr Herz hört, entscheidet sie richtig, scheint mir.

Jetzt kommt Jesus der Zeitungshändler herein und beginnt wie immer augenblicklich einen Endlosdialog (oder hatte er ihn schon begonnen, bevor er über die Schwelle trat?):

Der Kopf, der ist zum Denken da. Wenn du kein Geld hast, dann isst du eben keinen Fisch, dann isst du Schweineschnitzel, da stirbst du auch nicht dran. Meine Hose sollte sieben Euro kosten. Sieben Euro beim Nachbarn, beim Marokkaner, dem hab ich gesagt, komm, mach fünf Euro. Mit meiner kleinen Rente kann ich mir nicht erlauben, eine Levi’s für zwanzig oder dreißig Euro zu kaufen. Da hat er sie mir für fünf Euro gelassen. Heute wollen die Leute alle Luxus. Ein kleiner Lohn und dann … Cofidis! Cetelem! Zwanzig Prozent Zinsen. Mit so einem Dispo-Kredit kommst du nie wieder auf die Beine. Ich hab einen Kunden, der kommt jeden Tag und guckt sich die erste Seite vom Turf an (Pferderennenprognosen), dem hab ich gesagt, einen Tag kannst du sie dir angucken, aber am nächsten Tag kaufst du sie. Waaas, nein, mit seiner kleinen Rente kann er sich das nicht leisten. Ich sag ihm, so, du hast ne kleine Rente und wettest jeden Tag beim Pferderennen, so, so. Nein, nein. Die Leute, egal welche Rasse, wir Europäer sind da nicht besser, alle wollen sie so viel (er zeigt den ganzen Arm bis zur Schulter). Auch so ein Homo ist da, Michou, der sagt mir, ich hab kein Geld, aber ich muss den Turf angucken. Dem hab ich gesagt: Achtung, Michou, wir werden überwacht, wir Zeitungsverkäufer. Das stimmt! Die schicken jemanden, der schaut nach und macht Fotos. Ob der Tisch auch richtig aufgebaut ist, ob die Zeitungen gut präsentiert sind. Wenn der mich noch mal ärgert, der Michou, sag ich ihm: Auf, los, zieh ab.

Er zeigt uns auf seinem Handy ein Foto seines Tisches, auf dem die Zeitungen ausgebreitet liegen.

Ich verkauf auch Zeitschriften: Maxi 2,30, Femme actuelle 2,50, Paris Match. Der Homo, der kauft immer Femme actuelle. Nicht der, der auf Pferderennen wettet, der andere. Ein Paar ist das. Sehr nett beide. Der eine hat mir neulich 1,30 gegeben statt 1,60, hee, Michou, hab ich gesagt, du schuldest mir dreißig Centimes, hat er gesagt, nein, hab ich gesagt, doch, sonst muss ich nämlich aus der eigenen Tasche drauflegen! So ist das.

Unvermittelt kommt er dann auf ein Video zu sprechen, das ihm gerade jemand gezeigt hat und in dem ein Mann mit nacktem Oberkörper zu sehen ist, der, eine Kalaschnikow im Anschlag, durch die Cité nebenan spaziert.

Ist aber nichts passiert, sagt Rachids Mutter, die offenbar schon auf dem Laufenden ist.

Na ja, er hat sie nicht benutzt.

Rachid, der etwas beunruhigt ist, weil er das einzige Lokal in der Umgebung hat und eigentlich jeder einfach reinspazieren und alle abknallen kann, weiß auch schon Bescheid: Die Polizei sei dann gekommen und habe den Mann neutralisiert.

Da gibt’s einige so Verrückte, die da draußen rumlaufen, meint seine Mutter.

Das war die Waffe, die ich in der Armee hatte, sagt Jesus stolz. Ein Maschinengewehr.

Kurz danach geht es um die Rente.

Den Armen was nehmen, um’s den Reichen zu geben, das ist Macrons Devise, sagt Jesus. Ist ganz einfach, schau mal, vorher, da hab ich 850 Euro bekommen, jetzt krieg ich 790.

Ach, aber das ist doch nur, um dem armen Macron ein bisschen unter die Arme zu greifen, sagt Thierry.

Rachids Mutter zieht über den Präsidenten und seine Frau her: Der hat so eine Alte geheiratet, über siebzig, dabei ist er selbst noch keine fünfzig. Was will der mit so einer Alten!

Und warum sollten immer nur alte Männer junge Frauen heiraten und nie umgekehrt?, frage ich.

Nein, nein, der hat ein Doppelleben, dieser Macron.

Da ist er nicht der Einzige.

Nein, nein, aber der hat ein Doppelleben nicht mit einer Frau, sondern mit einem Mann!

Ist mir doch egal!

Wenn das so ist, gibt es in ein paar Jahren keine kleinen Franzosen mehr.

Umso besser, oder hätten Sie es gerne, wenn hier demnächst lauter kleine Macrons rumliefen?

Nee, nee, da ist der François Hollande dran schuld, der hat die Heirat für alle eingeführt. Ich bin keine Rassistin, ich mag keine Rassisten, aber heute, da sind fünfzig Prozent Lesben oder Schwule.

Also, das hat der so eingerichtet, der die Natur gemacht hat, sagt Jesus, aber Rachids Mutter lässt sich nicht stoppen:

In zwanzig Jahren gibt’s keine kleinen Franzosen mehr, hast du gesehen: die schließen fünfhundert Geburtskliniken, da ist es vorbei mit den kleinen Franzosen. Aaah, so was gibt’s bei den Muslimen nicht, da gibt’s keine Lesben und keine Schwulen.

Die kleine Versammlung wechselt ein paar skeptische Blicke.

Aber das hat der so eingerichtet, der die Natur gemacht hat, wiederholt Jesus.

Rachid, der schon die ganze Zeit immer wieder das Gesicht verzieht, sagt leise, zu uns gewandt: Nicht zuhören, nicht zuhören.

Gott, fährt seine Mutter fort, der hat Männer und Frauen gemacht.

Wir ham sogar einen Oberst in der spanischen Armee gehabt, der …, sagt Jesus. Und dann die zwei, die bei mir Zeitungen kaufen …

Lass mich mal reden!, ruft sie. In den Sechzigerjahren, da hat das alles angefangen. Vorher haben sie sich versteckt. Jetzt verstecken sie sich gar nicht mehr!

Ich war früher gläubig, sagt Jesus eher zusammenhangslos. Ich hab eine Tante gehabt, eine Schwester meiner Mutter, die hatte Krebs. Ich bin in eine Kirche gerannt, hab Kerzen angezündet und Geld gespendet. Gestorben ist sie trotzdem. Da hab ich mir gesagt, jetzt reicht’s. Stop.

Bei den Muslimen gibt’s das nicht, fährt Rachids Mutter unbeirrt fort. Nur sollen sie mal ihren Frauen ein bisschen Luft lassen!

Jesus: Hast du gesehen, im Iran? Warum ham die demonstriert? Die Religion, die sagt nicht, zieh dir dies an, zieh dir das an, die sagt: Mach, was du willst!

Als ich nach Frankreich kam, da war ich frei, sagt Rachids Mutter. Hier hat man mir nichts getan, hier nicht!

Wieder würde ich gerne wissen, was man denn in Algerien der jungen Frau, die sie war, angetan hat, und wieder traue ich mich nicht zu fragen.

Die sperren ihre Frauen ein und rennen dann den Frauen der anderen hinterher, sagt sie.

Das erinnert Thierry an einen Bekannten aus Constantine, der zwei Ehefrauen hat: Im oberen Stockwerk wohne die erste Frau, im unteren die zweite. Die beiden Wohnungen seien haargenau gleich eingerichtet. Alle Möbel gleich, alle Wasserhähne gleich, alles. Er schlafe eine Nacht oben, eine Nacht unten.

Das mag ich nicht leiden, diese Art von Leben, nein, nein, nein!, ruft Rachids Mutter.

Die Kabylen haben nicht mehrere Frauen, oder?, frage ich.

Doch, doch, die haben Geliebte.

Aaah, das ist was anderes, sagt Thierry, das ist das »zweite Büro« und das »dritte Büro«. Bei meinem Bekannten sind das die offiziellen Frauen. Davon darf man vier haben. Norrrrmal.

Aber zum Beispiel in Saudi-Arabien, da dürfen die Frauen jetzt Auto fahren, sagt Rachids Mutter. Und in die Ferien.

In die Ferien!, rufe ich. Und da beschweren sie sich noch?

Schöne Frauen gibt es dort. Mit Kleidern ganz aus Gold. Aber Ärzte gibt’s in Algerien immerhin genug. 517 Ärzte!, verkündet Rachids Mutter stolz, worauf Rachid uns halblaut erklärt, dass sie El Watan aus dem Flugzeug mitgebracht habe und dass darin nichts als Propaganda der Regierung stehe, eine Schande sei das. (Wobei sich 517 Ärzte für fünfundvierzig Millionen Einwohner nicht gerade nach Propaganda anhört.)

Aber warum die kein Schweinefleisch essen, versteh ich nicht, sagt sie. Früher gab es in Tunesien welches, ich hab mal ein Schweine-Méchoui dort gegessen. Nicht diese großen Schweine, sondern so kleine.

Das ist harrrram, sagt Thierry.

Aber das Geld, das ist nicht harrrram, oder was?, fragt sie schlagfertig.

Aaaaah, das ist was anderes, lacht Thierry.

Und das zweite und das dritte Büro, das ist auch nicht harrrram, sage ich.

Das ist norrrrmal.

Er lacht.

Als wir gehen, schwirrt mir der Kopf. Ich frage mich, ob es das noch öfter gibt: einen Ort, an dem Menschen algerischer Herkunft und Franzosen, die im Algerienkrieg waren (einer jedenfalls), zusammen an der Theke stehen und trinken und über alles reden, so gut sie können? Von dem Spanier und dem Serben und den anderen ganz zu schweigen. Später werden wir sogar noch eine alte jüdische Frau dort kennenlernen.

Und der Marokkaner, hast du gehört?, frage ich. Krieg sei Krieg, hat der gemeint, und die Franzosen hätten auch Tote gehabt. Der schien Frankreich die Kolonisierung nicht sonderlich übel zu nehmen.

Tja, die Marokkaner, die sind halt etwas… Da gibt’s schon Hierarchien … Ganz oben steht der Algerier, sagt er wieder halb oder ganz im Spaß, es ist unmöglich auszumachen, ob er wirklich denkt, was er sagt, oder ob es nur Ulk ist.

Klar!, sage ich. Ganz oben steht der Algerier. Und warum haltet ihr euch für was Besseres?

Na, ganz einfach: Wir haben gekämpft. Wir haben die Franzosen weggejagt.

Wir?, sage ich.

Wir! Das macht schon gewaltig was aus. Verstehst du?

Ihr hattet halt keine andere Wahl, anders als eure Nachbarn, bei denen ging es auch friedlicher.

Von wegen! Das Kämpferische liegt uns im Herzen! Im Blut!

Im Blut, so. Und die Marokkaner?

Die stehen über den Tunesiern.

Und warum das?

Die sind ein bisschen intelligenter. (An dieser Stelle müssen wir beide lachen.)

So. Ein bisschen, ja? Aber gerade hast du mir gesagt, was den Algerier auszeichne, sei sein Mut, seine Courage. Also nicht so sehr seine Intelligenz.

Doch. Beides. Wer hat die Franzosen denn vor die Tür gesetzt? Aaaah! Die anderen haben ihnen doch die Füße geleckt.

Das fällt aber mehr unter Mut, unter militärische Bravour.

Beides. Es kommt drauf an, Aït Ahmed zum Beispiel war unglaublich intelligent.

Okay. Aber dann …

Ja, dann, die Tunesier, die sind halt ein bisschen fügsam und servil, die Tunesier.

Und die Marokkaner?

Auch ein bisschen, aber die sind außerdem ein bisschen blöd, die Marokkaner.

Aha, ein bisschen blöd sind die. (Wir lachen wieder beide; ich weiß immer noch nicht, ob ich seine Hierarchisierung ernst nehmen soll oder nicht.)

Und die Libyer erst, nehme ich an …

Die Libyer, das sind die Schlimmsten, das sind Wilde. Die leben in Stämmen. Das sind die Schlimmsten.

Das sind die Schlimmsten. So, so.

Aber ja, da sind alle einverstanden! Die Algerier, die Marokkaner, die Tunesier finden allesamt, dass die Libyer …

Okay, aber ich nehme nicht an, dass die Tunesier einverstanden sind, auf dem dritten Platz zu rangieren.

Aber die haben doch die ganze Zeit den Franzosen die Füße geleckt! Die wissen das übrigens ganz gut selbst.

Was? Dass sie ein bisschen blöd sind?

Ein bisschen, ja.

Na, wenn sie das wissen, dann sind sie doch gar nicht so blöd.

Aber die sehen doch, dass sie …

Sich für die Stärksten zu halten, ist nicht gerade ein Zeichen von Intelligenz.

Aber wenn es nun einmal eindeutig ist … Es geht gar nicht drum, wofür wir uns halten.

Genau wie bei den Deutschen! Die denken auch immer, sie wären die Tollsten.

Während wir noch so reden und – hoffentlich – spaßen, kommen wir dem Parc de La Courneuve immer näher. Thierry bekommt einen wichtigen Anruf, und ich möchte mich derweil auf die Bank an einer Bushaltestelle setzen, bleibe dann aber davor stehen und lese das kleine Plakat, das dort befestigt ist:

Wir suchen unseren Vater, der sein Zuhause in der

Promenade de la Basilique heute um 18 Uhr verlassen

hat, um sich zu seinem Sohn drei Häuser weiter zu

begeben. Er ist dort nie angekommen.

DRINGEND

Darunter ein Foto eines weißhaarigen, dunkelhäutigen, vielleicht vom indischen Subkontinent stammenden Mannes mit hoher Stirn, Bürstenschnitt und tiefer Kerbe zwischen den mich eindringlich anblickenden Augen.

Wenn Sie diesen Herrn auf der Straße sehen, steht da weiter, er spricht nicht Französisch, bitte umgehend folgende Nummer anrufen (es folgen drei Nummern). Er trägt einen schwarzen Mantel und eine Jeans.

Je länger ich das Gesicht des alten Mannes betrachte, umso mehr wird für mich nicht nur die Verzweiflung seiner Familie, sondern auch seine eigene Not spürbar. Der Mann muss noch andere Probleme als mangelnde Sprachkenntnisse haben, sonst hätte er leicht wieder nach Hause zurück oder zu seinem Sohn gefunden. Je länger ich ihn anschaue, umso deutlicher habe ich das Gefühl, dass er seinen Blick nicht auf die Kamera und natürlich noch weniger auf mich gerichtet hat, sondern auf Geschehenes, auf Ereignisse einer Vergangenheit, die ihm vor Augen stehen, wo immer er auch hinschaut. Etwas für immer Verschlossenes liegt in seinem Blick. »Er ist dort nie angekommen« – nicht in der Wohnung seines Sohnes, nicht in dem Land, in dem er zuletzt lebte und dessen Sprache er nicht konnte. Wo mag er umherirren? Wo sind sie alle, die aufgebrochen und nie angekommen sind? Entre deux ailleurs, zwischen zwei Woanders, sagte Thierry.

Es ist mittlerweile Frühling, und der erste warme Tag ist gleich heiß. Thierry schimpft (lachend), weil ich nicht durch die beschatteten Wege des Parc de La Courneuve, sondern an der Schnellstraße entlanggehen will, wo es noch nicht einmal einen Gehweg gibt, sondern nur von haltenden Lastwagen festgefahrene Erde, in der sich tiefe Pfützen auftun. Aus der Schnellstraße werden drei nebeneinander verlaufende Straßen mit insgesamt fünf Spuren. Wahrzeichenhaft mahnend taucht rechts neben Wohnblöcken wieder das ausgehöhlte Hochhaus des Carrefour des Six Routes auf. Als wir ein Stück weiter die Rue Émile Zola hochgehen, die über die A86 hinwegführt, fallen mir die kunstvollen schmiedeeisernen Gitter an den Fenstern eines ansonsten wie eine banale kleine Fabrik oder Manufaktur wirkenden Gebäudes mit Sägezahndach auf. Aus der Nähe sehe ich, dass die Gitter indische Gottheiten darstellen; ich erkenne den bald tanzenden, bald liegenden Ganesha an seinem Elefantenkopf. Aus der kleinen Fabrik an der Autobahnbrücke ist ein Hindu-Tempel geworden. (Im Netz kann ich in das Innere des Tempels vordringen: ein mit Deckenspots beleuchteter Saal, in dem verschiedene kleine Altäre mit Gaben und Girlanden aufgebaut sind; Frauen sitzen im Schneidersitz auf dem Boden. Ein Foto zeigt eine Prozession vor dem Gebäude, bei der die Altäre von wohlbeleibten Männern mit nackten Oberkörpern und orangem Wickelrock auf Sänften getragen werden.) Beinahe wäre ich an dem Gebäude vorbeigegangen, zumal in der Rue Émile Zola noch weitere alte Backsteingebäude mit Sägezahndächern stehen. Wie hätte ich ahnen können, dass sich in dieser unbewohnten Vorstadtgegend kurz vor der Autobahn eine farbenreiche Welt mit elefantenköpfigen Göttern, üppigen Blumengirlanden und seidenen Saris verbirgt? Auch jetzt, obwohl ich doch davorstehe, kann ich es kaum glauben.

Ein paar Schritte weiter, dort, wo die Autobahnbrücke ansetzt, ist ein Robinienstamm um das Metallrohr der Brüstung gewachsen, als wollte der Baum die Brüstung auffressen. Erste zarte Blätter sprießen aus dem Maul.

Jenseits der Brücke, von dem kleinen Hindu-Tempel nur durch die Autobahn getrennt, stehen auf dem Gelände des ehemaligen Industriekessel-Herstellers Babcock und Wilcox die neuen Gebäude der Banque de France, was man allerdings nur weiß, wenn man sich vorher kundig gemacht hat oder unmittelbar vor dem Eingang steht. (Eingang? Darf hier irgendwer rein, bis auf das Personal? Offenbar ja, es gibt sogar Besichtigungszeiten.) Wie viel Geld hinter den doppelten Betonwänden dieses Hochsicherheitssafes durchschnittlich lagert, ist nicht herauszubekommen, mehr als irgendwo sonst in Europa soll es sein, über eine Milliarde Scheine zwischen fünf und fünfhundert Euro, das ergibt eine sehr variable und unvorstellbar hohe Summe. Hier in La Courneuve, lese ich zugleich, lebten im Jahr 2020 43,4 Prozent der Menschen unter der sogenannten Armutsgrenze, die bei 1026 Euro monatlich liegt. Die Überschuldeten des Départements sollen sich an die Banque de France wenden – nicht, damit diese gleich in ihre Reserven greift und ihre Schulden begleicht, sondern zur Beratung.

Ein Teil des Industriegeländes, auf dem die Bank steht, ist noch eine große Baustelle, auf der Baumaterial abgetragen wird; davor die üblichen Schilder mit Fotos der künftigen Wohnhäuser, die hier, wohl um einen Industrie-Touch beizubehalten, bis auf halbe Höhe Backsteinfassaden haben sollen. Auf den Bildern stehen vor dem Haus und auf den Balkonen junge, schicke Leute jeglicher Herkunft; manche halten ein Glas Rotwein in der Hand und plaudern fröhlich miteinander. Am Ende der Rue des usines Babock weist ein orange fluoreszierendes Schild nach links. Jemand hat groß »Chaos« daraufgeschrieben.