1 Jahr später, Kiel, Polizeizentrum

 

Mikkel Tvorsen warf einen flüchtigen Blick in den Spiegel und verzog den Mund. Nachdem er sich zwei Jahre lang mit dunkelbraun gefärbten Haaren in der Berliner Drogenszene bewegt hatte, war das helle Blond immer noch ungewohnt. Er betrachtete seine Hände. Einigermaßen sauber. So gut es ging, hatte er die Ölreste entfernt. Natürlich musste sich sein Cabrio ausgerechnet vor einem wichtigen Termin dazu entschließen, ein Schweigegelübde abzulegen, was dann auch hieß, dass der Anlasser keinen Ton von sich gab. Zum Glück hatte er den Fehler recht schnell gefunden, es aber trotzdem bereits auf eine stattliche Verspätung von dreißig Minuten gebracht, da nach der Fehlersuche auch noch die Reparatur angesagt gewesen war.

Er trocknete sich die Hände ab und verließ den Waschraum. Es würde ihm kaum Pluspunkte bringen, wenn er jetzt den Flur entlangsprintete, daher ging er lediglich etwas schneller.

Thea Wölke, die Sekretärin des Polizeichefs, sah ihm lächelnd entgegen. »Pünktlichkeit haben sie dir in Berlin schon mal nicht beigebracht.«

Innerlich atmete Mikkel auf. Er hatte mit einem deutlicheren Anschiss gerechnet. Vielleicht machte es sich nun bezahlt, dass er Thea – und auch ihren Chef – seit Jahren gut kannte. Seitdem er ein kleiner Junge gewesen war, um genau zu sein. »Eigentlich schon, aber du weißt ja, wie die Frauen sind. Hedwig hat heute mal wieder ihre Launen ausgelebt.«

Ihre blauen Augen funkelten vergnügt, als sie sich eine blonde Haarsträhne hinters Ohr klemmte. »Mensch, sag bloß, die alte Kiste fährt noch?«

Die Bezeichnung für sein geliebtes Saab Cabrio tat ihm weh. Er presste sich eine Hand auf die Herzgegend. »Aua. Sie ist ein wertvoller und sehr sensibler Oldtimer.«

»Wertvoll bezweifele ich und sensibel ist vermutlich ein anderes Wort für unzuverlässig.«

»Ich wollte dich eigentlich gerade fragen, ob du immer jünger wirst, und dir sagen, dass du toll aussiehst, aber das überlege ich mir noch mal.«

Nun stand Thea auf, kam um ihren Schreibtisch herum und umarmte ihn. »Willkommen zu Hause, Mikkel. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie froh wir sind, dass du den Ausflug heil überstanden hast.«

Mikkel drückte sie fest an sich. »Ist Carl sehr sauer, dass ich zu spät komme?«

»Nö, nur dass du gleich weiter willst. Er hätte sich so sehr gewünscht, dass du hier in Kiel bleibst.«

»Nee, lass mal. Kiel ist zwar gefühlt ein Dorf, aber mir im Moment noch zu viel Stadt.«

»Na dann.« Sie wich etwas zurück und musterte ihn prüfend. »Ich würde dir die Komplimente ja gerne zurückgeben, aber du bist zu hager und die Falten um deine Augen gefallen mir auch nicht. Vielleicht ist deine Idee doch nicht so dumm, wie Carl denkt.«

Damit hatte sie ihm dann überaus subtil verraten, was ihn erwartete.

Ein Lächeln zeigte sich in ihren Mundwinkeln. »Wenn ihr euch nicht die Köpfe einschlagt, lade ich euch heute Abend zu meinen berühmten Kohlrouladen ein. Aber dann bist du bitte pünktlich!«

Mikkel versprach dies hoch und heilig. Da er lediglich zwei Kilometer innerhalb des Kieler Vorortes Kronshagen zurücklegen musste, war er zuversichtlich, dies auch halten zu können – selbst wenn Hedwig wieder herumzickte.

 

Carl empfing ihn mit einem Kopfschütteln, das Mikkel nicht deuten konnte. Dann stand der Mann, der irgendwo zwischen Ersatzvater und gutem Onkel angesiedelt war, auf, kam hinter seinem wuchtigen Schreibtisch hervor und schlug ihm zur Begrüßung kräftig auf die Schulter. »Pünktlichkeit ist eine Tugend!«

»Ich weiß und es tut mir leid. Hedwig …«

»Dass du das Ding immer noch hegst und pflegst …«

Mikkel sah an Carl vorbei aus dem Fenster. »Ich bin froh, dass es noch einige wenige Fixpunkte in meinem Leben gibt. Hedwig gehört dazu, und natürlich du und Thea. Vielen Dank, dass du dir die Zeit für mich nimmst und auch dafür, dass du mich wegen der Wartezeit leben lässt.«

»Reiner Eigennutz, denn ohne dich bekomme ich keine Kohlrouladen. Wenn Thea mich einlädt, bekocht sie mich neuerdings äußerst gesund. Ein Albtraum.«

Mikkel verzichtete auf einen Kommentar, denn Carl hatte im Bauchbereich deutlich zugelegt und er ahnte, dass dies der Grund für Theas Menügestaltung war.

»So, dann setz dich mal und erklär mir, was du an der Nordsee willst.«

Damit war der private Teil wohl vorbei. Mikkel nahm auf dem Stuhl Platz, der immer noch fürchterlich unbequem war. »Ich möchte einfach klassische Polizeiarbeit machen.« Er zögerte kurz. »Und etwas zur Ruhe kommen, mich wiederfinden. Der Deal lautete, dass ich mir nach erfolgreichem Abschluss des Auftrages die Dienststelle aussuchen kann. Büsum ist es.«

Carl sah ihn durchdringend an. »Das MEK baut Teams auf, die Zugriff und Ermittlung kombinieren. Wäre das nicht was?«

»Nein.« Mikkel erwiderte den forschenden Blick ruhig und gelassen.

»Gut. Also Büsum.« Er nahm eine dünne Akte in die Hand. »Du weißt, wie klein der Laden ist?«

»Ja, aber das macht mir nichts aus. Ich fahre auch Streife und helfe verirrten Touristen.«

»Tja, mein Lieber. Da hast du das Kleingedruckte nicht genau genug gelesen. Du kommst nach Büsum, aber als Leiter der dortigen Dienststelle. Und mit deiner Qualifikation kannst du davon ausgehen, dass die Kripo in Heide heilfroh sein wird, dir Fälle zu überlassen, die eigentlich in ihre Zuständigkeit fallen würden.«

Einen Moment lang hatte Mikkel das Gefühl, der Boden schwankte unter ihm. »Aber …«

»Kein Aber! Kennst du nicht den Spruch: Sei vorsichtig, was du dir wünschst, es könnte in Erfüllung gehen, aber anders, als du wolltest.«

»Ich bestelle bei Thea für heute Abend ein vegetarisches Menü!«, fiel ihm nur ein.

»Da sie die Dinger heute Morgen schon vorbereitet hat, kommt dein Wunsch zu spät.« Die Selbstgefälligkeit war ihm förmlich ins Gesicht geschrieben. Carl schob ihm einen Ordner zu. »Und das hier solltest du dir mal ansehen und im Hinterkopf behalten. Das sind zwei ungeklärte Mordfälle, beide Tatausführungen sind sehr ähnlich. Es gab jedoch nichts, außer einer äußerst vagen Spur, die nach Büsum führt. Dabei handelt es sich lediglich um ein zur Tatzeit am Tatort eingeloggtes Prepaid-Handy, das man niemanden zuordnen konnte und das einmal in Büsum geortet wurde, ehe es für immer verstummte. Viel Spaß, Mikkel.«

Mit einem geknurrten Fluch nahm Mikkel die Akte. Das nannte sich dann wohl sauber ausmanövriert. Doch andererseits – was sollte ihn in Büsum schon groß erwarten?