Kapitel 2           

Büsum, eine Woche später

 

Halb sieben Uhr morgens und der Tag konnte weg. Rieke Brandt starrte auf die Mail. So wenige Sätze in diesem verdammten Behördendeutsch zerstörten mal eben ihre Pläne, ach was, ihre komplette Zukunft. Sie war absolut sicher gewesen, dass ihr die Revierleitung übertragen werden würde. Die Fakten sprachen für sich: Sie hatte den Laden die letzten Monate seit Konrads Pensionierung geschmissen und sich keinen einzigen Fehler erlaubt – jedenfalls keinen, der irgendwo offiziell festgehalten worden war. Was wollten die hohen Herren in Kiel denn noch?

»Moin Rieke, willst du wieder das schöne Wetter ausnutzen und früh Feierabend machen?«, wurde sie unerwartet angesprochen. Sie hatte nicht einmal gemerkt, dass Sönke den Wachraum betreten hatte. Durch seine Worte fühlte sie sich unangenehm durchschaut, denn sie hatte tatsächlich vorgehabt, pünktlich nach acht Stunden Feierabend zu machen und den Rest des Tages zu genießen.

Sie knurrte etwas Unverständliches. »Irgendwelche Vorkommnisse heute Nacht?«

»Liegt alles auf deinem Schreibtisch. Was ist denn dir für eine Laus über die Leber gelaufen?«

»Wir bekommen einen neuen Chef.«

Nun hatte sie seine ungeteilte Aufmerksamkeit. Er trat an ihren Schreibtisch und hockte sich auf die Kante. »So’n Schiet. Ich dachte, das würdest du werden.«

»Falsch gedacht«, schnappte sie.

»Und wieso?«

»Woher soll ich das wissen?«

»Hey, ich habe die Entscheidung nicht getroffen, also mach mich nicht an. Ich hole mir mal einen Kaffee und du fragst bei Konrad nach. Wenn einer weiß, was da läuft, dann er. Und wach wird er sowieso schon sein.«

Er war weg, ehe sie reagieren konnte. Tief durchatmend sah sie dem Mittfünfziger nach. Sönke Mellwig war ein gemütlicher Typ, solange ihm niemand quer kam. Dann konnte er trotz seines beachtlichen Gewichts sehr schnell und sehr böse reagieren. Von seinen blonden Haaren war nur noch ein schmaler grauer Kranz übrig, der die Glatze einrahmte. Er gehörte ebenso zum Inventar der kleinen Polizeistation wie die uralten Büromöbel, die niemals ausgetauscht worden waren. Doch sein Tipp war gut. Konrad, der ehemalige Revierleiter, verfügte über beste Verbindungen nach Kiel.

Ihr Handy klingelte und zeigte die Nummer von Konrad an. Das war dann bestimmt kein Zufall. »Wenn du mich vorwarnen wolltest, kommst du zu spät. Ich habe es gerade gelesen und prompt Sönke angefahren, der ja nun echt nichts dafür kann. Was soll das denn?«

Sie hörte zunächst nur einen typischen Atemzug, der ihr verriet, dass Konrad sich bereits seine Morgenzigarette gönnte. In stressigen Zeiten hatte er gequalmt ohne Ende, doch ansonsten hielt er strikt sein Ritual ein: eine morgens, eine mittags und eine vorm Schlafengehen.

»Tja, mich hat’s auch überrascht. Bisher weiß ich nur, dass das von ganz oben aus Kiel kommt. Dieser Mikkel Tvorsen hat da jemanden, der ihm offensichtlich jeden Wunsch erfüllt. Interessant ist, dass er schon Kriminalhauptkommissar ist, obwohl er dafür eigentlich zu jung ist. Dazu passt, dass Heide euch wohl zukünftig so’n büschen Kripokram abtreten soll. Tut mir leid, Rieke. Ich rate dir, erst einmal abzuwarten. Am Ende hält er es hier vielleicht gar nicht aus. Und du kennst ja meinen Lieblingsspruch.«

Rieke verdrehte die Augen. Jetzt würde sie sich wieder »dat löpt sich allens torecht« anhören müssen. Und da kam der Satz auch schon. Rieke überflog die Mail noch einmal und blieb nun an dem letzten Satz hängen. Wenn das nicht der ideale Empfang für den neuen Kollegen war. Da bat die Sekretärin von ihrem obersten Chef sie doch ernsthaft, sich um eine Übernachtungsmöglichkeit zu kümmern. Es war Hochsaison! Da konnte der Typ froh sein, wenn er einen dieser neuen Schlafstrandkörbe bekam. Oder ein abgewracktes Zimmer weit, weit von Büsum entfernt, vorzugsweise auf einem vergammelten Bauernhof. Sie hätte da zwar eine Unterkunft für ihn, dachte aber nicht im Traum daran, ihm die zur Verfügung zu stellen.

Rieke verabschiedete sich von Konrad, versprach, sich später noch mal zu melden, und antwortete dann auf die Mail mit dem knappen Satz, dass ihr leider keine passende Übernachtungsmöglichkeit einfiel.

Sönke kehrte mit einem Becher Kaffee zurück. »Das sollte deiner sein, aber du musst los. Da soll ’nen Toter in einem der Schlafstrandkörbe liegen. Jedenfalls, wenn ich das hysterische Gesabbel richtig verstanden habe.«

Einen Moment gestattete sie sich den verführerischen Gedanken, dass es sich dabei um ihren zukünftigen Chef handelte – sofern denn dort wirklich eine Leiche lag. Vermutlich war’s nur ein Penner, der zu viel getrunken hatte. Seufzend stand sie auf. »Wer ist denn schon vor Ort?«

»Tobi ist auf dem Weg dorthin.«

»Gut, ich fahre los. Wenn’s was Ernstes ist, kommst du nach, sobald Heiko eingetroffen ist.«

Verdutzt sah Sönke sie an. »Wäre das denn nicht was für die Kripo aus Heide?«

Rieke dachte an das Gespräch mit Konrad. »Willkommen in den neuen Zeiten«, sagte sie ohne weitere Erklärung, stand auf und eilte zu ihrem Dienstwagen.

Wann hatte sie eigentlich zum letzten Mal das mobile Blaulicht aufs Dach geklemmt? Sie konnte sich nicht daran erinnern, doch nun war es so weit.

 

Die Fahrtzeit zu ihrem Ziel betrug theoretisch nur wenige Minuten, doch das letzte Stück hatte es in sich, da sie über den Deich und für die Allgemeinheit gesperrte Wege fahren musste. Sie entdeckte Tobis Streifenwagen auf dem regulären Parkplatz und zögerte kurz. Doch als sie Tobi Helmers und eine Passantin bei den Strandkörben stehen sah, entschied sie sich dafür, direkt bis zum möglichen Fundort zu fahren. Irgendetwas an der Körperhaltung ihres uniformierten Kollegen alarmierte sie. Einige frühe Spaziergänger waren an der Familienlagune schon unterwegs, die meisten mit einem Hund im Schlepptau. Rieke würde nie verstehen, was die Touristen an der künstlichen Bucht fanden. Das Ding hatte mit der echten Nordsee so viel zu tun wie ihre bequemen Sneakers mit einem Paar Pumps von Jimmy Choo.

Einige Meter von ihrem Ziel entfernt stoppte sie und stieg aus. Tobi eilte ihr entgegen. Ihr junger Kollege war sichtlich aufgeregt.

»Das ist vielleicht ein Schiet. Ruf mal in Heide an.«

»Später. Was ist denn eigentlich los?«

Von Tobis normalerweise sonnengebräunter Gesichtsfarbe war nur noch ein käsiger Rest übriggeblieben. Seine kurzen dunkelblonden Haare, die er sonst stets sorgfältig mit Geld in Form brachte, waren zerzaust. Er stellte sich gerader hin. »Mann, etwa Mitte zwanzig bis Mitte dreißig, sieht nach Fremdverschulden aus. Durchgeschnittene Kehle, wenn du mich fragst. Und eine ordentliche Sauerei. So viel ist mal sicher.«

Das klang nicht gut. »Dann hol mal das Absperrband aus dem Kofferraum. Was ist mit der Frau?«

»Die hat ihn gefunden und ist ordentlich durch den Wind.«

»Braucht sie einen Arzt?«

»Ich glaube nicht. Kann ich an deinen Kofferraum ran? Ich möchte nicht bis zu meinem laufen.«

»Klar. Was ist mit den anderen Strandkörben?«

»Die pennen wohl noch alle.«

Rieke atmete tief durch. »Na dann. Legen wir mal los. Ich verschaffe mir rasch einen Überblick und alarmiere dann die Spusi und Mediziner aus Heide.«

Tobi blinzelte irritiert. »Hast du nicht noch die Kripo vergessen?«

»Nee. Soweit ich weiß, übernehmen wir neuerdings deren Aufgaben mit, wenn’s unsere Region betrifft.«

»Aha, seit wann denn?«

»Seit heute Morgen.«

Sie ließ ihn einfach stehen und ging zu dem Strandkorb, der für Übernachtungen an Gäste vermietet wurde. Das Ding erinnerte sie an eine überdimensionierte Pilotenkanzel, doch die Teile erfreuten sich bei Touristen ziemlicher Beliebtheit. Das war dann etwas, das sie ebenfalls nicht verstand. Direkt am Meer zu schlafen, war bestimmt eine schöne Sache, aber auf diesem Grünstreifen mit Blick auf die künstliche Lagune? Wieder einmal ermahnte sie sich, dass die auswärtigen Besucher Geld in die Stadtkasse spülten. Als ihr bewusst wurde, dass sie den unvermeidlichen Anblick nur hinauszögerte, atmete sie tief durch. Böser Fehler, den metallischen Geruch nach Blut erkannte sie sofort. Bisher war sie lediglich auf Unfallopfer getroffen, das würde dann jetzt eine neue Erfahrung werden.

Sie nickte der Frau zu, die sich ein paar Meter entfernt im Schneidersitz niedergelassen hatte, und spähte um den Strandkorb herum. Der Anblick war noch schlimmer als erwartet. Überall Blut, dazu eine verzerrte Miene, die sie bestimmt nie vergessen würde. Dennoch begann ihr Polizistengehirn schon zu arbeiten und registrierte ein paar Details. Der Täter musste sehr nah an sein Opfer herangekommen sein und in Anbetracht des tiefen Schnittes eine extrem scharfe Waffe verwendet haben. Abwehrverletzungen sah sie keine, das hieß dann wohl, dass der Mann seinen Mörder gekannt und oder für harmlos gehalten hatte. Vielleicht war er auch im Schlaf überrascht worden. Die Waffe war nirgends zu sehen. Sie blickte zu der Lagune und seufzte. Sollte der Täter das Messer dort versenkt haben, würden sie es wohl nie finden.