Kapitel 3           

Rieke war es gewohnt, dass sich die Kollegen aus Heide viel Zeit ließen, aber dieses Mal wurde sie überrascht. Schon nach dreißig Minuten waren in weiße Overalls gekleidete Spurensicherer am Werk. Auch die forensischen Mediziner hatten die erste Untersuchung bereits abgeschlossen und bereiteten die Leiche zum Abtransport vor.

Tobi hatte mit den Touristen gesprochen, die durch den Trubel recht unsanft in ihren Schlafstrandkörben geweckt worden waren, aber bisher nichts erfahren. Rieke wartete darauf, dass die Verwalterin eintraf, die für die Vermietung und den gesamten organisatorischen Kram rund um diese Übernachtungsstätte zuständig war. Sie verzog den Mund, als ihr bewusst wurde, dass sie schon wie ein Protokoll dachte. Hoffentlich hatten sie wenigstens den Namen des Opfers, wenn die Dame eingetroffen war.

In diesem Moment rief einer der Spurensicherer ihren Namen. Sie wollte schon zu ihm eilen, als das typische Geräusch eines kaputten Auspuffes sie davon abhielt. Das durfte doch nicht wahr sein! Ein Tourist kämpfte sich mit einem uralten Saab durch die ganzen Dienstfahrzeuge und umkurvte einfach Tobi, der ihn aufhalten wollte. Erst wenige Meter vor ihr hielt er an und stieg aus. Rieke überlegte bereits, gegen welche Paragrafen der Straßenverkehrsordnung der Fahrer verstoßen hatte, und addierte die Beträge auf. Da kam eine ordentliche Summe zusammen.

»Sekunde noch«, rief sie dem Beamten zu, der etwas entdeckt hatte.

Der Fahrer des Saab sah zwar ganz nett aus, wobei das eigentlich untertrieben war, denn er war durchaus attraktiv. Braungebrannt, hellblonde Haare, dazu eine gewisse Härte, die durch seine kantigen Gesichtszüge und die blauen Augen betont wurde.

»Was genau haben Sie denn an den Absperrungen nicht verstanden?«, fuhr Rieke ihn an.

»Moin, ich bin Mikkel. Du musst Rieke sein. Ich hätte mir den Einstieg zwar anders vorgestellt, aber nun ja, den formellen Mist erledigen wir eben später. Sag mir bitte nur, dass wir keinen jungen, gut aussehenden Mann mit durchgeschnittener Kehle als Opfer haben.«

Rieke öffnete den Mund, brachte aber keinen vernünftigen Satz hervor. Ihr erster Gedanke war, dass sie den Täter vor sich hatte, denn ihr Gegenüber verfügte eindeutig über Kenntnisse, die er ohne Besichtigung des Tatorts nicht haben konnte, dann verknüpfte sie den Namen »Mikkel« mit der Mail, die ihr den Morgen versaut hatte.

»Hauptkommissar Tvorsen?«, brachte sie schließlich hervor und ihr gelang es immerhin, den Namen wie eine Frage zu formulieren.

»Richtig. Seid ihr hier so formell unterwegs?«

»Nee, eigentlich nicht. Ich war nur überrascht — und kurz davor, dir Handschellen zu verpassen, da du anscheinend Täterwissen hast.«

Ein amüsiertes Lächeln zeigte sich, verflog jedoch sofort. »So ein verdammter Mist. Ich erkläre dir später, wieso ich das vermutet habe. Lass uns erst mal sehen, was wir hier haben. Die Akten und Fotos sind ja nett, aber ich möchte selbst ein Gefühl für die Umstände bekommen.«

»Dann komm mit. Die Spusi scheint gerade was gefunden zu haben.« Auf den paar Metern erzählte sie ihm das Wenige, das sie bisher wussten.

Nils, der Beamte der Spurensicherung, hielt ihnen einen der typischen, durchsichtigen Beweismittelbeutel entgegen, in dem sich eine abgegriffene Brieftasche befand. »Geld ist noch drin, zweihundertfünfzig Euro, den Ausweis habe ich fotografiert und dir schon zugeschickt. Foto und Gesicht des Opfers stimmen überein, das müsste Eric Teelsen gewesen sein. Damit habt ihr wenigstens den Namen. Das Teil lag zwischen den Matratzenteilen eingeklemmt, darum will ich es mir im Labor noch genauer ansehen. Das hier habe ich auch noch gefunden. Da sind einige Prints drauf, darum gebe ich euch …« Er verstummte mitten im Satz und sah Mikkel an. »Sorry, wer bist du denn eigentlich?«

Wieder zeigte sich kurz das Lächeln, das aus einem gut aussehenden einen sehr attraktiven Mann machte. »Mikkel Tvorsen, neuer Revierleiter in Büsum, eigentlich erst in drei Tagen, aber anscheinend nun schon etwas früher im Dienst.«

Dass er darauf verzichtete, seinen Dienstgrad zu nennen, gefiel Rieke, dabei war sie weiterhin entschlossen, ihn nicht zu mögen.

»Ach, das ist ja ein Ding. Und ein netter Einstieg. Ich bin Nils und auf meinen Job kommst du bestimmt selbst.«

Mikkel brummte eine Zustimmung und hockte sich neben der Leiche hin, die gerade in den Sarg gehoben werden sollte. Ohne Aufforderung warteten die beiden Männer in den dunklen Anzügen. »Keine Abwehrverletzungen, nur ein gezielter Schnitt. Genau wie …« Er richtete sich wieder auf. »Hat jemand was gehört?«

Rieke schüttelte den Kopf. »Tobi hat die Namen der anderen Gäste aufgenommen und genau das bereits vorab gefragt. Bisher Fehlanzeige.«

»Merkwürdig. Aber okay. Ihr könnt ihn mitnehmen. Danke fürs Warten.« Mikkel sah wieder Nils an. »Du meintest, du hättest noch was?«

»Ja, stimmt. Das hier.« Er hob eine kleine Tüte auf, die Rieke nicht bemerkt hatte. Sie erkannte die Plastikkarte mit dem Emblem sofort. »Die gehört zum Hotel am Hafen. Können wir die haben?«

»Nee. Sagte ich doch schon. Da sind auf der Oberfläche ein paar Fingerabdrücke.«

Sie wollte protestieren, doch Mikkel kam ihr zuvor. »Kein Ding. Schick mir die Daten des Opfers bitte auch. Damit müsste ich im Hotel weiterkommen.« Er reichte Nils eine Visitenkarte mit seinen Kontaktdaten.

Rieke erstarrte innerlich. »Ich?«, wiederholte sie scharf und merkte selbst, dass der Tonfall in Anbetracht des Ortes und der anwesenden Kollegen nicht angebracht war.

Mikkel runzelte die Stirn. »Wir. Du kannst mich gerne begleiten. Im Moment bin ich für jede ortskundige Hilfe dankbar.«

Das klang einsichtig und in die Schranken weisend zugleich. Das konnte ja lustig werden.

Ihr neuer Vorgesetzter sah sich langsam um und wandte sich dann wieder an Nils. »Wenn ich es richtig einschätze, stehen wir euch hier nur im Weg rum.« Er wartete ein Nicken ab. »Wann kann ich mit ersten Ergebnissen rechnen?«

»Leider wird das meiste mindestens vierundzwanzig Stunden dauern. Mir ist schon klar, dass der Fall oberste Priorität hat, aber viele Analysen brauchen eine gewisse Zeit. Und ich habe auch verstanden, dass wir in erster Linie an dich berichten.«

»Richtig. Ich weiß noch nicht genau, wie das Team letztlich aussehen wird, aber ich kann dir schon verraten, dass das hier eine riesige Schweinerei ist.«

Rieke hätte damit gerechnet, dass Nils nachfragte, stattdessen rieb er sich fahrig über die Stirn. »Das ist mir schon klar, denn ich war vor einiger Zeit in Lübeck eingesetzt und mich erinnert dies so sehr an Fehmarn, dass ich schon an ein Déjà-vu oder Copy-and-paste dachte. Ich bin dann mal heilfroh, dass du auch Bescheid weißt, und du kannst ganz sicher sein, dass ich alles mit Hochdruck auswerte und mir nicht der noch so kleinste Fitzel entgehen wird.«

Mikkel berührte den Kollegen kurz an der Schulter, wandte sich dann ab und ging zu seinem Wagen.

Einen Moment lang wusste Rieke nicht, was sie tun sollte, dann lief sie ihm hinterher.

»Fehmarn? Du kanntest den anderen Fall?«

Unwillig runzelte Mikkel die Stirn. »Geht’s noch lauter? Möchtest du vielleicht noch im Lokalblatt inserieren, dass wir es mit einer Serie zu tun haben? Dann erfahren nicht nur sämtliche Touristen, sondern auch der Täter, was wir bereits wissen.«

Er hatte zwar leise, aber nicht minder deutlich gesprochen. Zu ihrem Entsetzen spürte Rieke, dass sie rot anlief. Er gab ihr keine Gelegenheit zu einer Entschuldigung.

»Ich rede kurz mit den Kollegen in Uniform. Wir treffen uns danach im Revier.«

Wütend sah sie ihm nach, dabei galt ihr Ärger in erster Linie ihr selbst. Doch im Moment war sie nicht bereit, das einzusehen. Rasch überprüfte sie, ob sich Zivilisten in der Nähe befunden hatten, die ihre unvorsichtige Frage mitangehört hatten. Nein. Fehlanzeige. Also hatte es auch keinen Grund für den Anschiss gegeben!