Mikkel stellte Hedwig auf dem Parkplatz ab, der laut dem Schild für Dienstfahrzeuge vorgesehen war. Irgendwie passte das ja schließlich. Er umfasste das Lenkrad kurz fester, ehe er ausstieg. Er wollte mit den Ermittlungen loslegen und sich nicht um nervigen organisatorischen Mist kümmern, von dem er jetzt schon ahnte, dass der ihm jede Menge Ärger einbringen würde. Der erste Eindruck von seinen zukünftigen Mitarbeitern war reichlich durchwachsen. Dazu kam noch seine ungeklärte Wohnsituation. Der Weg von Kiel nach Büsum war mit gut neunzig Minuten Fahrtzeit zu weit, um ihn jeden Tag zweimal zu fahren. Seufzend stieg er aus und betrat heute zum zweiten Mal das Gebäude. Bei seinem ersten Besuch war er sofort wieder gefahren, nachdem er von dem vermutlichen Tötungsdelikt gehört hatte. Es hatte nur für eine kurze Vorstellung gereicht, daher nickte er nun Heiko erneut grüßend zu. Der schlaksige Mittvierziger musterte ihn ausgesprochen neugierig aus braunen Augen, die perfekt zu seinen Haaren in der gleichen Farbe passten.
Rieke entdeckte er in einem der beiden Zimmer, die von dem großen Wachraum abgingen. Sie starrte auf den Monitor und tat, als ob sie ihn nicht bemerkt hatte. Das konnte ja noch lustig werden. Mikkel kannte die letzten Statistiken des Reviers und wusste genau, mit welcher Art Verbrechen sie sich beschäftigt – oder eher nicht beschäftigt hatte. Weiterleitung und Einstellung waren die Schlagwörter, die ihm zu ihrer Arbeitsweise einfielen.
Ein Streifenwagen stoppte neben Hedwig und wenig später betraten Sönke und Tobi das Revier.
Beide musterten Mikkel abwartend, dann blickte Tobi aus dem Fenster, wo es absolut nichts zu sehen gab.
Sönke kratzte sich am Kinn. »Wir sind mit der Aufnahme der Personalien und den ersten Aussagen durch und haben die Absperrung den Kollegen aus Heide überlassen«, erklärte er. Seine Mundwinkel bogen sich leicht nach oben. »Um ehrlich zu sein, wollten wir erst mal unseren neuen Chef kennenlernen und erfahren, was es damit auf sich hat, dass wir nun Aufgaben aus Heide übernehmen sollen.«
»Das verstehe ich«, erwiderte Mikkel und unterdrückte ein Gähnen. »Gibt’s hier Kaffee? Dann setzen wir uns kurz zusammen.«
Heiko nickte. »Pflanzt euch schon mal hin. Ich hole Becher.«
Rieke machte immer noch keine Anstalten, aufzustehen. Mikkels Ärger wuchs. »Ich helfe dir.«
Das Angebot brachte ihm schon mal ein anerkennendes Nicken von Heiko ein. Wenig später hatten sie sich Plätze im Wachraum gesucht, der letztlich nichts anderes als ein Großraumbüro mit vier Schreibtischen und einem Tresen war. Selbst Rieke lehnte sich neben Heiko gegen die Schreibtischkante.
Mikkel hob grüßend seinen Becher und entschied sich, die Angelegenheit kurz und schmerzlos hinter sich zu bringen.
»Also dann. Meinen Namen kennt ihr ja mittlerweile. Mikkel Tvorsen. Mein Vater war Däne und ich stamme aus Norddeutschland, war aber eine ganze Zeit woanders im Einsatz. Ich halte nicht viel von überflüssigen Formalitäten, daher geht das unter Kollegen übliche ›Du‹ für mich in Ordnung. Und wo wir gerade beim Thema ›Formalitäten‹ sind: Ich halte auch nichts davon, dass wir unsere Ausbildung dafür nutzen, Zettel in Ordnern abzuheften oder meinetwegen Dateien im PC zu speichern und Straftaten zu verwalten. Falls ihr das als Vorwurf auffasst, so hakt es einfach ab, denn die Vergangenheit kann man nicht mehr ändern.« Mikkel wartete auf eine Reaktion, doch es kam keine. »In Kiel ist man der Meinung, dass ein Kriminalhauptkommissar fürs Abheften zu hoch bezahlt ist, und wenn ihr ehrlich seid, ist bestimmt keiner von euch deswegen Polizist geworden. Deshalb die Idee, dass wir Fälle, für die bisher die Kripo in Heide zuständig war, selbst übernehmen. Dabei geht’s nicht nur darum, dass die Kollegen dort total überlastet sind, sondern ihr habt gegenüber der Kripo in Heide einen Vorteil, den wir nutzen können: Ihr kennt den Ort und die Leute. Es hätte zwar nicht gleich mit ’ner Leiche anfangen müssen, aber das ist nun mal so.«
»Was ist das für ein anderer Mord, den du erwähnt hast?«, fragte Rieke.
Mikkel sah durchs Fenster, dass eine ältere Frau auf das Revier zusteuerte. »Das werde ich euch natürlich erklären, aber bestimmt nicht hier, wo jeden Moment jemand reinplatzen kann und Dinge mitbekommt, die nicht für ihn bestimmt sind. Habt ihr einen Besprechungsraum?«
Rieke und Heiko lieferten sich ein Blickduell, schließlich gab die Polizistin es verloren. »Nein. Den haben wir zum Büro umfunktioniert. Damit nicht nur Konrad eins hat.«
Mikkel sah zu den beiden Räumen hinüber, deren Türen offen standen. Rieke hatte seit dem Weggang des ehemaligen Revierleiters offenbar das größere Zimmer genutzt. Nun, dann wäre sie von seinen nächsten Anweisungen vermutlich begeistert. »Was ist mit einem Aufenthaltsraum? Wo esst ihr in Ruhe oder lehnt euch mal zurück?«
Sönke deutete auf eine geschlossene Tür. »Dafür nutzen wir Männer die Umkleide und Rieke hat ja ihr Büro.«
»Wie gemütlich«, entfuhr es Mikkel und erntete immerhin von den Polizisten ein leises Lachen. »Dann regeln wir das als Erstes: Rieke zieht zurück an einen der Schreibtische hier draußen. Ich nehme das kleine Büro und aus dem größeren Raum machen wir einen Ort, an dem wir uns zusammensetzen können oder ihr auch mal eine vernünftige Pause einlegen könnt.«
Wenn Blicke töten könnten, hätten die Kollegen nun einen zweiten Mordfall zu untersuchen, wobei er das Opfer und Rieke die Täterin gewesen wäre. Die Polizistin wandte sich abrupt ab und ging in ihr ehemaliges Büro.
Die ältere Dame hatte nun den Tresen erreicht und wurde von Heiko freundlich begrüßt.
Mikkel wandte sich an Sönke. »Ist hier mittags viel los?«
»Nö, wir könnten da eigentlich ganz gut dichtmachen.«
»Wunderbar. Dann machen wir genau das nachher von zwölf bis eins und ich bringe euch auf den neuesten Stand. Mögt ihr ein paar Fischbrötchen zum Einstand?«
»Die gehen immer. Aber dann gebe ich dir mal ’ne Adresse, wo du keinen Fraß für Touris, sondern was Ordentliches bekommst.«
Das war doch mal ein Anfang. Mikkel bedankte sich lächelnd und bezog das kleine Büro, indem er sein Handy neben der Tastatur platzierte. Zehn Minuten später hatte er mit Thea telefoniert, die ihm helfen würde, in Rekordzeit an das entsprechende Mobiliar für den Besprechungsraum zu gelangen. Immerhin funktionierte sein Zugang zur IT der Polizei bereits und er konnte sich auch die digitale Akte des Mordfalls ansehen, die allerdings noch gähnend leer war. Er wollte gerade die ersten Einträge machen, als sein Handy einen Anruf von Carl anzeigte.
»Du bist also schon im Dienst«, begrüßte er ihn.
»Da war Thea ja fleißig.«
»Stimmt. Ich habe zwei Namen für dich.«
»Ach? Etwa von Tatverdächtigen?«
»Sehr witzig. Wenn du deine Mitarbeiter schon kennengelernt hast, wirst du wissen, dass du alleine nicht weiterkommst. Einen Mord, oder in diesem Fall eine ganze Serie, klärt man im Team auf, nicht als Einzelgänger. Ich schicke dir gleich zwei Kontakte zu. Der erste, Tjark Johanson, überlegt, eine Ferienwohnung anzubieten. Fahr mal vorbei, ob das was für dich wäre und ob er dich aufnehmen würde. Eigentlich war er nur meine erste Wahl als externer Berater für dich, aber da du noch keine Bleibe hast, schlagen wir da vielleicht zwei Fliegen mit einer Klappe.«
»Was?«
»Ich bin noch nicht fertig! Dann ist da noch Annika Johanson, seine Schwägerin. Die ist meine zweite Wahl als externe Beraterin. Sieh zu, dass du dir beide angelst. Das Budget dafür hast du, nutze es.«
Mikkel atmete tief durch. »Du meinst das mit den Externen ernst.«
»Ja. Und mach dir mal eins klar: Normalerweise müsste ich eine ganze SoKo an die Fälle setzen, doch mein Bauchgefühl sagt mir, dass die nichts erreichen würde. Ihr könnt den Mörder nur überführen, wenn ihr anders vorgeht. Sonst hätten die Kollegen auf Fehmarn oder Sylt schon längst Erfolg gehabt.«
»Das muss ich erst mal sacken lassen.«
»Tu das und dann tust du das, was ich gesagt habe. Dafür kommt in einer Stunde ein ganzer Trupp und richtet euren Besprechungsraum ein. Ich hoffe, du weißt das zu schätzen.«
Die Verbindung wurde getrennt.
Ratlos starrte Mikkel auf das Handy. Dann entschied er sich dafür, mit dem Naheliegendsten anzufangen, und ging ins Nachbarbüro zu Rieke. »Kannst du bitte das Büro freimachen?«
»Meinst du das ernst? So ein Beschaffungsprozess dauert doch Wochen! Ich dachte, ich hätte …«
»Tja, falsch gedacht. Hast du Zugriff auf die Akte und die sonstigen Datenbanken aus Heide?«
»Nein, wieso sollte ich?«
»Hast du es denn überprüft?«
»Ähm, nein.«
»Dann tu das bitte, sobald du umgezogen bist. Bitte beeil dich, ich möchte zum Hotel.« Er ignorierte, dass Rieke offenbar etwas einwenden wollte, und drehte sich zu den anderen Polizisten um, die aufmerksam zugehört hatten. »Das gilt für euch alle. Wir arbeiten grundsätzlich gemeinsam an den Fällen. Überprüft, ob ihr Zugriff auf die Akte habt. Eigentlich sollten eure Profile entsprechend angepasst worden sein.«