Kapitel 5           

Rieke verbarg so gut wie möglich, dass sie kurz vorm Platzen war. Zu Fuß wären sie keine zehn Minuten unterwegs gewesen, aber nein, der Herr hatte ja mit seinem Wagen fahren wollen. Wobei das altersschwache Teil eher den Ausdruck Schrottkiste gerechtfertigt hätte. Allerdings war das immer noch besser, als wenn er ihr auch noch den Dienstwagen wegnehmen würde! Die Fahrtzeit betrug vielleicht ein paar Minuten weniger, allerdings würde die Ersparnis von der Parkplatzsuche wieder aufgefressen werden. Außerdem hatte ihr kurzes Gespräch gezeigt, dass sie beide die gleichen Abfragen in den Datenbanken durchgeführt hatten. Sah so etwa eine Zusammenarbeit aus?

Wenig später musste sie zugeben, dass sie sich doppelt geirrt hatte. Mikkel hielt direkt vor dem Eingang und zeigte einem Angestellten lediglich seinen Polizeiausweis. Als sie die Klappbox auf der Rückbank bemerkte, dachte sie zum ersten Mal daran, dass sie vielleicht Dinge sicherstellen würden, die man besser im Wagen transportierte. Ihre Stimmung hob sich dadurch jedoch nicht. Das hätte ihr vorher einfallen sollen!

Rieke hätte sofort zugegeben, dass ihr die Inneneinrichtung des Hotels gefiel. Sie hätte sie als rustikal mit einem maritimen Touch bezeichnet. Die Wände waren entweder in verschiedenen Rottönen geklinkert oder mit Holz verkleidet. Alles wirkte offen und freundlich. Sie hielt Mikkel zurück, als er auf die Rezeption zusteuerte. »Ich kenne die Hotelangestellte am Empfang. Marlene ist eine frühere Freundin. Vielleicht sollte ich sie fragen.«

»Sicher.«

»Und, ähm … was ist eigentlich mit den Angehörigen?«

»Eine Streifenbesatzung aus Kiel informiert die Eltern, die wohnen dort. Je nach dem, was die Kollegen sagen, kann es erforderlich sein, dass ich … Ich meine, dass wir oder jemand von uns auch noch mit ihnen redet.«

»Von uns? Denkst du an unsere Kollegen in Uniform?«

Mikkel wich ihrem Blick eindeutig aus. »Nein, es ist noch nichts spruchreif, aber vielleicht bekommen wir noch personelle Verstärkung.«

»Aus Heide? Und wo sollen die dann sitzen?«

»Ist alles noch nicht spruchreif«, wiederholte er. »Eins nach dem anderen. Dann frag mal deine Marlene nach unserem Opfer.«

Wenn es nach ihr ging, konnte er in der Zwischenzeit draußen am Hafen spazieren gehen, aber den Gefallen tat er ihr natürlich nicht. Immerhin hielt er ein wenig Abstand zu ihr.

Marlene Rahlsen sah ihr lächelnd entgegen. Das dunkelblaue Kostüm mit der weißen Bluse wurde durch ein buntes Halstuch aufgelockert, dennoch war Rieke froh, dass ihr solche Kleidung in ihrem Job erspart blieb. »Moin Marlene. Hast du ein paar Minuten?«

»Moin Rieke. Eigentlich …« Marlenes Blick huschte zu Mikkel.

»Keine Angst, das ist kein Gast, der gehört zu mir.«

»Na gut, dann leg los.«

»Es könnte etwas dauern. Hast du jemanden, der dich ein paar Minuten vertreten kann? Ich würde lieber in einer ruhigen Ecke ungestört mit dir reden.«

Marlene seufzte und fummelte an ihrem langen blonden Zopf herum, der ihr bis auf die Schulter reichte. »Mein Chef wird nicht begeistert sein.«

Allmählich reichte es Rieke. »Du, Marlene, ich bin nicht zum Spaß, sondern offiziell hier. Wenn es deinem Chef lieber ist, lasse ich zwei Streifenwagen vorfahren und wir führen bei euren Gästen Befragungen durch uniformierte Kollegen durch. Es ist deine Entscheidung, wie wir vorgehen.«

Marlene riss ihre blauen Augen weit auf. »Was ist denn passiert? Ich dachte … Sekunde. Nehmt da hinten schon mal Platz. Möchtet ihr einen Kaffee oder ein Wasser?«

Rieke und Mikkel lehnten ab und gingen zu den Cocktailsesseln, auf die Marlene gedeutet hatte.

»Die Drohung war nicht schlecht«, lobte Mikkel sie.

»Schöner Mist, dass die notwendig war. So kenne ich Marlene eigentlich gar nicht.«

Als Marlene zu ihnen kam, war Rieke nicht sicher, ob das Lächeln ihrer alten Schulfreundin entschuldigend oder professionell war. Sie setzte sich und sah dann Mikkel an. »Wir kennen uns noch gar nicht. Marlene Rahlsen. Ich bin die Empfangschefin im Hotel, also für alles rund um die Ankunft der Gäste zuständig und auch ansonsten so eine Art Troubleshooter.«

»Mikkel Tvorsen, Polizei Büsum«, erwiderte Riekes neuer Chef lediglich und zeigte kurz seinen Ausweis vor.

Rieke rief auf ihrem Smartphone das Bild des Opfers auf, das sie aus den Daten des Einwohnermeldeamtes hatte. »Kennst du diesen Mann? Ist der bei euch Gast?«

Marlene nahm das Handy und sah nur flüchtig aufs Display. »Na klar, das ist Eric.« Sie legte das Smartphone auf den Tisch und rollte mit den Augen. »Jetzt sagt nicht, dass eine der älteren Damen ihn angezeigt hat! Also dazu kann ich euch leider überhaupt nichts sagen.«

»Was meinst du mit ›älteren Damen‹?«

»Na, die Tussis, mit denen er sich … Ich meine, die er begleitet hat. Ich fand das zwar etwas anrüchig, aber letztlich eine Win-win-Situation und es geht mich ja auch nichts an. Ich habe keine Ahnung, wie und was genau Eric und die Damen vereinbart haben. Da muss ich passen. Fragt ihn am besten selbst.«

»Wenn ich dich richtig verstehe, begleitet er gerade einen Gast aus eurem Hotel. Wir brauchen ihren Namen und ihre Zimmernummer.«

Abwehrend hob Marlene beide Hände. »Vergiss es, Rieke. So etwas kann ich euch nicht einfach sagen, außerdem hätte ich das eben schon gar nicht erwähnen sollen. Mensch, ich kann doch unsere Gäste nicht in die Pfanne hauen!«

Und warum hatte sie das dann getan? Rieke verkniff sich die sarkastische Nachfrage. »Doch, kannst du, es geht hier um eine Mordermittlung. Wen hat er begleitet?«

Marlene starrte sie einen Moment stumm an, öffnete den Mund und schloss ihn wieder, ohne etwas gesagt zu haben. Sie war kreidebleich geworden. »Ist er tot? Und wieso kümmerst du dich darum? Das ist ja schon ein bisschen mehr als so’n Fahrraddiebstahl und müsste doch von Heide aus bearbeitet werden.«

Nun war es Rieke, die einen Moment völlig verdattert schwieg. Mit so einer Frage hatte sie nicht gerechnet.

»Sie kennen also Eric Teelsen«, übernahm Mikkel das Gespräch. »Woher? Und was können Sie uns über ihn sagen, außer dass er sich von älteren Damen aushalten ließ.«

Marlenes Blick irrte umher, als ob sie jemanden suchen würde. »Ich … Also, er gehört zu einer Clique von Surfern, mit denen ich auch ab und an abhänge. Eric ist einfach …« Sie zuckte mit der Schulter. »Eric eben. Total witzig, lieb, tut niemandem etwas. Ich kann mir nicht vorstellen, dass den jemand nicht mag. Er arbeitet im Sommer hier und versucht im Winter möglichst lange im Süden zu sein. Er ist toll auf dem Brett und immer gut drauf. Man muss ihn einfach gernhaben.«

Rieke übernahm nach einem fragenden Blick Richtung Mikkel wieder und verbarg ihren Ärger über die abfälligen Worte in ihre Richtung. »Wo hat er gewohnt?«

»Er hat in der Stadt ein kleines Zimmer gehabt, aber da hat er eigentlich nur seine Sachen abgestellt und gepennt. Er war sonst in seinem Bus am Strand oder hier im Hotel.«

»Wo steht der Bus und wie lautet die genaue Adresse?«

Marlene rieb sich über die Nase. »Keine Ahnung, es ist das Haus, wo unten der Fahrradverleih drin ist. Und der Bus … Irgendwo am Strand.«

»Letzte Frage. Allerdings nur für heute. Welchen Gast hat er zuletzt begleitet?«

»Katharina von Wotersen. Sie ist vermutlich beim Langschläferfrühstück. Ihr erkennt sie sofort, kleidet sich wie zwanzig, ist aber sechzig. Mindestens.« Marlene stand auf. »War’s das? Ich müsste mal an die frische Luft. Eric ist … Ich meine war …«

»Gehen Sie nur«, stimmte Mikkel zu.

Rieke wartete, bis sie außer Hörweite war. »Also die Reaktion war irgendwie komisch.«

Mikkel nickte knapp. »Merk dir, was dir aufgefallen ist. Notiere es dir sonst kurz, ehe wir weitermachen. Am Ende ist das vielleicht ein wichtiges Puzzleteil. Arbeitet sie eigentlich schon lange hier im Hotel?«

»Ja, ewig. Das heißt, seit der Eröffnung vor einem Jahr ganz sicher. Du denkst an Fehmarn? Das ist jetzt nicht dein Ernst!«

Mikkel blinzelte überrascht. »Nee. Daran habe ich nicht gedacht. Da bist du gerade drei bis vier Schritte weiter als ich.«

War das nun ein Lob oder eine Kritik? Rieke ging lieber nicht auf den Kommentar ein. »Ich meine, sie war vorher in Sankt Peter Ording in einem Hotel. Ich weiß noch, dass sie die Ostsee nicht mag, da bin ich ganz sicher. Ich kann mich mal umhören, wo genau sie gearbeitet hat.«

»Mach das mal. Weißt du, wo hier das Restaurant ist?«

»Klar. Folge mir unauffällig.«

Nun galt sein Lächeln erstmals ihr und das gefiel ihr.