Mikkel hielt direkt auf dem Fußweg vor dem Haus, in dem sich Erics Wohnung befand. Er hatte nicht vor, seine Zeit mit der Suche nach einem Parkplatz zu verschwenden, und stieg aus. Die Bäckerei, die genau gegenüber von ihrem Ziel lag, brachte ihn dazu, seinen Plan noch einmal zu ändern. Er steuerte die andere Straßenseite an.
»Eric wohnte hier«, rief Rieke ihm nach und wies auf die Tür.
Mikkel verzichtete auf eine Antwort. Sie würde schon noch selbst darauf kommen, was er vorhatte. Bisher wusste er nicht, was er von seiner neuen Partnerin halten sollte. Teilweise wirkte sie unerfahren, dann wieder recht routiniert. Fakt war, dass sie auf seinen Posten scharf gewesen war. Das war in Summe ein denkbar ungünstiger Start und er fühlte sich nicht wohl dabei, sie in einer gefährlichen Situation an seiner Seite zu haben. Ganz im Gegenteil, sie wäre eher eine zusätzliche Belastung. Andererseits war Büsum nicht Kabul oder Berlin und die Wahrscheinlichkeit eher gering, dass es richtig brenzlig wurde.
Mikkel betrat den Laden, nickte der Verkäuferin freundlich zu und hielt ihr seinen Ausweis hin. »Ich nehme auch ganz bestimmt noch etwas von diesem herrlichen Kuchen mit, doch zunächst muss ich Ihnen offiziell ein paar Fragen stellen.«
Die grauhaarige Frau in den Sechzigern lächelte ihn an. »Na, denn man to, junger Mann«, forderte sie ihn auf Plattdeutsch auf.
Mittlerweile war Rieke ihm gefolgt. »Kennen Sie Eric Teelsen, der dort drüben wohnt?«, begann er.
»Aber sicher. Er bevorzugt Schokoladencroissants und Sonnenblumenbrötchen. Hat er was ausgefressen?«
»Nein.«
Mikkel musste sich keine ausweichende Erklärung überlegen. Die Verkäuferin schlug sich die Hand vor den Mund. »Oh nein, sagen Sie nicht, dass Eric der Tote aus der Lagune ist! Er ist so ein höflicher, freundlicher Mensch, immer gut gelaunt, immer ein Lächeln auf den Lippen. Das darf doch nicht wahr sein! Wir sehen immer den Tatort, also mein Mann und ich. Daher möchten Sie nun bestimmt wissen, was mir aufgefallen ist und wann ich ihn zuletzt gesehen habe.«
Schock und Aufregung schienen sich die Waage zu halten.
»Ganz genau.«
»Das war gestern Abend, als ich den Laden um kurz nach sechs abgeschlossen habe. Vielleicht war es auch schon halb sieben. Da verließ er das Haus und hatte sich ganz schön schnieke gemacht. Die Haare gegelt und sogar ein Hemd statt der bunten T-Shirts angehabt. Ich habe ihn noch aufgezogen, ob er eine neue Flamme hat. Und er meinte so etwas wie ›Was lange währt, wird endlich gut‹. Er hatte sich so gefreut.«
»Haben Sie eine Idee, wer die Frau war?«, mischte sich Rieke ein und kam ihm damit zuvor.
»Leider nicht. Ich habe mich noch etwas gewundert, denn eigentlich rannten ihm die Mädels die Bude ein und er hatte es nicht nötig, sich ins Zeug zu legen. So jedenfalls mein Eindruck. Ich habe ihn öfters am Strand gesehen, wenn ich mit meinem Hund und meinem Mann dort spazieren gegangen bin. Er hatte eigentlich immer ein gut aussehendes Mädel am Arm. Manchmal längere Zeit die gleiche, dann wieder eine andere.«
»Wo gehen Sie denn immer spazieren?«, hakte Mikkel nach.
»Na, drüben bei den Surfern.«
Rieke sah ihn rasch an. »Ich weiß, wo das ist. Wir können da nachher hinfahren.«
»Gut. Und ist Ihnen sonst noch etwas aufgefallen?«
Einen Moment schwieg die Verkäuferin, dann kam sie hinter dem Tresen hervor und trat an die Scheibe. »Im Sommer fange ich immer früh an, so gegen sechs Uhr. Als ich hier vorne gefegt habe, kam drüben eine Dame raus. Die habe ich vorher noch nie gesehen und sie fiel mir auf, weil sie sehr elegant gekleidet war und eine große Sonnenbrille trug, obwohl es noch bewölkt war. Dazu hatte sie noch so ein Ding auf dem Kopf, was die Jüngeren tragen. Das passte so gar nicht zu ihrer hellen Hose und dem weißen Top, die schon eher zu ihrem Alter passten, das ich so grob auf Mitte fünfzig bis sechzig schätzen würde. Und lange Haare hatte sie, so eine richtige Mähne, die wurde nun ja durch das Ding richtig plattgedrückt.«
»Ein Baseball-Cap?«, fragte Rieke.
»Ja, ganz genau. Das war dunkel. Ich würde sagen schwarz oder dunkelblau.«
Die Beschreibung könnte auf Frau von Wotersen passen. Hatte Mikkel sich dermaßen in ihr getäuscht?
»Wie groß war die Frau? Und wie würden Sie ihre Figur bezeichnen?«, übernahm Rieke erneut die Fragen.
»Nun, nicht so groß, aber auch nicht richtig klein. Aber sie schleppte schon ordentlich was mit sich herum. Politisch korrekt würde man wohl ›füllig‹ sagen.«
Gedanklich strich Mikkel Erics Begleiterin wieder. Die Beschreibung passte nicht.
»Ach ja, und einen Rucksack hatte sie auch dabei. Der passte nun wiederum zu ihrem Cappy, aber nicht zum Rest.«
Rieke hatte die Augen verengt. »Könnte es sein, dass die nicht passenden Sachen, also Cap und Rucksack, Eric gehört haben?«
Mit offenem Mund sah die Verkäuferin sie an. »Jetzt, wo Sie es sagen …«
Mikkel legte einen Zwanzig-Euro-Schein auf den Tresen. »Bitte stellen Sie mir ein nettes Paket zusammen. Wir kommen gleich wieder und holen es ab.«
Er wartete keine Zustimmung ab, sondern sprintete mit Rieke zusammen aus dem Laden. Sie hatten Glück, die Tür des Mehrfamilienhauses war nur eingeschnappt, sodass Mikkel sie aufdrücken konnte.
»Dritter Stock, Dachgeschoss«, rief Rieke ihm zu, die sich kurz die Klingelschilder angesehen hatte. Mikkel jagte die Treppe hoch, obwohl er wusste, dass es eigentlich keinen Grund zur Eile gab. Die Frau war schon längst weg. Doch wer war sie und was hatte sie gewollt? Der Beschreibung nach konnte sie kaum diejenige sein, mit der Eric sich verabredet hatte. Es sei denn, er hätte sich gleichzeitig zwei älteren Frauen als bezahlter Begleiter angedient. Doch hätte er sich dann so auf das Date gefreut?
Die Tür zu Erics Wohnung war nur angelehnt. Nach Luft schnappend erreichte mit reichlicher Verspätung nun auch Rieke ihr Ziel.
»Spurensicherung?«, brachte sie zwischen keuchenden Atemzügen hervor.
»Ja, aber ich sehe mich drinnen einmal um.«
»Wir!«, forderte sie sofort.
Mikkel nickte. Wenn sie den möglichen Tatort schon kontaminierten, dann eben richtig. Das kleine Apartment war überraschend ordentlich und sauber. Auf den ersten Blick gab es keine Auffälligkeiten. Auf einer Holzkiste, die als Kommode diente, lagen einige Geldscheine.
Fragend sah Rieke ihn an. »Das sind siebzig Euro, die hätte ein normaler Einbrecher mitgenommen. Glaubst du, die Frau war hier drin?«
»Ja. Und ich schätze, sie hat etwas mitgenommen, das in den Rucksack passte.« Mikkels Blick fiel auf ein Kabel neben dem Sofa. »Da vorne. Sieh mal. Ich wette, auf dem Tisch stand ein Notebook. Oder er hat dort gelegen und das Ding genutzt.«
Rieke hockte sich hin. »Ha, das ist ein Ladegerät von Apple. Ich mag die nicht, aber damit haben wir vielleicht noch eine Chance, seine Daten einzusehen, wenn wir Zugriff auf seine Cloud bekommen.«
»Tja, wenn.«
Rieke sah zu ihm hoch. »Sein Handy fehlte am Tatort. Wetten, dass das ein iPhone war?«
»Da halte ich nicht gegen. Also haben wir den Täter und vermutlich eine unbekannte Frau, die beide was dagegen haben, dass wir uns Erics elektronische Geräte genauer ansehen.«
»Ob die Frau die Mörderin ist? Nach deiner Logik wäre sie dann eine Serienkillerin.«
An diesem Punkt war er auch schon angelangt und wusste nicht weiter. »Ich kann mir irgendwie nicht vorstellen, dass Eric mit der Frau die Nacht in dem Strandkorb verbracht hat.«
Rieke kratzte sich am Kopf. »Stimmt. Leider. Es hilft nichts, wir müssen uns durchfragen, das heißt mit sämtlichen Gästen in den Strandkörben und allen Bekannten von Eric reden. Und das werden wir zu zweit nicht schaffen. Wir wären Wochen unterwegs.«
Mikkel dachte an Carls Mail und sein ungelöstes Übernachtungsproblem. »Halt mal hier die Stellung und weise die Spusi ein. Sie sollen nach DNA und Fingerabdrücken suchen, aber ich möchte, dass du genau hinsiehst, ob dir noch etwas anderes auffällt.«
»Und was machst du?«
»Ich hole den Kuchen ab und kümmere mich um ein paar organisatorische Dinge.« Er sah auf die Uhr. »In zwei Stunden treffen wir uns im Revier und ziehen uns zur Mittagszeit kurz ins Besprechungszimmer zurück. Dann machen wir eine Bestandsaufnahme und überlegen uns das weitere Vorgehen.«
»Wir haben doch noch gar kein Besprechungszimmer.«
»Dann schon.«
Ihre ratlose Miene gefiel ihm.