Da es aussah, als ob die Sonne sich gegen die Wolken durchgesetzt hatte, öffnete Mikkel das Verdeck von Hedwig. Obwohl er schon etliche Male an der Hydraulik herumgebastelt hatte, die aus einer Kombination von uralter Elektrik, Ölleitungen und einer komplizierten Kinematik bestand, war es immer wieder spannend, ob sich sein geliebtes Cabrio offen fahren ließ oder er sich nach einem bedrohlichen Brummen darauf beschränken musste, die Fenster herunterzulassen. Heute hatte Hedwig ein Einsehen mit ihm.
Das Navi führte ihn zunächst Richtung St. Peter Ording. Mikkel genoss den Fahrtwind und für einen Moment fühlte es sich fast wie Ferien an. Der Mord, der Job – alles wurde von der warmen Luft förmlich weggeblasen. Die Landschaft war gradlinig, hart an der Grenze zur Eintönigkeit. Links der Deich, eine grüne Erhebung mit einzelnen weißen Punkten, rechts und geradeaus flaches Land so weit man blicken konnte. Ab und an ein paar windschiefe Bäume am Feldrand, das war’s dann auch. Landwirtschaft und Tourismus. Das waren die beiden Einnahmequellen in dieser im Prinzip recht öden Gegend.
Fast hätte er die Abbiegung Richtung Klein Wöhrde übersehen. In einem abenteuerlichen Fahrmanöver bekam er gerade noch die Kurve und musste prompt scharf bremsen, weil ein Trecker vor ihm auf die Straße rollte. Dass der Fahrer von seinem unerwarteten Richtungswechsel überrascht worden war, konnte er ihm nicht verdenken.
»Sorry«, brüllte er ihm über den Motorenlärm hinweg zu.
Zum Überholen war die Straße zu eng, doch er hatte Zeit und ließ Hedwig einfach langsam hinter dem Trecker herrollen. Er kam an einem kleinen Hafen vorbei, in dem ein roter Krabbenkutter lag, und an einer Pension, an der ein Schild im Vorgarten jedoch »besetzt« verkündete. Der Trecker bog ab, doch Mikkel behielt das langsame Tempo bei. Ein Hund, fast so groß wie ein Pony, trottete die Straße entlang. Der kleine Ort, nicht viel mehr als eine Ansammlung einiger Häuser, schien wie aus einer anderen Welt zu sein. Zwei Frauen saßen vor einem kleinen Kiosk auf einer Bank und sahen ihm neugierig nach. Keine fünfzehn Minuten von Büsum entfernt, war es hier ruhig und idyllisch, keine Spur von dem Touristentrubel. Sein Navi führte ihn zu einem Weidegatter.
Ratlos stieg er aus. Vor ihm gab es nur noch Schafe, den Deich und ein Haus, das direkt an der Erhebung lag. Ob das sein Ziel war? Er überprüfte die Ortsangabe und ging die letzten Meter zu Fuß.
Das Namensschild neben der Klingel beruhigte ihn. »Johanson«. Hier war er richtig. Er drückte auf den messingfarbenen Knopf, doch nichts geschah. Kein Geräusch war zu hören. Verdammt. Carl hatte doch geschrieben »Fahr einfach vorbei«. Eine Handynummer, um ein Treffen abzustimmen, wäre sinnvoller gewesen.
Das Geräusch einer Säge ertönte hinter dem Haus. Mikkel ging ums Gebäude herum und stieß auf eine Terrasse, die mit unzähligen Blumenkübeln in ein buntes Farbenmeer verwandelt worden war. Ein Mann mit kurzen hellblonden Haaren hantierte mit einem armdicken Balken und einer Kreissäge herum. Mikkel wartete, bis das schrille Kreischen verstummte.
»Moin«, rief er dann.
Der Mann nickte ihm zu, musterte ihn aus grauen Augen prüfend und wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Holz zu.
»Soll ich das festhalten?«, fragte Mikkel, ehe die Säge wieder angeworfen wurde.
Der Handwerker sah ihn prüfend an und brummte.
Das hieß dann wohl ja. Erst als vier gleich große Klötze auf dem Boden lagen, schaltete der Mann die Maschine endgültig aus.
»Bist du wegen des Zimmers hier?«
»Ja. Mikkel.«
»Tjark. Dann komm mit.«
Übermäßig viele Worte waren hier offenbar nicht gefordert. Mikkel folgte ihm durch die Terrassentür ins Innere und blieb überrascht stehen. Der Raum war renoviert und einfach grandios eingerichtet. Maritime Weiß- und Blautöne dominierten. Alles war gemütlich, ohne überladen zu wirken. Die Dekoartikel stammten nicht aus einem Touristenshop, sondern waren authentisch. Ein alter Rettungsring mit verblasster Aufschrift »Alte Liebe«. Eine alte Sturmlampe. Treibholz.
Tjark wartete an der Tür am Ende des Raumes.
»Es sieht toll aus«, lobte Mikkel und erntete lediglich ein Brummen.
Statt wie erwartet, die Treppe in den ersten Stock zu nutzen, führte Tjark ihn zu einem Anbau, der von einem großzügigen Windfang abging. »Wohnzimmer, Bad, Küchenecke, Schlafzimmer oben«, hörte Mikkel ihn sagen, doch er stand immer noch wie erstarrt im Flur.
Ein Foto dominierte den Bereich, das eine Berglandschaft in Afghanistan zeigte. Ein majestätisch aussehender Raubvogel zog in den ersten Sonnenstrahlen hoch am Himmel seine Kreise. Die Federn leuchteten wie Juwelen. Schlagartig hatte er den heißen Staub in der Nase, roch die orientalischen Gewürze, hörte das Lachen der Kinder in den abgelegenen Dörfern.
Tjark war zurückgekehrt und stand neben ihm. Mikkel räusperte sich und zeigte aufs Foto. »Das ist … das ist umwerfend. Woher hast du das Foto? Ich würde es auch sofort kaufen. Es fängt alles ein und noch so viel mehr. Vor allem sehe ich da eine Hoffnung für das Land, die ich schon längst verloren glaubte.«
»Ist selbst gemacht. Du warst da?«
»Ja, für die Polizei. Aufbau der … Ach, ist ja auch egal. Du auch?«
»Ja.«
Sie wechselten einen Blick, in dem vieles lag, das keiner von ihnen ansprechen würde. Mikkel räusperte sich erneut. »Ach ja, das Zimmer. Ich würde es gerne nehmen.«
»Willst du es nicht ansehen?«
»Nein. Es ist ein Dach überm Kopf und liegt perfekt. Was ich bisher gesehen habe, gefällt mir. Noch was anderes … Carl hat das doch alles hier eingefädelt, oder?« Tjark nickte. »Dann hat er auch gesagt, dass ich Hilfe brauchen könnte?« Wieder ein ruckartiges Senken des Kopfes.
Tjark zog sein Handy aus der Hosentasche. »Nika ist in fünf Minuten hier. Dann können wir reden. Tee oder Wasser?«
»Wasser wäre nett.«
»Sieh dir das Zimmer trotzdem mal an. Wir treffen uns dann draußen.«
Der Anbau war tatsächlich perfekt. Das Schlafzimmer war durch die Schrägen so niedrig, dass er sich den Kopf stoßen konnte, doch der Blick auf die Nordsee entschädigte dafür. Als er wieder herunterging, entdeckte er eine kleine Terrasse, die groß genug für einen Tisch und zwei Stühle war. Lebensbäume schirmten sie vom rückwärtigen Bereich des Hauses ab. Mikkel zwängte sich hindurch und stieß auf Tjark.
»So war das eigentlich nicht gedacht. Aber passt schon«, begrüßte er Mikkel.
»Danke. Wenn der Deich nicht wäre und ihr von hier aus die Nordsee sehen könntet, wäre das Haus noch genialer«, überlegte Mikkel laut.
»Wir haben den Balkon«, erwiderte Tjark.
Mikkel folgte seinem Blick und nickte.
Er wollte gerade nachfragen, wieso sie den Anbau vermieteten, da hörte er das Geräusch eines Motorrads. Wenig später betrat eine Frau mit schulterlangen braunen Haaren die Terrasse. Mikkel war aufgestanden und traute seinen Augen nicht. »Du bist Nika? Klar. Annika. Aber wieso Johanson?«
Annikas blaue Augen funkelten, als sie Mikkel kurzerhand umarmte. »Weil ich Tjarks Bruder geheiratet habe. Willkommen zurück im Norden, Mikkel.«
»Dann bist du nicht mehr beim BKA?«
»Nein, dann hätte ich zu viel reisen müssen. Ich bin nun freiberuflich unterwegs und gerade mit meinem letzten Projekt fertig. Erzähl mal, was du genau vorhast, dann können wir beurteilen, ob wir dir helfen können. Das Zimmer nimmst du doch, oder? Wehe nicht, das war mein letztes Projekt.«
Da Tjark nicht überrascht war, dass sie sich kannten, wusste er offenbar, dass Annika und er in Berlin bei seinen Ermittlungen gegen skrupellose Drogenhändler für einen kurzen Zeitraum zusammengearbeitet hatten. »Du hast den Anbau gemacht?«
»Na ja, nicht selbst, aber ich war so etwas wie die Bauleiterin und Innenarchitektin. Das Haus ist denkmalgeschützt, deswegen mussten wir in die Trickkiste greifen. Tjark und Silvia wollten ein Gästezimmer haben, hatten aber kein Zimmer mehr frei. Die Baugenehmigung haben wir mit der Auflage bekommen, es für die Vermietung zu nutzen. Das haben wir mit dir dann erreicht.«
Mikkel pfiff durch die Zähne. »Du hast ja neben deiner Karriere bei der Polizei einige gut verborgene Talente. Das Haus ist ein Traum. Aber wieso kennt ihr Carl?«
»Den kennen wir gar nicht«, gab Annika lächelnd zurück.
»Und wer hat das Ganze dann eingefädelt?«
»Freunde in Kiel«, erklärte Tjark, für den mit den wenigen Worten offenbar alles gesagt war.
Mikkel ließ das für den Moment auf sich beruhen und schilderte den beiden eine Kurzfassung über die ersten Opfer und alles, was er bisher über den Mord an Eric wusste.
Zunächst breitete sich Schweigen aus, dann rieb sich Tjark übers Kinn. »Wie können wir dich unterstützen?«
Mikkel hob die Hände. »Ich weiß es noch nicht, aber mein Bauchgefühl sagt mir, dass der Täter oder die Täterin in Büsum zu finden ist. Ohne Ortskenntnisse und ohne Draht zu den Leuten kommt man da nicht weiter. In beiden Punkten seid ihr mir gegenüber klar im Vorteil.«
»Und deine Leute?«
»Tja, die werden mit ihren Aufgaben wachsen, aber im Moment wäre ich froh über deine Erfahrung, Annika.« Er lächelte Tjark zu. »Und deine.«
»Und was stellst du dir vor, dass wir tun sollen?«, fragte Tjark.
Mikkel verzog den Mund. »Keine Ahnung. Das wird sich hoffentlich finden.«
Tjarks Brummen konnte Mikkel nicht deuten, es mochte Zustimmung oder Unglauben gewesen sein. Doch dies entsprach der Wahrheit. Mikkels Gefühl sagte ihm, dass er die Hilfe der beiden brauchte, auch wenn er im Moment keine Idee hatte, wie sie vorgehen sollten. Zum Glück blieben ihm weitere Erklärungen erspart, denn Tjarks Frau Silvia betrat die Terrasse. Mikkel zuckte kurz zusammen, als sie sich als Journalistin vorstellte, war aber beruhigt, als sie ihm versicherte, nichts zu schreiben, ehe er es abgesegnet hatte.