Kapitel 10                         

Mikkel starrte aus dem Fenster und versuchte, seine Gedanken zu sortieren. Es war fast halb zehn abends und dennoch hatte er keine Lust, das Revier zu verlassen. Carl hatte ihn vor einer Stunde angerufen und besorgt gefragt, ob er sich in der Lage fühlte, weiterzumachen. Mit mehr Sicherheit, als er tatsächlich empfand, hatte er seinem obersten Vorgesetzten und väterlichen Freund dies bestätigt. Da Carl ihn verdammt gut kannte, würde er wissen, dass Mikkel den Fall nun extrem persönlich nahm. Egal wie oft man ihm sagte, dass er nicht am Tod der Frau Schuld war – er fühlte sich dafür verantwortlich. Das Mindeste, was er für die Verkäuferin noch tun konnte, war, ihren Mörder ins Gefängnis zu bringen. Leider hatte er bisher keinen einzigen Anhaltspunkt. Sie hatten bereits erstaunlich viele Befragungen bei den Mietern der Schlafstrandkörbe durchführen können, leider war trotz der Welle an Hilfsbereitschaft der Tenor, dass niemand etwas wusste und auch keine Auffälligkeiten bemerkt hatte. Morgen würden sie noch einmal nachfassen und dieses Mal eine Frau erwähnen, von der sie nur eine grobe Beschreibung hatten. Nach wie vor begriff er nicht, wie die ältere, füllige Besucherin, die von der Verkäuferin beobachtet worden war, zu der Verabredung von Eric passen sollte. Auch in der Akte zu dem Mord auf Fehmarn stand, dass das Opfer sich auf ein Date gefreut, sogar damit angegeben hatte. Mikkel konnte sich nicht vorstellen, dass die jungen, gut aussehenden Männer sich dermaßen für eine Frau in dem Alter interessiert hatten. Oder ließ er sich hier von Vorurteilen leiten?

Er hasste es einfach, dass er nichts tun konnte, weil er keinen Anhaltspunkt für weitere Ermittlungen hatte. Und daran würde sich auch am nächsten Morgen nichts geändert haben. Gut, sie konnten und würden noch mal gezielt nach einer Frau zwischen fünfzig und sechzig fragen, aber eigentlich versprach er sich davon nicht viel. Es widerstrebte ihm, zu gehen, aber hier zu sitzen, brachte ihn auch nicht weiter. Wie gut, dass er eine Tasche mit Übernachtungsklamotten eingesteckt hatte, so blieb ihm die Fahrt nach Kiel erspart und er konnte die erste Nacht direkt am Deich verbringen. Das war wenigstens ein kleiner Lichtblick. Mikkel stand auf und verließ sein Büro.

Überrascht blieb er stehen, als er Rieke entdeckte. Sie hatte die Füße auf den Schreibtisch gelegt und wischte konzentriert auf ihrem Handy herum. Nun, das konnte sie ebenso gut zu Hause. Er würde die Gelegenheit nutzen und sich bei ihr entschuldigen und sie dann nach Hause schicken. Die anderen Beamten waren längst gegangen und auch Tjark und Annika hatten sich schon vor langer Zeit verabschiedet. Allerdings hatten die beiden angekündigt, sich noch weiter umhören zu wollen.

Mikkel hockte sich neben Riekes Füße auf die Schreibtischkante und wartete, dass sie ihn zur Kenntnis nahm.

Als sie endlich mit dem Herumtippen auf dem Handy fertig war, redeten sie beide gleichzeitig los.

Lächelnd signalisierte sie ihm, dass sie ihm den Vortritt ließ.

»Ich wollte mich dafür entschuldigen oder dir zumindest erklären, warum ich dich gebeten habe, Tjark deine Waffe zu überlassen. Ich wusste, dass er bereits Erfahrung mit ähnlichen Einsätzen und scharfer Munition hatte. Das heißt nicht, dass ich an deinen Fähigkeiten zweifele, aber ich wollte kein Risiko eingehen. Und du weißt ja selbst, dass wir Polizisten unsere Pistolen zum Glück fast nur auf dem Schießstand nutzen.«

»Erst war ich stinksauer, aber als ich gesehen habe, wie professionell Tjark vorgegangen ist, konnte ich es akzeptieren.«

An ihrem PC erklang ein leises Pling. »Perfekt, dann kann ich dir zeigen, auf was ich gestoßen bin.« Sie beugte sich nach vorne und rief eine Mail auf, die eben gerade eingegangen war. »Ich bin seit Stunden alle Hashtags auf Insta durchgegangen, die mit Büsum in Verbindung stehen und dabei auf dieses Foto gestoßen. Ich habe die Touristin gebeten, uns das Original zu schicken und sich morgen kurz bei uns zu melden, damit wir protokollieren können, wann und wo das Bild aufgenommen wurde.«

Nun war Mikkel endgültig gespannt. Da hatte er mit der Einschätzung ihrer Tätigkeit ja gründlich daneben gelegen.

Nach einem Doppelklick erkannte er zunächst zwei Kinder, die Räder schoben. Dann entdeckte er, dass die Aufnahme direkt vor dem Radverleih entstanden war und im Hintergrund eine Frau beim Betreten der Bäckerei fotografiert worden war.

Rieke zoomte den Bereich bereits heran. »Viel ist es nicht, weil man sie nur von hinten sieht, aber ein Anfang. Das könnte doch gut die Tussi sein, die in Erics Wohnung herumgewühlt hat.«

Die Beschreibung der Figur und auch der eleganten Kleidung passte. Da sie nun kein Cap trug, konnte man ihre blonden Haare erkennen, die ihr lang auf den Rücken fielen.

»Ich könnte schwören, dass das eine Perücke ist, aber besser als nichts. Die Fotografin guckt noch ihre anderen Bilder durch. Vielleicht haben wir noch mehr Glück. Ich habe ihr gesagt, was uns interessiert. Ich weiß, dass das nicht üblich ist, aber was hätte ich tun sollen?«

Einfach alle Aufnahmen anfordern. Mikkel verkniff sich die Belehrung. »Ist ja nicht mehr zu ändern und vielleicht bringt es noch etwas. Die Idee, auf Instagram zu suchen, war jedenfalls großartig. Gut gemacht.«

»Danke.« Sie stand auf und reckte sich. »Machen wir Schluss für heute? Ich hasse es, aber wir werden wohl auf die Auswertungen der Forensiker warten müssen. Mehr fällt mir im Moment leider nicht ein, was wir machen können.«

Mikkel seufzte und nickte. »Du hättest nicht so lange bleiben müssen.«

»Ich war beschäftigt«, erwiderte sie schlicht. »Hast du denn eine Übernachtungsmöglichkeit?«

»Ja.« Rieke schien auf eine Erklärung zu warten, aber dazu hatte Mikkel keine Lust. »Schlaf morgen gerne aus. Der Revierbetrieb ist gesichert und du weißt, wie langsam das Labor arbeitet. Wir können froh sein, wenn wir gegen Mittag erste Ergebnisse haben.«

»Mal sehen.« Rieke tippte mit zwei Fingern auf dem Schreibtisch herum. »Ich kann mir vorstellen, was du von uns hältst, weil du dir ja bestimmt die Statistiken angesehen hast. Nachbarschaftsstreitereien, kleine Diebstähle, maximal ein Raub oder eine Körperverletzung. Aber ich will den Täter kriegen. Oder die Täterin. Ich habe im Moment keine Idee, wie alles zusammenpassen könnte, aber ich will, dass die Ermittlungen Erfolg haben! Mir gehen die Anblicke der Opfer nicht aus dem Kopf. Sie haben es einfach verdient, dass wir den Mörder finden.«

Mikkel nickte lediglich. Mit einer solchen Brandrede hatte er nicht gerechnet, andererseits kannte er seine Mitarbeiterin kaum und hatte seine Einschätzung im Laufe des Tages schon einige Male korrigieren müssen. Unerwartet lächelte sie und hielt ihm die Hand hin. »Noch mal ganz formell: Willkommen bei uns an Bord, Mikkel.«

»Danke«, sagte er und schlug ein.

 

Eine halbe Stunde später saß er auf seiner kleinen Terrasse und lauschte dem Klang der Wellen. An einer Tankstelle hatte er sich einen Sixpack Bier und eine völlig überteuerte Flasche Whisky gekauft. Er war kein großer Trinker, doch nach dem Tag hatte er sich ein Glas Bier oder auch etwas Stärkeres verdient.

Eine leise Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. Das war eindeutig Silvia, die ihren Mann davon abhalten wollte, ihn anzusprechen. »Ihr stört nicht«, rief er ihnen durch die Hecke aus Lebensbäumen zu.

»Sag ich doch«, hörte er daraufhin Tjarks tiefe Stimme.

Sekunden später wackelten die Zweige und die beiden zwängten sich durch die Hecke.

Silvia sah sich um und schüttelte den Kopf. »Für drei ist es zu eng. Ich hole Mikkel eine Portion Eintopf und überlasse die Mörderjagd euch.«

»Das ist doch nicht nötig«, erwiderte Mikkel, sprach jedoch bereits mit Silvias Rücken.

»Annika und ihr Mann haben sich bei den Surfern umgehört. Sie gehören nicht fest dazu, aber so’n büschen, darum erfahren sie ganz andere Dinge, als wenn du offiziell nachfragst. Eric hatte ein Date mit seiner ›Traumfrau‹, die er zu lange nicht erkannt hatte. Das hat er am Vortag einem Kumpel gegenüber gesagt. Über die Vorstellung, dass es sich dabei um eine Frau im Alter seiner Mutter handeln könnte, hat sein Kumpel gelacht. Er ist sicher, dass es um jemanden aus Büsum oder der Umgebung ging und wollte noch mal nachdenken, ob ihm noch mehr einfällt.«

Mikkel schob Tjark ein Bier zu. »Das habe ich mir so oder so ähnlich gedacht und es ist großartig, dass du es bestätigst. Aber wie das nun zusammenpasst, verstehe ich nicht. Wir suchen also zwei Frauen: Eine Jüngere als seine Verabredung und eine Ältere als Tatverdächtige. Oder ist es doch die Jüngere gewesen?«

»Und es muss eine Verbindung zwischen beiden geben. Da kommt nicht viel infrage: Ich tippe auf Mutter und Tochter.«

Mikkel verschluckte sich an seinem Bier. »Du meinst, die Tochter lockt die Männer in die Falle und die Mutter killt sie? Das wäre … keine Ahnung. Mir fehlen die Worte.«