Kapitel 11                         

Als Mikkel am nächsten Morgen das Revier betrat, schilderte eine aufgeregte Touristin gerade Heiko, wo ihr angeblich das Fahrrad gestohlen worden war. Mit einer Engelsgeduld hörte der Polizist ihr zu.

Der Umkleideraum war leer, doch als er mit einem Becher Kaffee den Besprechungsraum betrat, traf er nicht nur Rieke, sondern auch Sönke und Tobi, die eigentlich die Nachmittagsschicht übernehmen sollten.

Die Begrüßung beschränkte sich auf ein kurzes »Moin« und allgemeines Nicken.

»Ihr könnt gerne Überstunden machen, aber bitte passt auf, dass ihr es nicht übertreibt. Damit meine ich eure Konzentrationsfähigkeit und eure Gesundheit und nicht die angesammelten Stunden, die ihr irgendwann wieder ausgleichen könnt.« Er grinste flüchtig. »Spätestens im Winter, wenn hier die Bürgersteige hochgeklappt werden.«

»Welch verlockende Aussichten«, gab Rieke zurück. »Ich habe heute Morgen mit Marlene gesprochen und sie offiziell nach einer älteren Frau in Verbindung mit Eric gefragt, sie wusste leider nichts. Inoffiziell habe ich sie noch ein wenig ausgefragt, wo sie vorher gearbeitet hat, das war St. Peter Ording. Die Ostsee mag sie nicht, da hat sie nie gewohnt, nur bei Sylt war sie ein wenig schwammig. Aber da habe ich nicht nachgehakt, das kann ich ja immer noch tun.«

»Schade, trotzdem gute Arbeit. Es wäre wohl zu einfach gewesen, wenn wir sie mit den anderen Tatorten hätten in Verbindung bringen können. Von Erics Surferkumpel wissen wir nun immerhin, dass wir zwei Frauen suchen. Eine jüngere, die er als Traumfrau bezeichnet hat, und dann eben die ältere, die bei uns auf dem Radar erschienen ist.«

»Wie passt denn das zusammen?«, fragte Sönke und starrte auf die Wand, auf der einige Namen notiert waren.

»Wenn wir das wüssten, könnten wir einen Haftbefehl beantragen«, erwiderte Rieke scharf und milderte ihre Antwort dann mit einem Lächeln. »Entschuldige, die Frage ist natürlich richtig und ich knabbere da auch schon dran.«

»Tjark meinte, dass es Mutter und Tochter sein könnten.«

Tobi verschluckte sich prompt an seinem Kaffee. »Du meinst zwei Psychotanten, von denen die eine die Opfer anlockt und die andere sie abmurkst?«

Mikkel prostete ihm mit seinem Becher zu. »So habe ich gestern Abend auch reagiert und es gibt ein gewichtiges Argument, dass gegen die These spricht.«

Rieke nickte sofort. »Der Tathergang! Stell dir vor, du hast ein Date mit deiner Traumfrau und dann kommt Mutti aus dem Gebüsch und will dir die Kehle durchschneiden. Da reagierst du ja irgendwie, machst eine Abwehrbewegung, schreist, weichst zurück. Irgendwas. Aber laut den Berichten waren alle Opfer völlig arglos und wurden überrascht.«

»Ein flotter Dreier?«, schlug Tobi vor und zuckte entschuldigend mit einer Schulter. »Sorry, aber … fiel mir so ein.«

»Ich glaube nicht, dass Eric dafür der Typ gewesen ist«, erwiderte Rieke. »Aber ausschließen würde ich es im Moment auch nicht. Wobei die Vorstellung echt gruselig ist: Da würde demnach Eric mit zwei Damen unterschiedlichen Alters, vielleicht sogar Mutter und Tochter, eine Mini-Orgie feiern, bis eine von ihnen das Messer rausholt?«

Sönke verzog das Gesicht, als ob er in eine Zitrone gebissen hätte. »Plötzlich klingt die Jagd nach Parksündern, um die Gemeindekasse zu füllen, irgendwie verführerisch. Das ist ja abartig. Aber mal eine praktische Frage: Würden das die Strandkorbnachbarn nicht hören?«

»Nicht, wenn sie selbst gerade … feiern. Also ihre Zweisamkeit.« Riekes Wangen färbten sich rot. »Aber ich glaube, das können wir ausschließen. Dafür sind diese Dinger auch irgendwie zu eng. Also, ich meine für drei Personen, die … Ihr wisst schon. Und ihr dürft nicht vergessen, dass die Schlafstrandkörbe auch ein Stück auseinanderstehen.«

Tobi rieb sich übers Kinn. »Ich habe gestern alle persönlichen Daten notiert und mit den anderen Touristen gesprochen. Wir sollten das aber noch mal vertiefen.«

Mikkel stimmte ihm zu. »Und zwar mit dem Bild, das Rieke ausgegraben hat, aber erst dann, wenn wir den Todeszeitpunkt wissen. Es kann doch nicht sein, dass niemand die Täterin oder den Täter gesehen hat. Vermutlich hat jemand was bemerkt und weiß nicht, dass es für uns wichtig ist. Außerdem habe ich mir überlegt, dass vielleicht auch andere Strandbesucher etwas gesehen haben könnten. Dort ist doch auch bei den regulären Strandkörben abends noch was los.«

»Gute Idee. Wir sollten da heute noch mal vorbeisehen.« Rieke musterte die Wand. »Da stehen aber so schon eine Menge Personen drauf, mit denen wir reden sollten. Kommen Tjark und Annika heute wieder?«

»Ja. Sie sind bereits unterwegs. Tjark redet mit Rasmus, der hat die Galerie am Hafen und soll wohl alle und jeden kennen. Wir haben die Hoffnung, dass er uns bei der älteren Frau weiterhelfen kann. Annika will nachher noch mal bei den Surfern nachhaken, aber die sind noch nicht wach.«

»Beneidenswert«, grummelte Sönke.

Rieke zwinkerte ihm zu. »Die stehen auch schon mal um 6 Uhr auf, wenn ordentliche Wellen angekündigt sind.« Sie wandte sich wieder der Wand zu. »Gefühlt haben wir dort bald ganz Büsum stehen: Die Anwohner bei der Bäckerei, die Gäste der Strandschlafkörbe, Erics riesiger Bekanntenkreis.« Nach einem Blick auf ihre Uhr stand sie auf. »Die Touristin, die ihre Kinder fotografiert hat, kommt jeden Moment. Hoffentlich ist auf einem der anderen Bilder noch mehr zu erkennen.«

 

***

 

Ohne die Beamten der Spurensicherung erkannte Mikkel den Tatort kaum wieder. Lediglich das rot-weiße Absperrband rund um den Schlafstrandkorb wies darauf hin, dass hier etwas geschehen war. Zwischen den normalen Strandkörben spielten Kinder, auf der Lagune trieben Stand-up-Paddler und einige Windsurfer.

Ihm war zuvor nicht aufgefallen, dass der Tatort in einer Art Nische in den Dünen lag. Das hatte dem Täter die Angelegenheit deutlich erleichtert und gleichzeitig die Wahrscheinlichkeit, dass jemand etwas mitbekommen hatte, minimiert.

Gedanklich strich er das Wort »Düne« und ersetzte es durch Sandanhäufung, denn wie alles an diesem Ort, war auch dies eine künstliche Gestaltungsmaßnahme. Er dachte an den Strand hinter Tjarks Haus. Das war die richtige Nordsee! So kannte er das Meer von Sylt oder anderen Orten. Das hier war eine weichgespülte Version für Menschen, die es nicht besser kannten. Eine Familie mit zwei Kleinkindern eilte an ihm vorbei. Oder für Leute, denen die Nordsee aus verständlichen Gründen zu wild war. Was hatte Eric nur bewogen, sich hier zu verabreden? Viele Strandkörbe standen auf einer Rasenfläche. Die Surfer in der Lagune waren blutige Anfänger. Die Imbissbuden was für Touristen. Hier verirrte sich normalerweise kein Einheimischer her. Den letzten Satz sprach er laut aus.

Rieke nickte. »Ich verstehe es auch nicht. Es hätte so viele romantische Ecken gegeben. Das hier ist für Touristen oder eine ganz bestimmte Klientel. Eric muss doch hier wie ein Fremdkörper gewirkt haben.«

»Lass uns mal so ein Ding genauer ansehen.«

»Du meinst so einen Schlafkorb?«

»Ja, die stehen doch leer.«

Sie gingen auf den nächstgelegenen zu und bemerkten eine junge Frau in enger Jeans und weißem Top, die auf sie zulief.

»Moin. Habt ihr Interesse an unseren Schlafstrandkörben?«

Mikkel hielt ihr seinen Ausweis hin. »Ja, aber nicht als Kunde.«

»Prima, das ist ja noch besser. Ich sollte mich bei euch melden, hat meine Kollegin mir geschrieben. Ein cooler Typ namens Tobi braucht noch meine Aussage. Bist du das? Ich bin Helle. Helle Bergström.«

Mikkel verkniff sich ein Grinsen und ging auf die vertrauliche Anrede nicht weiter ein, denn ihr dänischer Akzent war unverkennbar und im Nachbarland wurde sich nun mal nicht gesiezt. »Nee, ich bin Mikkel. Tobi ist auf dem Revier.«

»Macht ja nichts. Dann kann ich dir das mit Eric ja erzählen. Ich bin immer noch ganz platt und kann es nicht glauben. Er hatte sich doch so gefreut! Also, das war nämlich so. Er hatte ein richtig heißes Date. Den Sekt, den Kühler und die Kuscheldecke habe ich ihm gebracht. Er hatte dann noch Rosen dabei. Und eine Kerze, aber die musste er draußen in den Sand stellen. Das wäre ja viel zu gefährlich. Und ich habe ihm meine Boomboombox geliehen, weil seine nicht genug Strom, also Akku hatte. Ich bin dann gegen neunzehn Uhr weg, da hat er schon gewartet.«

Rieke und Mikkel redeten gleichzeitig los. Lächelnd signalisierte er ihr, zu beginnen.

»Hast du eine Idee, mit wem er verabredet war?«

»Nee. Aber es muss eine alte Liebe sein, die neu entflammt ist. So was hatte er gesagt. Ich war sogar neugierig und bin extra langsam nach Hause, aber sie muss sich wohl verspätet haben.«

Das wäre wohl zu einfach gewesen. Mikkel rief sich den Tatort in Erinnerung. »Viele der Sachen, die du erwähnt hast, sind verschwunden.«

Automatisch blickte Helle zur Lagune. »Nee, echt? Wo denn?«

»Genau das ist die Frage. Man kommt doch nur zu Fuß her, oder?«

»Ja, genau. Autos und Räder sind verboten. Maximal so’n Wagen zum Ziehen für die Kinder ist erlaubt.«

Rieke drehte sich einmal um die eigene Achse. »Da hätte dann jemand ordentlich zu schleppen.«

Mikkel schüttelte den Kopf. »Ich würde eher sagen, dass der- oder diejenige das hier irgendwo versteckt hat.« Er blickte zu den Strandkörben und dann weiter zu den Imbissbuden. »Es hilft nichts, wir müssen hier alles durchkämmen.«

Helle atmete zischend aus. »Was ist kämmen? Das kenne ich nur bei Haaren.«

»Suchen«, erklärte Rieke.

»Dann habe ich eine Idee. Kommt nicht mit euren Kollegen in Uniform, das war heute Morgen schon Thema. Ihr verschreckt die Gäste, das ist nicht gut. Ich schicke unser Reinigungsteam los. Die kennen jeden Winkel und sind viel schneller.«

»Wann könnten die loslegen?«

»In ’ner halben Stunde.«

Rieke breitete die Hände aus. »Das verstößt bestimmt gegen Vorschriften, wäre aber viel schneller.«

»Solange sie am Fundort nichts anfassen, könnte ich damit leben«, stimmte Mikkel zu.

»Ruf sie an. Können wir uns das Teil hier noch mal genauer ansehen?«

»Ja, natürlich. Leg dich gerne rein. Was interessiert dich denn?«

»Kann man es von außen öffnen und sich heimlich reinschleichen?«

»Ja, theoretisch, ist aber anstrengend. Ich würde wach werden. Am besten öffnet man das zu zweit.«

Während Helle telefonierte, legten sich Rieke und Mikkel nacheinander in den Korb und schlossen ihn. Danach gaben sie Helle recht. Entweder hatte sich der oder wohl eher die Täterin mit Eric im Inneren befunden und dann zugestochen oder Eric hatte sehr tief geschlafen und war komplett arglos gewesen. Mochte dies auch im Moment unwichtig erscheinen, konnte ein Staatsanwalt dies später ganz anders sehen.

Mikkel betrachtete die Liegefläche. »Da befand sich also eine Decke drauf?«

»Ja, und Kissen. Das hatte Eric alles extra bestellt.«

Rieke rieb sich übers Kinn. »Da hält sich dann wohl jemand für schlau, weil er glaubt, so alle DNA-Spuren beseitigt zu haben.«

Mikkel verzog den Mund zu einem freudlosen Grinsen. »Stimmt ja auch. Auch wenn es eine Reinigung zwischen den einzelnen Nächten gibt, werden in dem Korbgeflecht bestimmt noch jede Menge Spuren von Vormietern vorhanden sein. Aber wenn wir die anderen Sachen finden, dann wird es spannend.«

»Die Jungs beeilen sich und werden bestimmt Erfolg haben.«

Rieke sah zur Lagune hinüber. »Es sei denn, das wurde alles versenkt.«

Helle schüttelte den Kopf. »Nee, ist doch viel zu flach und das Zeug schwimmt auch. Da musst du schon ganz schön weit reingehen, wenn du es richtig versenken willst.«

Mikkels Handy vibrierte. Ihm reichte ein Blick auf die Nachricht von Tjark. »Wir sollen zur Galerie von Rasmus kommen. Weißt du, wo die ist?«

Sowohl Helle als auch Rieke nickten. Lächelnd deutete er auf Rieke. »Eine Begleiterin reicht.«

»Schade, es wurde gerade spannend«, beschwerte sich Helle und winkte ihnen zum Abschied zu.