Kapitel 12                         

Tjark sah ihnen bereits ungeduldig entgegen, konzentrierte sich dabei jedoch überraschenderweise auf Rieke. »Gut, dass du dabei bist.«

Eigentlich hätte sich Mikkel lieber in der Galerie umgesehen. Neben den Fotos und Bildern an der Wand gab es auch etliche Gegenstände, die zum Verkauf standen. Auch die beiden Ständer mit Postkarten vor dem Gebäude hatten ihn neugierig gemacht. Das waren keine normalen »Grüße von der Nordsee«-Kitschkarten mit einer Robbe oder einer Möwe, sondern hochklassige Fotografien.

Rasmus, der Besitzer, begrüßte sie trotz Tjarks Ungeduld freundlich und stellte sich formvollendet vor. Die farbenfrohe Kleidung hätte Mikkel niemals angezogen, doch zu Rasmus passten die lilafarbene Hose und das gelbe Polohemd.

»Ich erinnere mich an die Frau«, sagte Rasmus dann und hatte damit Mikkels volle Aufmerksamkeit.

»Die Blonde, die in die Bäckerei gegangen ist?«

»Ja, genau die. Tjark hat mir das Foto gezeigt und an die Haare erinnere ich mich. Sie waren sozusagen zu perfekt, um natürlich zu sein. Wir kamen ins Gespräch, weil sie eine bunte Einkaufstasche trug, die offensichtlich selbst gemacht war. Ich hätte Interesse daran gehabt, sie zu erwerben und auch hier anzubieten. Sie wollte darüber nachdenken. Leider habe ich keine Kontaktdaten von ihr erhalten, sondern ihr nur meine Visitenkarte überlassen. Doch ich habe eine Idee, wie ihr den Namen herausfinden könnt.« Rasmus wandte sich nun direkt an Rieke. »Die Frau hatte eine große Einkaufstüte von Küstengold dabei, in der ein Schuhkarton von Manolo Blahnik war.«

»Ja und?«, fragte Mikkel.

Rieke lachte leise. »Sagt dir der Name etwas?«

»Nee.«

Tjark brummte zustimmend, während Rasmus und Rieke einen Blick voller Verständnis wechselten.

Rieke hielt sich eine Hand vor den Mund. »Nun, gegen echte Manolos sind Jimmy Choos so was wie Discounter-Schlappen.« Mikkels drohender Blick reichte, damit sie wieder ernst wurde. »Solche Schuhe kosten um die achthundert Euro. Mindestens. Jimmy Choos bekommst du schon für zweihundert Euro.«

»Wir reden hier aber immer noch über Schuhe, oder?«, hakte Mikkel nach.

Rieke grinste breit. »Ja, tun wir. Ich wette, im Küstengold werden sie sich daran erinnern, denn so gehoben ist die Kundschaft hier in Büsum nun auch nicht. Wir sind ja nicht auf Sylt.«

Rasmus nickte energisch. »Aber das Gespräch mit den Verkäuferinnen dort sollte auf jeden Fall Rieke übernehmen, sonst befürchte ich Böses.«

Mikkel ahmte Tjarks Brummen nach. Die Form der Zustimmung hatte eindeutig einige Vorteile. »Vielen Dank an euch beide. Dann machen wir uns mal auf den Weg.«

Rasmus seufzte. »Tut das. Tjark und ich haben noch etwas Geschäftliches zu klären und werden noch weiter überlegen, was uns so alles zu eurem Fall einfällt.«

Nun machte es bei Mikkel klick und er sah zu den Fotos mit den Nordseemotiven hinüber. »Die sind von Tjark?«

»Ja.«

Tjarks Brummen klang nun eindeutig unwillig, was Mikkel komplett ignorierte. »Ich komme wieder. Das mit den Wellen gefällt mir. Ich meine, sie gefallen mir alle, aber das muss ich unbedingt haben. Und vielleicht noch das mit dem Leuchtturm und …«

Erst als Rieke ihn spöttisch ansah, winkte er ab und folgte ihr schnell aus dem Laden. »Die Fotos sind aber auch ein Traum.«

»Sind sie. Ich hätte aber nicht gedacht, dass du dich durch sie von unserem Fall ablenken lässt.«

»Betrachte die kurze Schwärmerei als meine Frühstückspause. Müssen wir dorthin fahren?«

»Nee, das sind zu Fuß keine fünf Minuten. Folge mir einfach.«

 

Wenig begeistert musterte Mikkel das Schaufenster der Boutique. Er hatte von modischer Frauenkleidung keine Ahnung, aber hier schrie alles »teuer«, und zwar »extrem teuer«. Als er näher trat, bestätigten die dezenten Preisschilder seinen Eindruck. Ein weißes T-Shirt für über hundert Euro! Warum? Das Haus selbst gefiel ihm. Von den alten Reethauskaten gab es viel zu wenige, aber musste man die gleich in Läden verwandeln? Und dann noch in so einen?

Riekes Mundwinkel zuckten so lange, bis sie leise lachte. »Wie Rasmus schon sagte: Ich übernehme das Reden. Du siehst aus, als ob du die Inhaberin festnehmen willst.«

»Hier sollte eine nette Familie leben und nicht …«

»Sie ist verheiratet und hat zwei Kinder. Stand jedenfalls in der Zeitung, als sie den Laden eröffnet hat.«

»Okay, ich sage nichts mehr und überlasse dir alles. Brauchst du mich eigentlich?«

»Ehrlich gesagt …«

»Vergiss die Frage!« Mikkel konnte ein Grinsen nicht ganz unterdrücken. So allmählich gewöhnte er sich an die Zusammenarbeit mit Rieke und mit ihrer frechen Art kam er gut klar.

Die Glastür gab beim Öffnen ein melodisches Klirren von sich, das von einem Windspiel stammte, das bewegt worden war. Ein zarter Vanilleduft empfing sie – und trieb ihn fast in die Flucht.

Eine Frau mit einem Kurzhaarschnitt, den seine alte Mathelehrerin wegen der geometrischen Details geliebt hätte, eilte auf sie zu. Immerhin behielt sie ihr freundliches Lächeln bei, als Rieke ihr erklärte, warum sie hier waren. Sie betonte dabei jedoch, dass sie sich wichtige Hinweise von der Zeugin versprachen, und tat alles, um zu vermeiden, dass die unbekannte Frau als Tatverdächtige erschien.

»Möchten Sie sich einen Augenblick setzen? Und darf ich Ihnen vielleicht etwas anbieten? Einen Espresso? Ein Wasser?«

Ehe er ablehnen konnte, tat Rieke das für sie beide und entschuldigte dies damit, dass sie es eilig hatten.

»Das verstehe ich natürlich. Die Beschreibung und vor allem die erwähnten Manolos sind eindeutig. Sie suchen die liebe Frau Rahlsen. Die Arme hatte gerade ihre letzte Chemo erfolgreich hinter sich gebracht und sich als Belohnung die Manolos gekauft. Daher stammen auch die etwas unnatürlich wirkenden blonden Haare. Die Perücke hatte sie auch schon bei den vorigen Behandlungen getragen. An den Tag, an dem sie die Schuhe gekauft hat, erinnere ich mich noch, als ob es gestern gewesen wäre. Ich wollte sie noch zu einem preiswerteren Artikel überreden, aber nein, es mussten die Manolos sein. Irgendwie kann ich es ja auch verstehen. Man muss das Leben eben feiern und mitnehmen kann man am Ende ja auch nichts.«

Mikkel brauchte einen Moment, um den Namen einzuordnen, da war Rieke deutlich schneller.

»Meinen Sie die Mutter von Marlene Rahlsen?«

»Ja, genau. Britt Rahlsen.«

»Vielen lieben Dank. Damit haben Sie uns sehr geholfen. Dann besuchen wir Frau Rahlsen mal. Ich wusste gar nicht, dass … Aber gut, ihre Tochter Marlene und ich sind nun auch nicht mehr so eng befreundet. Also, danke für die Vorwarnung.«

 

Mikkel fiel auf, dass er außer »Moin« und »Tschüss« kein Wort gesagt hatte, doch damit konnte er gut leben.

»Das ist ja ein Ding«, sagte Rieke, als sie wieder draußen waren. Ehe Mikkel dies kommentieren konnte, rief sie im Revier an und bat darum, dass man ihnen die Adresse auf die Handys schickte. »Ich weiß leider nicht, wo Britt jetzt wohnt, und habe auch keine Idee, ob Marlene dort bereits ausgezogen ist. Früher hatten sie ein Haus ein Stück vor Büsum, ganz bei uns in der Nähe, aber ich weiß, dass sie das verkauft haben.«

Mikkel nickte geistesabwesend. Nun waren sie tatsächlich auf eine Mutter und Tochter im passenden Alter gestoßen, doch es erschien ihm abwegig, dass sie damit der Mörderin einen Schritt näher gekommen waren. Andererseits gab es menschliche Abgründe, die perfekt hinter einer harmlosen Fassade verborgen wurden. Und Fakt war, dass Britt Rahlsen zur Tatzeit beim Betreten der Bäckerei fotografiert worden war.

Mikkels Handy vibrierte. Tobi meldete sich und die Verwirrung war ihm anzuhören. »Frau Rahlsen, deren Adresse ich raussuchen sollte, steht hier und möchte mit dir oder Rieke sprechen.«

»Wir sind unterwegs«, erwiderte Mikkel und trennte die Verbindung.

Als er für Rieke die Nachricht wiederholte, sah sie ihn so ratlos an, wie er sich fühlte.