Kapitel 14                         

Wie bereits am Vortag schlossen sie das Revier über die Mittagszeit und versammelten sich gemeinsam mit Tjark und Annika im Besprechungsraum. Statt Fischbrötchen stellte Tjark eine riesige Schüssel voller Rührei mit Krabben mitten auf den Tisch.

Mikkel sah zwar die leuchtenden Augen seiner Kollegen, begriff aber erst, warum sie ihre Teller mit wahren Bergen füllten, als er die erste Gabel probiert hatte. Sofort ärgerte er sich, dass er nicht mehr genommen hatte. Nun musste er schnell sein, wenn es um einen Nachschlag ging. Das Rührei war eine Geschmacksexplosion, wie er sie bisher nicht einmal in einem Sterne-Restaurant erlebt hatte. Und das kam von einer Pensionswirtin namens Hiltrud?

Als er sein Erstaunen nicht verbergen konnte, lächelte Annika verschmitzt. »Eigentlich gibt es das nur für Gäste und Familie abends. Aber Tjark hat bei ihr einen Stein im Brett.«

Fast hätte er geantwortet, dass es sich schon wegen des Essens gelohnt hatte, die beiden ins Team zu holen, aber das wäre dann doch zu unprofessionell gewesen, sodass er den Kommentar gerade noch unterdrückte.

Trotz des köstlichen Essens entbrannte schnell eine hitzige Diskussion in Bezug auf die Rollerfahrerin. Annika hatte Riekes Vermutung bestätigt, weil sie den Roller am Strand gesehen hatte. Die Halterin musste also zur Surfergruppe gehören. Mikkel wollte sie aufs Revier vorladen, Annika war strikt dagegen.

Schließlich hob Tjark die Hände. »Ruhe! Mikkel und Rieke treten offiziell und wenig nett auf. Annika bleibt einfach bei ihrer Rolle als Frau eines Surfers. Jakob und sie sind ja dort bekannt. Sie tröstet Ellie nach eurem Besuch. Noch jemand Rührei?«

Immerhin schaffte Mikkel es, sich noch einen kleinen Nachschlag zu sichern. Tjarks Handy, das neben seinem Teller lag, vibrierte und zeigte eine Nachricht an. Er überflog sie kurz und nickte zufrieden. »Ein Kumpel von mir hat einen Hausmeisterservice für Ferienwohnungen. Er zieht einen tropfenden Wasserhahn vor und nimmt mich mit. Wir fahren gleich los.«

Rieke ließ ihre Gabel sinken. »Geht’s um eine Wohnung von Britt Rahlsen?«

Tjark bedachte sie mit einem herablassenden Blick und schob sein typisches »Jo« noch hinterher.

»Und was versprichst du dir davon?«, erkundigte sich Sönke mit vollem Mund gerade so verständlich.

»Mal umgucken«, gab Tjark zurück.

Im Gegensatz zu Sönke verstand Mikkel, worum es Tjark ging. Er hätte sich zu gerne selbst angesehen, wie Britt Rahlsen lebte. Vielleicht verriet ihnen das schon einiges über die Frau, die er nicht als Tatverdächtige ausschließen konnte und wollte.

Rieke schüttelte den Kopf. »Ich kann dir sagen, wie’s bei ihr aussieht: Alles tipptopp in Ordnung. Aufgeräumt, an der Grenze zum Spartanischen, alles hochmodern und chic, aber auch irgendwie unpersönlich. Wir haben früher nie bei Marlene gespielt, sondern draußen oder bei uns.«

»Seid ihr gute Freunde gewesen?«, fragte Annika.

»Ja, schon deshalb, weil wir dicht beieinander wohnten. Auf dem Gymnasium hat sich das irgendwie auseinanderentwickelt. Marlene war nie bei den Dingen dabei, die Spaß gemacht haben. Ich hatte sie mal gefragt, ob ihre Mutter was dagegen hat, denn dann hätte man ja Ausreden erfinden können, aber sie hat irgendwas von Kinderkram gesagt und von da ab ging’s noch weiter bergab mit dem, was mal eine echte Freundschaft war. Seit Ende der Schulzeit grüßen wir uns nett, reden mal kurz übers Wetter und das war’s.«

Mikkel sah sie fragend an. »Und was ist mit dem Vater?«

»Es hieß früher immer abwechselnd, dass er abgehauen oder gestorben wäre. Marlene hat nie drüber geredet – und Britt sowieso nicht.«

Obwohl er die Erklärung nicht kommentierte, hatte Rieke seine Überlegung erraten. »Du denkst an irgendeine Form von Trauma und hältst es für möglich, dass Marlene und ihre Mutter … Das ist nicht dein Ernst, oder? Wobei es ja auch irgendwie passen würde, aber was ist denn das mit der Rollerfahrerin?«

Die Antwort übernahm Annika: »Ein geschicktes Ablenkungsmanöver. Vielleicht hat ihr jemand gesteckt, dass sie beim Bäcker gesehen wurde. Oder es ist ihr selbst eingefallen.«

Rieke legte ihre Gabel zur Seite. »Ich weiß ja, dass es passen könnte. Das habe ich vorhin ja selbst gesagt, aber je länger ich darüber nachdenke, desto absurder erscheint mir der Gedanke.«

Mikkel verzog den Mund zu einem schiefen Grinsen. »Ich finde die Vorstellung ja auch gruselig – und das ist die nette Formulierung –, aber wenn wir rein die Fakten bewerten, kommt es infrage. Es wird wirklich Zeit, dass die Forensiker uns was liefern.«

Das Telefon auf einem der Schreibtische klingelte. Seufzend stand Sönke auf und ließ die Tür offen, sodass sie zuhören konnten. Viel sagte er nicht, doch er klang zufrieden und versprach, dass gleich jemand kommen würde.

Er kehrte gar nicht erst zu ihnen zurück, sondern zog seine Jacke über. »Hinter einem Strandkorb sind die Jungs von der Reinigungstruppe fündig geworden. Da hat jemand eine ganze Menge Zeug verbuddelt, unter anderem ’ne Decke und ’ne Flasche Sekt. Ich sehe es mir an und alarmiere die Kollegen aus Heide«, kündigte Sönke von der Tür aus an und verließ das Gebäude.

»Gut«, sagte Mikkel und blickte zur Wand. »Wir beginnen damit, die Liste abzuarbeiten. Wenn Sönke zurück ist, legen Tobi und Heiko los und reden noch mal mit den Gästen aus den anderen Strandkörben.«

 

***

 

Tjark wünschte sich, Udo würde endlich den Mund halten. Sie waren zwar keine engen Freunde, aber durchaus Kumpel. Wenn Udo die Arbeit über den Kopf wuchs, bat er Tjark um Hilfe. Gegen den Extraverdienst hatte Tjark nie etwas gehabt und er wusste das Entgegenkommen zu schätzen, dass Udo ohne große Nachfragen den Job bei Britt Rahlsen vorgezogen hatte. Leider brach nun die Neugier ungehindert durch und Tjark wünschte sich, er wäre mit seinem eigenen Wagen gefahren.

»Ich kann dir nichts darüber sagen«, beschied er Udo schließlich.

»Das bestätigt dann, dass du für die Polizei oder sogar einen Geheimdienst arbeitest! Weißt du eigentlich, was für Gerüchte über dich im Umlauf sind?«

Nun hatte Udo ihn endgültig aus seinen Grübeleien gerissen. »Hast du eben Geheimdienst gesagt?«

»Ich sage ja nur, was die Leute reden.«

Tjark konnte es nicht glauben. Seine Haupteinnahmequelle waren Trainingsszenarien, die er für die Bundeswehr ausarbeitete und durchführte, daneben kam mehr und mehr Geld für seine Bilder rein, die er als Fotograf machte. »Lass sie reden, das ist alles Dünnpfiff.«

»Und warum wolltest du dann unbedingt heute zu der Rahlsen? Das hat doch garantiert was mit den beiden Morden zu tun!«

Leider hatte es seinen Grund, warum Udo mit seiner Firma so erfolgreich war. Er war verdammt clever. »Hat es.«

»Ja und?«

»Mehr sage ich dir dazu nicht.«

Udo schnaubte. »Aber wenn es vorbei ist, will ich alles wissen. Einverstanden?«

»Jo.«

»Und du denkst noch mal drüber nach, ob wir nicht Partner werden wollen! Dein Kumpel, dieser Elektriker, ist ausdrücklich mit eingeladen. Ich habe mehr Aufträge, als ich schaffen kann, und es werden immer mehr.«

Tjark brummte unverbindlich, dabei hatte der Gedanke mittlerweile durchaus etwas Charme. Vielleicht sollte er das wirklich als permanentes zweites Standbein etablieren. Leider brachte ihm sein Job für die Bundeswehr deutlich mehr Spaß und Geld ein, doch dafür war damit auch eine erhebliche Unsicherheit über Folgeaufträge verbunden. Auch die Hilfe für Mikkel gefiel ihm besser als Schönheitsreparaturen in Ferienwohnungen, aber irgendwo musste das Geld ja herkommen, von dem er seine Familie ernähren wollte. Fabian, ein ehemaliger Kamerad, und seine Familie hatten sich bei ihren Besuchen in die Gegend verliebt und dachten über einen Umzug nach. Allerdings suchte Fabian noch nach einem sicheren Job in der Gegend. So lange beschränkten sie sich auf längere und kürzere Aufenthalte an der Nordsee und waren auch aktuell für ein paar Tage hier.

Tjark brummte lediglich ein weiteres Mal. Darüber konnte er später nachdenken und vielleicht mit Fabian darüber reden, erst einmal mussten sie einen Mörder oder wohl eher eine Mörderin finden und überführen. Seit Langem fühlte er wieder diese Spannung wie früher vor einem Einsatz. Dabei warteten hier keine Heckenschützen oder bewaffnete Banditen auf ihn. Er wollte sich lediglich einen eigenen Eindruck von einer Frau verschaffen, die niemand richtig einschätzen konnte. Anscheinend wurde er alt, wenn das schon reichte, um ihm einen Adrenalinschub zu verpassen. Andererseits durfte er nicht vergessen, dass es mittlerweile schon vier Todesfälle gab, er hatte nicht vor, das fünfte Opfer zu werden. Sicherheitshalber trug er unterm T-Shirt seine alte Dienstwaffe im Gürtelholster. Es gab eben Gewohnheiten, die legte man nicht so einfach ab, und wofür hatte er denn seinen Waffenschein?

Die Hausherrin empfing sie vor der Tür mit blauen Überziehern für ihre Schuhe. Udo konnte sich einen blöden Spruch nicht verkneifen, dass er die Größe auch für ein anderes Körperteil gut gebrauchen konnte. Tjark versetzte ihm einen Stoß mit dem Ellenbogen und bemühte sich um ein entschuldigendes Lächeln.

»Dann kommen Sie mal rein. Wir wohnen unten, oben sind die zwei Wohnungen. Der Wasserhahn tropft in der rechten. Die Tür ist angelehnt, das Badezimmer ist nicht zu übersehen. Die Gäste sind unterwegs.«

Windfang, Flur und Treppenbereich entsprachen dem, was Rieke erwähnt hatte: Alles penibel sauber und aufgeräumt. Dekoartikel, die aus einem Haus oder einer Wohnung erst ein Heim machten, gab es nicht.

Tjark und Udo stiefelten die Treppe hoch. Für den Austausch einer defekten Dichtung brauchte Udo keine zwei Minuten.

»Ich rede mal mit ihr.« Tjark tippte Udos Nummer in sein Handy ein, wählte sie aber noch nicht. »Wenn ich dich anrufe, lenk sie ab, beschäftige sie für ein paar Minuten.«

»Und wie?«

»Lass dir was einfallen.« Erstaunlicherweise wirkte Udo unsicher, fast ängstlich. »Wenn dir was komisch vorkommt, haust du ab.« Er zog sein T-Shirt hoch, sodass Udo die Waffe sehen konnte. »Dir wird nichts passieren.«

»Mensch, das ist ja mörderspannend. Wird erledigt. Nun fühle ich mich gleich besser, fast wie James Bond.«

Das kommentierte Tjark lieber nicht. Er ging ins Erdgeschoss und klingelte bei Rahlsen. »Die angefangene Stunde wird voll berechnet, aber wir haben noch Zeit.« Er hielt ihr die gebrochene Dichtung hin. »Die Wasserhähne sind bestimmt alle gleichzeitig eingebaut worden und werden nun nach und nach kaputtgehen. So eine Dichtung kostet Sie nur 50 Cent. Sollen wir uns mal alle vornehmen? Ich würde das bei Ihnen erledigen, Udo nimmt sich die Wohnungen oben vor.«

Er konnte förmlich sehen, wie sie rechnete. »Na dann, kommen Sie mal rein. Oben ist die andere Wohnung gerade nicht belegt und freizugänglich.« Sie musterte erst prüfend die Überzieher, ehe sie zur Seite trat.

Tjark wandte sich noch rasch der Treppe zu. »Udo! Kannst nebenan loslegen.«

 

Der Flur in der Wohnung war ebenso steril wie das Treppenhaus und der Eingangsbereich. Der graue Teppich hätte gut in eine Praxis oder ein Büro gepasst, die beiden Bilder waren Kunstdrucke von geometrischen Objekten in Schwarz, Weiß und Grau. Im Badezimmer setzte sich der Eindruck fort. Tjark fluchte innerlich, als die Frau im Türrahmen stehen blieb und jede seiner Bewegungen beobachtete. Unauffällig tastete er nach seinem Handy und rief Udo an. Wenig später klingelte es an der Haustür.

»Da muss ich wohl mal hin«, murmelte sie und ging.

Endlich! Tjark eilte zurück in den Flur, vergewisserte sich, dass sie ihn nicht sehen konnte, und öffnete die erste geschlossene Tür. Die Küche, perfekt aufgeräumt, ebenfalls in Grau und Weiß gehalten. Nichts lag herum, alles war perfekt geputzt. Das nächste Zimmer entpuppte sich als Wohnzimmer und wirkte, als ob sich noch nie jemand dort aufgehalten hätte. Im nächsten Raum traute er seinen Augen nicht. Was war das denn? Er holte sein Handy heraus und schoss eine Unmenge von Fotos. Er konnte es sich schließlich nicht erlauben, minutenlang bewegungslos auf den Anblick zu starren. Immerhin wusste er nun, dass hier irgendetwas nicht stimmte. Blieb noch die letzte Tür, vorsichtig öffnete er sie, während er angespannt lauschte. Udo und die Hausbesitzerin unterhielten sich, konnten aber jeden Moment fertig sein. Auch die Einrichtung dieses Zimmers passte nicht zum ersten Eindruck von der Wohnung und vor allem den Bewohnern. Er fotografierte auch diesen Raum und eilte zurück ins Badezimmer. Als Britt Rahlsen zurückkehrte, schraubte er gerade den Wasserhahn wieder an.

»Fertig«, erklärte er und verabschiedete sich, wobei er sie in einem völlig anderen Licht als zuvor sah. War sie die Killerin? Er wusste es nicht. Nur eins war klar: Das, was er gesehen hatte, konnte nicht normal sein, sondern deutete auf ernsthafte psychische Probleme hin. Doch reichten die aus, um zur Mörderin zu werden?

 

Tjark atmete draußen tief durch, ehe er in Udos Wagen einstieg, und dachte über das nach, was er gesehen und fotografiert hatte. Das Schlafzimmer wurde dominiert von einem rosafarbenen Himmelbett und Hunderten von Plüschtieren. Alles war voller Rüschen in Pink und Rosa. Selbst der Kleiderschrank glitzerte in der Farbe. Nahezu jede Ecke war vollgestellt gewesen. Das Zimmer, in dem Marlene wohnte, war eingerichtet wie für eine Vierzehnjährige. Maximal. Poster von Popstars und Pferden an den Wänden. Spielzeug lag herum. Das Bett war für eine erwachsene Frau viel zu klein.

»Und?«, fragte Udo.

»Alles komisch.«

»Und was?«

Udos Miene war eindeutig. Er hatte auf mehr Details gehofft, doch Tjark konnte seine Zweifel und Befürchtungen nicht in Worte fassen, ohne sich selbst lächerlich zu machen. Im Prinzip hatte er nur ein Gefühl, dass die Frau hochgradig gestört war.

»Schwer zu beschreiben. Jedenfalls Danke für deine Hilfe.«

»Dafür nicht. Aber denk dran, ich will dann bald wissen, was da los war.«

»Jo.«

»Und denk an unsere Partnerschaft.«

So ein Hausmeisterjob klang plötzlich doch ganz verführerisch. Die Unterstützung der Polizei war zwar näher an seinem alten Beruf dran, aber die menschlichen Abgründe, mit denen er dabei konfrontiert wurde, hatten es in sich.