Kapitel 15                         

Mikkel bremste Hedwig ab und musterte den Sand vor ihnen prüfend. Die Fahrzeuge, die dichter an die Bretterbude herangefahren waren, hatten im Gegensatz zu seiner alten Freundin Vierradantrieb. Ehe er sich festfuhr und zum Gespött der jungen Leute wurde, ging er lieber die letzten Meter zu Fuß.

»Weise Entscheidung«, kommentierte Rieke, als er Hedwig an den Rand der Düne lenkte und den Motor ausschaltete. »Es haben sich hier schon viele festgefahren.«

»Und warum hast du mich nicht gewarnt?«

»Du bist ja selbst drauf gekommen. Und sonst hätte sich einer der Jungs über dreißig Euro gefreut.« Sie deutete auf einen Trecker, der etwas verloren in einigem Abstand neben der Bude stand. »Das kostet es nämlich, wenn du dich rausziehen lassen musst.«

»Ich denke, ich hätte es umsonst bekommen, wenn ich die Jungs nach ihrem Gewerbeschein gefragt hätte.«

»Möglich. Vielleicht hätte aber auch dein Oldtimer das Schwimmen gelernt. Wenn die Flut kommt, zahlen viele freiwillig. Dann allerdings fünfzig Euro.«

Mikkel gab auf und stieg aus. Rieke folgte ihm. Obwohl sie sich abwandte, hatte er ihr breites Grinsen noch gesehen.

»Spielen wir guter Cop und böser Cop?«, fragte sie leise.

»Ja. Ich brauche ja nicht fragen, welche Rolle du für mich vorgesehen hast.«

»Nö. Mich kennen sie ja zumindest vom Sehen und wissen, dass ich nett bin.«

Die Bretterbude wirkte aus der Nähe überraschend stabil, doch das musste sie bei dem Wind, der hier oft wehte, wohl auch sein. Anscheinend waren überwiegend Paletten verbaut worden, die dem Ganzen einen rustikalen Charme verliehen. Zwei Dixiklos und zwei Solarduschen, die aus riesigen durchsichtigen Plastikbehältern gespeist wurden, waren dann wohl die sanitären Anlagen. Auf einer Tafel, die an der Außenwand hing, waren Getränkepreise notiert, die sehr moderat waren. Der Snack des Tages war bereits durchgestrichen. Viel interessanter fand Mikkel den hellgrünen Motorroller, den er jetzt entdeckte. Genau dieses Gefährt wollte Frau Rahlsen vor der Bäckerei gesehen haben, denn das Nummernschild stimmte schon mal.

An der Vorderseite der Bude gab es eine zweiteilige Tür, die man komplett zur Seite klappen konnte, sodass das Gebäude eher wie ein Unterstand wirkte. Rechts war eine große Fläche, auf der Boards und Segel in allen möglichen Größen in Ständern aufbewahrt wurden, links befanden sich ein selbst gebauter Tresen und ein riesiger Kühlschrank. Getränkekisten und leere Fässer dienten als Sitzgelegenheiten. Ein Generator brummte und versorgte die elektrischen Geräte.

Rieke und Mikkel hatten den Bereich für sich alleine. Eine Clique junger Menschen hielt sich jedoch in einiger Entfernung an der Wasserlinie auf und stand um ein Board herum. Er zählte drei Frauen und zwei Männer, von denen er lediglich Annika kannte. Die Blonde mit dem Zopf konnte Ellie Brenningen, die Fahrerin der Vespa sein.

Langsam gingen sie auf die Gruppe zu. Nach wenigen Metern sahen sie ihnen bereits entgegen, jedoch eindeutig nicht begeistert.

»Willst du sie nacheinander alleine befragen?«, erkundigte sich Rieke leise.

»Mal sehen, was sich ergibt.«

Als er die Leute erreicht hatte, stellte er als Erstes fest, dass er sich mit dem Alter erheblich getäuscht hatte. Er hatte auf junge Menschen, die maximal Anfang zwanzig waren, getippt. Doch die Männer waren – wie Annika – bereits eher Anfang dreißig.

»Moin, ich bin Mikkel Tvorsen von der Polizei Büsum, meine Kollegin Rieke kennt ihr ja vermutlich. Wir haben ein paar Fragen zu Eric. Dabei geht’s ausschließlich darum, seinen Mörder zu finden. Kleinkram wie ein bisschen Marihuana oder ein abgelaufenes Nummernschild interessiert uns nicht. Können wir miteinander reden?«

Die Blicke wurden minimal wärmer. Schließlich war es Annika, die das Schweigen brach. »Ich will auch wissen, wer Eric umgebracht hat und dass derjenige bestraft wird.« Sie wartete, bis zustimmendes Gemurmel erklang. »Was wollt ihr denn wissen?«

Mikkel verzog den Mund zu einem schiefen Grinsen. »Eigentlich alles. Mit wem er sich getroffen hat, wen er mochte, wen er nicht mochte, mit wem er Streit hatte. Wir wissen noch nicht, was uns letztlich den entscheidenden Hinweis gibt. Darum erst einmal wirklich alles. Können wir bei einer Runde Cola darüber reden?«

Ellie trat gegen das Board. Tränen schimmerten in ihren Augen. »Ja.«

Einer der Männer öffnete den Mund und es wirkte, als ob er protestieren wollte, doch Ellie bedachte ihn mit einem mörderischen Blick. »Wir haben doch eben sowieso schon über das Thema geredet und die Polizei hat halt andere Möglichkeiten. Ich will wissen, warum er sterben musste und wer das war. Es ergibt doch alles keinen Sinn.«

Sie stapfte davon. 

Wenige Minuten später hatte Mikkel den Surfern wie versprochen eine Runde Cola spendiert und sie saßen im Schatten auf den Kisten.

»Also schießt los. Was könnt ihr mir sagen?«

Ausgerechnet Annika widersprach ihm. »Andersherum wäre es mir lieber. Was könnt ihr uns über die Umstände sagen? Vielleicht wären wir dann schneller.«

Das gefiel ihm zwar nicht, aber er ging davon aus, dass sie einen guten Grund für ihr Vorgehen hatte.

»Na gut, aber ich will davon kein Wort in der Presse oder im Internet lesen. Eric hatte eine romantische Verabredung in einem der Schlafstrandkörbe. Es kann gut sein, dass der oder die, mit der er sich verabredet hatte, ihn umgebracht hat. Es soll um jemanden gehen, der ihm sehr am Herzen lag. Er soll auf diese Verabredung hingefiebert haben.« Mikkel sah bei seinen Worten Ellie direkt an, die prompt seinem Blick auswich. »Und dann haben wir noch die Beschreibung einer älteren Dame, die am nächsten Tag aus seiner Wohnung gekommen sein soll, und natürlich den Mord an der Bäckereiverkäuferin.«

Ellie kniff die Augen zusammen. »Das war doch direkt gegenüber von seiner Wohnung, oder?«

Mikkel nickte. »Verratet ihr mir dann zunächst mal eure Namen? Ob wir hinterher noch ein formelles Protokoll aufnehmen müssen, entscheiden wir später.«

Die Surfer beschränkten sich auf die Vornamen. Die dritte Frau neben Ellie und Annika hieß Levke, der Mann mit den ausgeprägten Geheimratsecken Matze und der letzte Olav. Sämtliche Namen kannte Mikkel, denn sie standen als Freunde von Eric an der Wand im Revier.

»Also, das war auf jeden Fall eine Frau, denn auf Männer stand er nicht«, stellte Olav klar und pustete sich eine blonde Haarsträhne aus dem Gesicht.

Levke nickte. »Und das war auch keine ältere Frau, sondern sein Alter, vielleicht bis zu plus zehn Jahren. Und kommen Sie nun nicht mit dieser Tante aus dem Hotel. Das war ein Job, mehr nicht.«

»Könnte sie es gewesen sein?«, fragte Ellie mit leicht zitternder Stimme. »Vielleicht wollte sie mehr?«

Mikkel schüttelte den Kopf. »Nein.« Er verzichtete auf eine Begründung.

Matze ließ die Fingerspitzen aufeinanderprallen. »Es gab da jemanden. Irgendeine alte Flamme. Leider hat er mir nicht gesagt, um wen es ging, aber es hatte ihn ganz schön erwischt. Hey, alleine die Sache mit dem Strandkorb. Die wäre ihm sonst viel zu peinlich gewesen.«

»Gibt es noch mehr Surfer, mit denen Eric sich getroffen hat?«

Dieses Mal nickte Olav. »Klar. Der Mann von Annika ist manchmal dabei. Marlie, aber die nur selten. Tini in den Semesterferien.« Er nickte Rieke zu. »Rieke ist noch seltener auch mal dabei.«

»Marlie?«, hakte Rieke nach. »Meinst du Marlene Rahlsen?«

»Ja, genau.« Olav hob abwehrend die Hände. »Ich weiß, dass sie den Namen hasst. Aber ich kann nicht anders, schließlich kenne ich sie schon seit der Grundschule.«

»Ich weiß. Ich wundere mich nur, dass sie surft. Ich bin ihr hier nie begegnet.«

»Oft ist sie ja auch nicht da und wenn, dann sitzt sie im Sand und guckt zu. Auf einem Brett habe ich sie schon seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen, wobei …« Olav nestelte an dem Band seiner Shorts. »Jetzt, wo du es sagst. Ich meine, Eric hatte mal erwähnt, dass er mit ihr loswollte, um irgendwo anders zu surfen. Ich habe noch gesagt, dass das doch Blödsinn ist, wenn man hier das beste Revier vor der Nase hat. Und niemand hätte sie verarscht, wenn sie sich am Anfang einmal mehr abgepackt hätte.«

Ellie hob das Kinn höher. »Eric und Marlie hatten mal was. Das war lange vor uns. Ihn hatte das Ende ganz schön verletzt, aber er war drüber hinweg und ging ganz normal mit ihr um.«

Rieke sah sie an. »Und wann seid ihr zusammen gewesen?«

Nun flossen die Tränen. »Bis vor zwei Monaten. Und ich war noch nicht drüber hinweg.«

Annika legte ihr tröstend einen Arm um die Schulter.

Rieke wechselte zunächst das Thema und stellte gezielte Fragen über Eric. Doch niemandem fiel jemand ein, mit dem Eric Streit gehabt hatte. Sie drehten sich im Kreis und kamen immer wieder auf die Surfer-Clique, ein paar Urlauber, denen er Surfstunden gegeben hatte, und Frau von Wotersen, für die er gearbeitet hatte.

Mikkel und Rieke wechselten einen Blick. Er signalisierte ihr, zu übernehmen. Es war Zeit für die letzte und entscheidende Frage. »Ellie, es tut mir leid, aber ich muss dich das fragen. Bist du gestern zur Tatzeit an der Bäckerei gewesen?«

Ellie schüttelte den Kopf. »Ich war da gestern gar nicht. Um welche Uhrzeit geht’s denn?«

Rieke deutete auf den Roller. »Fährst nur du den?«

»Ja klar. Wenn er denn mal fährt. Gestern stand er bis zum Abend zu Hause. Da kam Olav vorbei und hat … Was hast du noch mal gemacht?«

»Neue Zündkerzen eingebaut. Das Ding ist den ganzen Tag nicht bewegt worden.«

»Würden Sie das zu Protokoll geben?«, hakte Mikkel erstmals formell nach.

»Ja klar. Ellie hatte die Vespa doch vorgestern das letzte Stück geschoben. Da ging nichts mehr. Ich habe die Kerzen ausgebaut und gestern welche in Heide gekauft, die gibt’s hier nicht an jeder Ecke. Sorry, wenn ich das so sage, aber selbst, wenn Ellie noch welche zu Hause gehabt hätte, hätte sie die nie richtig angeschlossen bekommen. Der Motor ist nicht so ihr Ding.« Er runzelte die Stirn. »Das klingt ja, als ob jemand Ellie gesehen haben will.«

Mikkel ging nicht direkt drauf ein, sondern wandte sich wieder an Ellie. »Wo waren Sie denn gestern Mittag?«

»Zu Hause. Ich arbeite von zu Hause aus. Ich programmiere oder repariere Apps.«

»Dann gibt’s wohl keine Zeugen?«, überlegte Mikkel.

»Doch, gibt es. Ich hatte von ungefähr um zwölf bis nach zwei eine Videokonferenz. Zählt das?«

»Aber natürlich«, erwiderte Rieke, ehe Mikkel antworten konnte.

So einfach, wie Rieke tat, war es zwar nicht, denn sie würden die Aussage natürlich noch überprüfen, dennoch glaubte Mikkel nicht daran, dass Ellie etwas mit dem Mord an Eric zu tun hatte. Aber er konnte sich auch irren.

»Können Sie mir die Namen der anderen Teilnehmer an der Videokonferenz nennen? Dann bekommen wir das schnell geklärt.«

Ellie atmete tief durch. »Na prima. Mein Verlag wird begeistert sein, von der Polizei befragt zu werden.«

»Ich stelle es als reine Routine dar«, versprach Mikkel, der ihre Reaktion verstehen konnte. Außerdem verfestigte sich seine Meinung. So benahm sich niemand, der schuldig war. Der wäre bestrebt, ein Alibi zu präsentieren. Er reichte ihr seine Karte. »Mailen Sie mir bitte die Kontaktdaten der Teilnehmer.«

»Mach ich«, erwiderte Ellie mit einem tiefen Seufzen. Dann runzelte sie die Stirn. »Sekunde mal, ich verstehe das jetzt erst. Hat jemand behauptet, ich hätte …« Weitere Tränen flossen, als sie die Hand vor den Mund schlug.

Annika sah Mikkel fest an. »Das reicht denn jetzt auch erst einmal«, fuhr sie ihn an. »Komm, wir gehen ein Stück.«

Schweigend sah Mikkel ihnen nach. Immerhin hatte Annika nun einige Punkte, an denen sie nachhaken konnte. Er fragte sich nur, wie sie damit umgehen wollte, wenn herauskam, dass sie zusammenarbeiteten.