Annika überlegte, wie sie das Gespräch am besten begann. Es widerstrebte ihr, Ellie gegenüber mit gezinkten Karten zu spielen, doch sie musste extrem vorsichtig agieren. Ein falsches Wort und sie riskierte, dass ihre Begleiterin komplett dichtmachte. Ellie lief mal in schnellem Tempo am Strand entlang, dann stand sie wieder reglos im Sand und starrte aufs Wasser. Wenn sie so weitermachte, landeten sie erst in Niedersachsen und dann in den Niederlanden.
»So, es reicht. Wir müssen den ganzen Weg schließlich auch noch zurück«, beschied Annika ihr und fasste nach ihrem Arm. Sie hatte sich bei ihrem eiligen Aufbruch zwei Colaflaschen gegriffen und in ihrem Rucksack verstaut. Immerhin blieb Ellie stehen. »Komm, wir setzen uns einen Augenblick. Ich muss dir was beichten«, bat Annika und hatte sich damit zumindest erst einmal Ellies Aufmerksamkeit gesichert.
»Wieso beichten?«, fragte Ellie, nachdem sie sich neben Annika in den Sand gesetzt hatte.
»Ehe ich an die Nordsee gekommen bin und Jakob kennengelernt habe, war ich bei der Polizei. Darum würde ich dir erst einmal gerne erzählen, was sich hinter den Fragen von Mikkel verbirgt. Und danach will ich von dir alles wissen, was ihm helfen kann, Erics Mörder zu finden.« Sie zuckte mit der Schulter und holte die Colaflaschen aus dem Rucksack. »So ganz kann ich offenbar nicht aus meiner Haut, denn ich will, dass der Mörder gefasst wird. Aber ich denke, das willst du auch. Du hast ihn doch noch geliebt. Oder?«
Das »Ja« war kaum hörbar. »Du kennst ihn?«, fuhr Ellie sie dann an. »Also den Polizisten? Mikkel?«
»Ja, er hat die Ferienwohnung bei Tjark gemietet.« Das war nicht gelogen, allerdings auch nicht die ganze Wahrheit.
»Er wohnt bei Tjark?«
»Jo.«
»Das heißt dann wohl, dass er in Ordnung ist. Sonst hätte Tjark ihm die nie überlassen. Es war ja schon der Running Gag, wie viele er weggeschickt hat.«
»Stimmt. Und dass Mikkel zu uns raus gekommen ist, war auch mehr als in Ordnung. Eigentlich hätte er dich vorladen müssen, denn irgendjemand hat dich da ganz ordentlich in die Pfanne gehauen.«
Die Tränen waren verschwunden und hatten nur noch einen feuchten Schimmer hinterlassen. Ellie sah sie zunächst mit gerunzelter Stirn an, dann hoch konzentriert. »Jetzt kapiere ich das erst. Jemand hat behauptet, meine Vespa zur Tatzeit am Tatort gesehen zu haben. Richtig?«
»Yep. So klang es bei Mikkel, das war das, was ich dir verklickern wollte. Aber der- oder diejenige wusste nicht, dass dein Schrotthaufen mal wieder gar nicht fährt.«
Ellie sah sie nun fest an. »Jemand wie Marlene, die nur so selten bei uns ist, dass sie vieles gar nicht mitbekommt.«
»Ganz genau. Und nun erzähl. Ich will alles wissen, was du weißt. Über Eric, seine letzten Tage und vor allem seine On-off-Beziehung zu Marlene.«
Ellie schluckte. »Das trifft es ganz gut. Ich glaube, er ist nie über die Trennung hinweggekommen und ich war nur ein Lückenbüßer. Eric war … Na ja, du kennst … kanntest ihn ja. Immer gut gelaunt, immer für einen Spruch gut. Er hat mir immer das Gefühl gegeben, etwas Besonderes zu sein. Wenn er dir seine Aufmerksamkeit zugewendet hat, dann war es … als ob das Licht in einem dunklen Raum angeht. Mir war aber immer klar, dass das nicht von Dauer ist. Erst habe ich gedacht, es liegt einfach an ihm, an einer gewissen Flatterhaftigkeit, aber das war’s nicht. Er hat immer mal wieder auf sein Handy geguckt und heimlich Nachrichten verschickt. Und ich habe richtig gemerkt, wie sich da was entwickelt hat. Er war fair und hat mir das offen gesagt. Allerdings hat er keinen Namen genannt, sondern nur von einem alten Funken gesprochen, der plötzlich wieder brennt. Ich denke, das war Marlene.«
»Meinst du, so etwas wie ein romantischer Abend im Schlafstrandkorb würde zu Eric und Marlene passen?«
»Definitiv! Für ihn wäre das viel zu spießig und blöd gewesen, aber für sie hätte er das gemacht. Aber wieso sollte sie ihn umbringen? Und die Verkäuferin? Und dann auch noch den Verdacht auf mich lenken? Das ist doch irre!«
»Das trifft es ganz gut. Aber was die letzten beiden Dinge angeht, so glaube ich, dass da eine ältere Frau im Fokus steht.«
Wie erstarrt sah Ellie sie an, es dauerte einige Zeit, bis sie wieder sprach. »Du meinst, es war gar nicht Marlene? Aber wer denn dann?«
»Tja, wenn ich das wüsste. Fällt dir eine Frau ein, so zwischen vierzig und sechzig, die mit Eric in Verbindung stand? Etwas mollig, elegant gekleidet?«
»Na, das ist ja mal eine Beschreibung … Nur die Frau aus dem Hotel, aber die war nicht mollig.«
»Du kennst sie?«
»Ja, ich bin ihnen mal am Strand begegnet. Sie schien nett zu sein – und in Eric verliebt. Aber für ihn war’s nur ein Geschäft. Das klingt nun oberflächlich, aber das war er auch irgendwie. Nun ja, bis auf seine alte Flamme. Kennst du diesen Song von Revolverheld ›Ich lass für dich das Licht an‹?« Annika überlegt kurz und nickte dann. »Ich war für Eric nicht diejenige, für die er solche Kompromisse gemacht hätte, aber ich denke, Marlene war es für ihn. Für sie hätte er sich verbogen. Und ich bin absolut sicher, dass es ihretwegen nichts mit uns geworden ist, weil er immer noch an ihr hing. Aber wenn du mich fragst, ob ich mir vorstellen könnte, dass sie ihn umgebracht hat, muss ich das vehement verneinen. Never. Niemals.«
Ellie schlug mit der flachen Hand auf den Sand, als ob sie die Schlussfolgerung verstärken wollte.
Annika nickte und ließ Sand durch ihre Handfläche rieseln. »Da gebe ich dir recht. Ich sehe auch noch kein stimmiges Bild, aber trotzdem sind deine Informationen sehr hilfreich.«
Ellie sah in die Ferne, dann hoben sich ihre Mundwinkel. »Es ist wie bei meinen Programmen. Am Anfang sucht man nur nach Informationen über die Fehler, um am Ende dann die Lösung zu finden. Oder aber man bekommt eine Liste mit Anforderungen, die man dann mit dem Programm abdecken muss. Ich bin es durch meinen Job gewohnt, absolut logisch zu denken.« Sie lachte, doch es klang wie ein Schluchzen. »Eric hat mir mal vorgeworfen, die Welt nur in Nullen und Einsen zu sehen. So ganz verkehrt lag er mit dem Vorwurf nicht. Aber ich verstehe nichts mehr. Wie hängt das alles zusammen?«
»Ich weiß es nicht. Doch ich hoffe, unser Gespräch hilft Mikkel ein wenig.«
Ellie atmete tief durch. »Immerhin bin ich wegen der Zickereien meiner Vespa nicht dringend tatverdächtig. So nennt ihr das doch, oder?«
»Jo, das ist der Fachterminus. Da hast du wirklich Glück gehabt. Trotzdem wüsste ich zu gerne, warum dich jemand der Polizei als Tatverdächtige präsentiert hat.«
»Weißt du, wer das war?«
»Ich werde heute Abend Mikkel ausquetschen. Wir reden morgen noch mal.« Damit war sie einer direkten Antwort ausgewichen, während sich ihre Gedanken überschlugen. Wie passte Marlenes Mutter ins Bild? Es passte einfach nichts zusammen. Die Vorstellung, dass Marlene Eric in den Strandkorb gelockt und ihre Mutter ihn dort erstochen hatte, lag zwar nahe, war jedoch abstrus. Wo sollte da ein Motiv sein? Dass dies die zentrale Frage war, lernte jeder Polizeischüler als Erstes.
»Ich bin gespannt.«
»Ich auch. Und ich habe eine Bitte.«
»Was denn?«
Ernst sah Annika sie an. »Ich möchte nicht, dass du heute Nacht alleine bist. Alles wirkt auf mich so merkwürdig, dass es mir keine Ruhe lässt. Und der Mord an der Verkäuferin macht mir zusätzlich Angst. Hast du jemand, der bei dir schlafen kann? Sonst komm mit zu uns.«
Wieder schwieg Ellie einige Zeit, dann nickte sie langsam. »Ich verstehe, was du meinst. Ich frage Olav. Wenn er nicht kann, dann komme ich auf dein Angebot zurück.«