Als Konrad zurückkehrte, hatte Rieke sämtliche neuen Informationen überflogen und konnte ihr Staunen nicht verbergen. Sowohl Annika als auch Tjark hatten kurz und knapp festgehalten, was sie erfahren hatten oder was passiert war. Mikkel hatte lediglich die Namen der Personen notiert, mit denen er geredet hatte. Wie sie selbst hatte er keinen Erfolg gehabt, aber auch solche Routinetätigkeiten gehörten nun mal zu ihrem Job und immerhin hatte Tobi eine Zeugin gefunden. Außerdem hatte Heiko in der Nähe von Erics Wohnung dessen Bus gefunden. Der Camper war bereits von den Kollegen in Heide abgeschleppt und geöffnet worden. Doch die Kollegen hatten keine verwertbaren Spuren entdeckt. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass bereits so viel passiert oder eher unternommen worden war.
Rieke prostete Konrad zu und fasste für ihn alles, was sie bisher wussten, so knapp wie möglich zusammen. Je mehr sie erzählte, desto fassungsloser wurde seine Miene. Als sie bei dem Angriff mit dem Motorrad auf Frau von Wotersen angelangt war, schüttelte er den Kopf.
»Die kleine Marlene«, wiederholte Konrad nachdenklich, als Rieke schließlich fertig war. »Na, das ist ja was. Kaum bin ich weg …« Er zuckte mit der Schulter und grinste, doch Rieke kannte ihn zu gut. Es schmerzte ihn, dass ausgerechnet so kurz nach seiner offiziellen Pensionierung ein derart großer Fall in ihrer Zuständigkeit landete.
»Weißt du denn was über Marlene und ihre Mutter? Irgendeinen Klatsch oder so? Ich kann das alles so gar nicht richtig einordnen. Wir haben zwar ganz allmählich ein Bild von dem Abend, aber weder Motiv noch echte Indizien.«
Konrad schwieg geraume Zeit und fummelte am Etikett der Bierflasche herum. »Die Britt ist schon manchmal so’n bisschen komisch. Die meisten haben’s darauf geschoben, dass ihr Macker abgehauen ist und sie mit der Lütten alleine gelassen hat.«
»Macker?«, wiederholte Rieke das ungewohnte Wort.
»Jo. Niemand wusste so recht, ob sie nun verheiratet war oder eine Affäre hatte. Nicht mal der Dorfklatsch hat das jemals rausgefunden. Leicht hatte sie es ja nicht gerade, aber sie hat sich gut behauptet. Die Kleine war immer ordentlich gekleidet, sehr wohlerzogen und es hat ihr an nichts gemangelt. Für meinen Geschmack hat Britt die Zügel oft zu eng angezogen, aber das ist vielleicht so, wenn der Mann im Haus fehlt. Weißt du denn noch, wieso eure Freundschaft abgekühlt ist?«
»Nur, dass Marlene plötzlich andere Interessen hatte und alles doof fand, was ich mochte.«
»Nun, das passt auch auf Britt. Sie hat ihre Nase schon sehr hoch getragen und so manchem hat sie das Gefühl gegeben, dass sie was Besseres wäre und der andere unter ihrer Würde. Aber das ist nur so’n Gesabbel. Ich bin mit ihr immer ausgekommen.«
»Du hattest ja auch einen respektablen Beruf und niemand möchte es sich mit einem Polizisten verderben. Könntest du dir vorstellen, dass sie oder ihre Tochter oder beide zusammen erst Eric und dann die arme Verkäuferin umgebracht haben?«
»Nee.«
Eine Zeit lang schwiegen sie beide. Rieke hätte jede Wette gehalten, dass Konrad sämtliche Fakten im Kopf hin- und her wälzte.
Schließlich seufzte er. »Ich höre mich mal um, was man so über die beiden erzählt.«
»Aber pass gut auf dich auf!«
Empört sah er sie an. »Erlaube mal, ich war schon Polizist, als du noch mit deinem Rutscheauto gespielt hast!«
»Es heißt Bobbycar, und du hattest es in deiner ganzen Laufbahn nicht mit einem Serienkiller zu tun!«
Das wirkte. Konrad lehnte sich nachdenklich zurück. »Es muss doch herauszufinden sein, ob Marlene oder Britt zu den Tatzeiten der anderen Morde auf Sylt oder Fehmarn gewesen sind.«
Rieke nickte. »Das habe ich mir auch überlegt. Aber noch mal: keine gefährlichen Alleingänge!«
Konrad sah sie ruhig an. »Übertreib es mal nicht, denn soweit ich weiß, fehlt dir auch jede Erfahrung mit solchen Kapitalverbrechen.«
Mühelos hörte sie aus der Feststellung das raus, was er nicht ansprach. »Und mein neuer Chef hat sie?«
Konrad verzog den Mund. »Ich denke schon. Viel habe ich nicht über ihn rausgefunden, aber ich habe den Verdacht, dass er bei den oberen Chargen einen Stein im Brett hat.«
»Das hat er definitiv.« Rieke tippte auf das Notebook. »Innerhalb eines Tages sind drei Stück davon eingetroffen und innerhalb weniger Stunden haben wir einen hochmodernen Besprechungsraum hingestellt bekommen.«
Konrad pfiff leise. »Und wie geht’s dir mit ihm?«
»Weiß ich noch nicht. Er bringt frischen Wind rein, alle sind hoch motiviert, aber …« Sie hob die Hände und ließ sie wieder fallen. »Ich weiß es wirklich nicht«, wiederholte sie.
Lächelnd prostete er ihr zu. »Ich kann mir gut vorstellen, dass du diesen frischen Wind gerne reingebracht hättest, aber mal ehrlich: Hättest du das getan?«
Ein lautes Motorengeräusch ersparte ihr die Antwort. Zunächst dachte sie an einen der Gäste, der zurückkehrte, dann knallte etwas dumpf.
Sie sprang auf und rannte ums Haus herum zum Parkplatz. Eine Geländemaschine jagte die Straße entlang. Spontan wollte Rieke dem Motorrad folgen, aber da bog der Fahrer bereits auf einen Acker ab und entfernte sich querfeldein. Damit hatte sie ohne Luftunterstützung keine Chance, ihn oder sie einzuholen.
Neben ihr pfiff Konrad laut. »Schöne Schweinerei.«
Sie folgte seinem Blick und fluchte. Ein schwerer Stein hatte die Scheibe in der Haustür zerstört.
Natürlich kamen nun auch noch die Feriengäste aus den Wohnungen und sahen sich neugierig um.
Rieke bemühte sich um ein entschuldigendes Lächeln. »Beim Einfahren ist ein Stein hochgewirbelt worden und hat die Scheibe getroffen. Keine große Sache. Tut mir leid, dass es so laut geworden ist.«
Konrad nickte ihr anerkennend zu. »Ich hole mal ein Stück Holz. Morgen reparieren wir es dann ordentlich.« Unschlüssig nickte Rieke. Konrad zwinkerte ihr zu. »Vielleicht spendierst du deinen Gästen auf den Schreck einen von Marthas Apfelschnäpsen. Ich würde auch einen nehmen.«
Rieke atmete tief durch. »Klar, lieben Dank!«
Ein junger Mann half Konrad beim Befestigen einer Spanplatte, während Rieke sich mit seiner Frau und der zweiten Familie unterhielt. Als Martha, ihre Mutter, eintraf, war Konrad gerade fertig. Ihre Mutter kommentierte die Erklärung mit einem leisen Ausruf und eilte in die Küche, um Kekse und Pizzastangen zu holen und die Gäste in den Garten zu scheuchen. Wenig später wurden noch Stühle und Tische herbeigeschafft und es entwickelte sich ein spontanes, improvisiertes Abendessen, zu dem jeder etwas beisteuerte. Wieder einmal beobachtete Rieke, dass Konrad und ihre Mutter sich verstohlene Blicke zuwarfen. Ob sie es noch erleben würde, dass die beiden sich endlich ihre gegenseitige Zuneigung eingestanden? Als ihr Blick zufällig aufs Notebook fiel, das ihre Mutter mit einer hochgezogenen Augenbraue auf dem ausgetrockneten Vogelbad abgestellt hatte, entschuldigte sie sich kurz.
In der Küche fügte sie einen kurzen Bericht über die zerstörte Haustür zur Fallakte hinzu.
Kaum war sie wieder draußen, vibrierte ihr Handy. »Bist du in Ordnung?«, erkundigte sich Mikkel per WhatsApp.
»Ja klar. Nur sauer, dass ich keine Chance hatte, den Fahrer einzuholen.«
»Verstehe ich. Wenn was ist, egal was und wie spät, melde dich. Und geh keine Risiken ein. Mir gefällt das nicht.«
»Mir auch nicht. Pass selbst auch auf.«
»Ich glaube nicht, dass jemand weiß, wo ich wohne.«
Das »im Gegensatz zu dir« musste er nicht schreiben. »Verstanden. Dann ist Tjarks Haustür ja sicher. Bis morgen.«
Der lachende Smiley, den sie noch bekam, gefiel ihr. Irgendwie hatte ihr Chef was – trotzdem nervte er manchmal und sie hätte zu gerne die Ermittlungen geleitet, selbst wenn er tatsächlich kompetenter sein sollte.