Kapitel 22                         

Die Diskussion, die am frühen Morgen im Besprechungsraum zwischen Mikkel, Rieke, den anderen Polizisten sowie Tjark und Annika entbrannte, grenzte an einem Streit. Im Prinzip gab es zwei Lager: Einmal die, die Mikkels Linie unterstützten, und sich auf die Vernehmung von Britt konzentrieren wollten, und einmal diejenigen, die den Fokus auf Marlene setzen wollten. Sämtliche polizeiliche Regeln gaben ihnen recht, dass die Tochter als tatverdächtig in Bezug auf Eric galt und natürlich waren da noch die Angriffe mit dem Motorrad, die sie ihr jedoch nicht nachweisen konnten.

Schließlich reichte es Mikkel und er klatschte laut in die Hände. Offenbar wurde das als Beifall und nicht als Bitte um Ruhe aufgefasst. Tjark grinste und pfiff schrill. Das hatte Erfolg.

»Ihr habt alle recht!«, begann Mikkel.

»Und ich weiß, wie wir beides kombinieren«, unterbrach Rieke ihn. »Du nimmst dir Britt Rahlsen vor und lässt durchschimmern, dass sie nur gelogen hat, um ihre Tochter zu schützen, was aber umsonst war, weil wir nun Marlene verdächtigen.«

Schweigen breitete sich aus.

Annika nickte erst langsam, dann heftiger. »Sehr guter Ansatz. Wenn wir uns auf die Fakten konzentrieren, ist es doch so, dass wir wissen, dass Britt Rahlsen zur Tatzeit am Tatort war. Ich meine jetzt die Bäckerei. Das ist doch viel konkreter als die Aussage, dass Eric und Marlene in die Kiste, ähm, den Strandkorb gesprungen sind. Laut Obduktionsbefund war die Tatzeit viel später. Ob Marlene dann noch da war, wissen wir ja nicht.«

Sönke, der sich bisher eher auf Marlene eingeschossen hatte, fluchte leise. »Das stimmt, Annika. So habe ich das noch gar nicht gesehen. Dann machen wir es so, wie Mikkel es vorhatte, allerdings mit der netten Ergänzung, die Rieke ins Spiel gebracht hat.«

»Jo«, stimmte Tjark zu und sah Mikkel fragend an.

Sichtlich unsicher blickten nun auch Tobi, Heiko und Sönke ihn an, nur Rieke sah betont auf den Fußboden.

Mikkel prostete den Polizisten zu. »Deshalb schätze ich bei solchen Ermittlungen eine echte Teamarbeit. Nur gemeinsam kommt man ans Ziel. Eure Impulse waren sehr wertvoll. Genau so machen wir es. Dann legen wir jetzt mal los. Und bitte überlegt noch mal, wie wir auf Verbindungen nach Fehmarn oder Sylt stoßen können. Und wie wir eine Verbindung zwischen Marlene und dem Motorrad herstellen können.«

Heiko reckte sich. »Es ist zwar ein Scheißjob, aber ich fordere mal sämtliche Owis und Bußgelder von den beiden Inseln an. Vielleicht plus eine Woche vor und nach den Taten. Ist zwar vage, aber wer weiß … So’n Parkticket ist schon manchem zum Verhängnis geworden.«

Annika verdrehte die Augen. »Ist das immer noch nicht vernetzt und digitalisiert? Da war man schon dran, als ich noch beim BKA war. Saftladen! Aber verdammt gute Idee.«

Heiko schmunzelte und nickte.

Tobi sah aus dem Fenster und seufzte. »Die alte Frau Landruh ist auf dem Weg. Ich öffne dann mal unser betreutes Nachbarschaftshilfemodell.« Er nickte Heiko zu. »Ich glaube nicht, dass heute übermäßig viel los ist. Ich kann dir helfen«, bot er noch an, ehe er den Raum verließ.

Sönke gähnte. »Ich denke, es reicht, wenn ich zwei, drei Runden durch die Gemeinde fahre. Was soll schon groß sein? Ich verteile ein paar Ermahnungen oder alarmiere, wenn’s ganz schlimm ist, den Abschleppdienst und komme dann auch zurück.«

Rieke stand ebenfalls auf. »Jo, die Sache mit den Feuerwehrzufahrten müssen wir trotz der Morde noch im Auge behalten. Nicht auszudenken, wenn da was passiert.«

Schuldbewusst dachte Mikkel an die Routinetätigkeiten, die er aus dem Blick verloren hatte. Sofort kam ihm ein anderer Gedanke. »Über die Überstunden, weil ihr ja teilweise Doppelschichten schiebt, reden wir natürlich noch.«

Sönke winkte ab. »Machen wir im Winter klar, Chef. Nun müssen wir erst mal ’nen Mörder fangen.«

Mikkel trank seinen Kaffee aus und erhob sich. »Es ist beeindruckend, wie ihr den Laden im Griff habt. Kompliment.«

Rieke grinste spöttisch. »Tja, da fragt man sich, ob man überhaupt einen Vorgesetzten braucht.«

Sönke rollte mit den Augen und legte Rieke einen Arm um die Schultern. »Für den Kleinkram nicht, aber für die großen Fische, nach denen wir neuerdings die Angel auswerfen, ist Mikkel unverzichtbar.«

Die Botschaft kam bei Rieke an. »Sorry, war nicht so gemeint, war ’ne kurze Nacht. Ich habe immer wieder überlegt, ob wir etwas übersehen.«

Einladend deutete Mikkel auf einen der Stühle. »Dann geh noch mal alles in Ruhe durch. Angefangen von dem merkwürdigen Gefühl, das du beim Treffen mit Marlene im Hotel hattest.«

»Stimmt. Das hatte ich ja ganz vergessen.«

Er sah Rieke die Verärgerung deutlich an, verzichtete aber darauf, nachzulegen, obwohl er sie schon vor Ort extra darauf hingewiesen hatte, sich dies zu merken und zu notieren. »Nimm dir die Zeit. Und überleg, warum sie dir eine Mitschuld an Erics Tod geben könnte. Geh dabei zurück bis in eure Kindheit. Vielleicht fällt dir da noch was ein.«

Tjark brummte zustimmend. »Und vergiss nicht die merkwürdige Zimmereinrichtung!«

»Die gab’s früher nicht«, erwiderte Rieke und starrte bereits nachdenklich aus dem Fenster.

»Ich sag dir Bescheid, wenn Britt Rahlsen hier ist. Bei der Vernehmung solltest du dabei sein.«

Annika hob eine Hand. »Ich bitte auch.«

Rieke funkelte sie an. »Warum?«

Gelassen erwiderte Annika den verärgerten Blick. »Weil ich viel Erfahrung darin habe, die Körpersprache von anderen Menschen zu entschlüsseln. Das könnte uns helfen.«

»Das bekommen wir hin«, versprach Mikkel. »Eins noch. Tobi, fahr doch bitte mal kurz bei Ellie vorbei. Rede mal mit ihr und vergewissere dich, dass alles in Ordnung ist. Wenn es sich ergibt, lass dir ruhig mal die alten Zündkerzen zeigen. Und wenn ihr Freund da ist, dann frag den mal, ob ihm was zu der Motocross-Maschine ohne Straßenzulassung einfällt.«

Rieke hob die Hände. »Ernsthaft? Ich dachte, wir wären uns einig, dass sie mit dem Mord nichts zu tun hat.«

Mikkel unterdrückte mit Mühe eine ungeduldige Antwort. »Ich bin sicher, dass sie mit dem Mord an der Verkäuferin nichts zu tun hat. Und ich bin sicher, dass Britt Rahlsen sie absichtlich beschuldigt hat. Aber was Eric angeht … Wir haben mit ihr immerhin eine Ex-Freundin, die ihn noch geliebt hat. Was haben wir denn sonst noch? Ein verdächtiges Mutter-Tochter-Gespann, ansonsten hat jeder Eric gemocht, es gab keine Streitereien, nichts.« Er tippte an die Wand. »So viele Namen und keiner hat uns weitergebracht. Da wäre es fahrlässig, Ellie zu schnell komplett zu streichen.«

Es sprach für Rieke, dass sie sofort nickte. »Du hast recht, da war ich zu voreilig. Aber mir ist noch was eingefallen. Du meintest doch eben, dass die Kiste, die vermutlich Marlene gefahren hat, keine Straßenzulassung hat. Was ist, wenn sie das doch hat?«

Nun hatte sie ihn abgehängt. »Wie meinst du das?«

Die Antwort übernahm Tjark. »Sie meint, dass jemand das Kennzeichen einfach abgeschraubt hat.«

Heiko sprang sofort auf die Idee an. »Na, dann beginne ich mit einer Abfrage aller möglichen Fahrzeuge aus dem Kreis. Kann dein Kumpel das Motorrad noch ein wenig genauer beschreiben?« Fragend sah er Tjark an.

»Jo. Ich aber auch. Lass uns die Abfrage mal gemeinsam machen.«

»Na dann. Legen wir los.«