Kapitel 23                         

Eine Stunde später waren sie gut beschäftigt. Rieke hatte sich mit einem Schreibblock ins Besprechungszimmer zurückgezogen. Mikkel hatte sie nicht gefragt, was sie vorhatte, sondern würde abwarten. Die Tür zu seinem Büro stand weit offen. Leider hatte seine Aufgabe bisher lediglich darin bestanden, Nachfragen von Carl, besorgten Politikern und der Presse abzuwimmeln, sodass er die eigentliche Recherchearbeit seinen Kollegen überlassen hatte. Immerhin hatten sie bereits eine Liste mit fünfzig Motorrädern aus dem Kreis, die theoretisch als das Fahrzeug von Marlene infrage kämen. Annika war dabei, die einzelnen Maschinen durchzugehen, während Tjark bereits in Büsum unterwegs war, um sich über Britt Rahlsen und vor allem über mögliche Verbindungen nach Fehmarn umzuhören. Mittlerweile ahnte Mikkel, dass dies in erster Linie hieß, mit Rasmus zu reden, doch das war ihm nur recht.

Mikkel sah auf die Uhr. In zehn Minuten würde Britt Rahlsen erscheinen, sofern sie pünktlich war. Sie hatte versucht, ihn bei ihrem Telefonat abzuwimmeln, sodass er ihr die Wahl gelassen hatte, freiwillig vorbeizukommen oder offiziell als Zeugin vorgeladen zu werden. Das hatte gewirkt.

Annika schlug mit der flachen Hand auf den Schreibtisch. »Ich glaube, ich habe was. Und damit haben wir …« Sie brach mitten im Satz ab, weil ein Mann das Revier betrat. Heiko sah von seinem Schreibtisch aus hoch, seufzte laut, erhob sich und ging zum Tresen.

»Sag mir bitte, dass du hier bist, um dein Rad gestohlen zu melden«, begrüßte er den Neuankömmling.

»Natürlich nicht«, erwiderte der Unbekannte, dessen Haare ihm bis auf die Schultern fielen. Die Farbe lag irgendwo zwischen blond und grau und sein Alter war schwierig einzuschätzen. Vielleicht Mitte vierzig, eventuell auch schon ein paar Jahre älter. Mit den Sandalen, der engen, ausgeblichenen Jeans und dem verwaschenen Hemd mit einem Blumenmuster in Blautönen war er zumindest interessant gekleidet. »Muss ich dich über die Pressefreiheit informieren oder können wir auch so miteinander reden?«

Heiko sah Hilfe suchend zu Mikkel hinüber. Innerlich vor sich hin fluchend trat Mikkel an den Tresen. »Sie sind von der Presse?«

»Ja.«

»Dann hätte ich gerne Ihren Ausweis gesehen.«

»Warum ist der Ausweis wichtig? Ich kann mich auch als besorgter Bürger an Sie wenden!« Trotz seiner Worte zog er einen Ausweis in Scheckkartengröße aus seiner Hosentasche, den Mikkel sofort erkannte. Also handelte es sich tatsächlich um einen hauptberuflichen Journalisten.

»Lass stecken, Hansi. Du weißt, dass der offizielle Weg über die Pressestelle geht. Mikkel, das ist Hansi Ehrwig aus Heide. Er hat so eine Art Onlinezeitung auf Facebook, die recht erfolgreich ist und uns in der Vergangenheit auch schon mal mit seiner Reichweite geholfen hat, wenn’s um vermisste Kinder, Tiere oder sichergestelltes Diebesgut ging.«

»Die ist nicht recht erfolgreich, sondern sehr erfolgreich! Ich habe mich mal umgehört und muss feststellen, dass es einige offene Fragen gibt! Wir reden hier also wirklich über zwei Morde?«

Mikkel verzog den Mund. Aus gutem Grund hatte sich die Pressestelle in Heide bisher sehr vage ausgedrückt. »Wenden Sie sich bitte an die zuständigen Stellen.«

»Sehr guter Punkt! Reden wir doch mal über die Zuständigkeit. Ist es richtig, dass Sie von hier aus, also aus Büsum, ermitteln? Ich gehe mal davon aus, dass Sie Mikkel Tvorsen, Kriminal hauptkommissar, sind.«

Die Betonung entging Mikkel natürlich nicht, doch er würde darauf nicht eingehen. Dennoch musste er zugeben, dass der Journalist sehr gut informiert war. »Ja, der bin ich. Aber was die regionale Zuständigkeit bei Ermittlungen angeht, muss ich Sie an Kiel verweisen.«

Hansi verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich habe bisher nur Informationen gesammelt, aber auf reißerische Schlagzeilen verzichtet. Dafür kann ich aber auch ein bisschen Entgegenkommen erwarten. Vielleicht kann ich Ihnen sogar helfen, dafür muss ich aber eins wissen: Ist es richtig, dass dem jungen Mann die Kehle durchgeschnitten worden ist?«

Von der Todesursache wussten aus gutem Grund nur eine Handvoll Leute. Nun hatte Hansi Mikkels volle Aufmerksamkeit. »Woher haben Sie die Information?«

»Sage ich Ihnen, wenn Sie mir dies bestätigen, denn ich habe dann noch mehr für Sie. Und hierbei geht’s mir nicht um einen Artikel, sondern darum, den Täter zu erwischen.«

Heiko atmete scharf ein und stieß pfeifend die Luft aus. »Du kannst ihm trauen, Chef. Ich kenne ihn schon lange und auf sein Wort ist Verlass.«

»Also gut, das ist richtig. Und nun sind Sie dran, Herr Ehrwig.«

»Nennen Sie mich Hansi, das tun alle. Sonst denke ich noch, mein Vater steht hier irgendwo rum, und das macht mir Angst, denn der ist schon lange tot. Helle hat es mir gesagt. Aber nicht aus Sensationsgier, sondern weil ich ihr mal vor Ewigkeiten von meinem schlimmsten Fall erzählt habe. Das war auf Sylt, ein guter Freund von meiner Tochter ist dort ermordet worden. Ich habe da damals als fest angestellter Journalist gearbeitet. Der Täter wurde nie gefasst. Björn und Eric … Da gibt’s schon ein paar Parallelen.« Hansi kniff die Augen zusammen und fixierte Mikkel. »Doch damit verrate ich Ihnen offenbar nichts Neues. Es handelt sich also um eine Serie.«

Mikkel wusste nicht, was er zu dieser Schlussfolgerung sagen sollte. Er wollte dies keinesfalls in den Schlagzeilen sehen. Eine Antwort blieb ihm erst einmal erspart. Britt Rahlsen betrat das Revier und machte daraus einen wahren Auftritt.

»Hier bin ich! Wie befohlen! Und nu?«, rief sie laut.

»Annika, führst du Frau Rahlsen bitte in den Besprechungsraum und sagst Rieke Bescheid? Ich komme sofort.«

»Na klar.«

Überrascht stellte Mikkel fest, dass die Aufmerksamkeit von Hansi nun Britt Rahlsen galt. »Irgendwoher kenne ich die«, sagte er leise.

Rahlsen bedachte ihn lediglich mit einem Seitenblick und folgte Annika.

»Kennen Sie die Dame hier aus Büsum?«, hakte Mikkel nach.

»Nein, eben nicht. Ich muss da mal drüber nachdenken, meistens fällt es mir später wieder ein. Spontan würde ich sagen, in Verbindung mit Björn, aber sicher bin ich da leider nicht.«

»Es wäre eine große Hilfe, wenn Sie es uns mitteilen, wenn es Ihnen wieder einfällt.«

Mit neu entfachtem Interesse sah Hansi zum Besprechungsraum hinüber. »So ist das also. Mir ist schon klar, dass Sie offiziell nichts bestätigen können, aber ich verstehe so langsam, was passiert ist. Dass die Bäckerei, wo die arme Verkäuferin ums Leben gekommen ist, genau gegenüber von Erics Wohnung liegt, ist ja wohl eher kein Zufall.«

»Wie wäre es mit einer Exklusivstory, nachdem wir den Täter gefasst haben, und bis dahin noch etwas Zurückhaltung?«, bot Mikkel an.

»Darauf können wir uns einigen.«

Mikkel sah zu dem Besprechungsraum. »Aber noch was. Passen Sie bitte in den nächsten Tagen gut auf sich auf. Denn sollte die Dame auch Sie wiedererkannt haben, dann … Passen Sie einfach auf sich auf und rufen Sie sofort an, wenn Ihnen etwas komisch vorkommt.«

Statt die Warnung einfach abzutun, wurde der Reporter blass. »Verstanden. Das ist ja mal ein Ding.« Er räusperte sich und grinste Heiko reichlich wackelig an. »Sehen wir uns heute Abend?«

»Na sicher.«

Mikkel musste nicht nachfragen. Heiko sah ihn etwas verlegen an. »Unsere monatliche Skatrunde steht auf dem Programm.«

»Na dann … Ich stürze mich mal ins nächste Vergnügen.«