Die Stimmung in seinem Büro war frostig, was Mikkel einfach komplett ignorierte. Er bedankte sich bei Frau Rahlsen nicht fürs Kommen, sondern entschuldigte sich lediglich für die kurze Wartezeit. Da er sich noch gut an die ausschweifenden Antworten von ihrem letzten Gespräch erinnerte, entschied sich Mikkel für eine schärfere Gangart.
»Wieso haben Sie uns verschwiegen, dass Sie in Erics Wohnung waren?«
Die freundliche, vielleicht etwas verärgerte Miene kam gehörig ins Schwanken. Britt Rahlsen blinzelte, fing sich aber schnell wieder. »Das muss ein Irrtum sein. Wer behauptet denn so etwas?«
»Es geht nicht darum, wer Sie gesehen hat, sondern darum, was Sie dort wollten.«
»Ich war nicht in Erics Wohnung. Wer immer das behauptet, der lügt.« Sie lehnte sich zurück.
»Dann verraten Sie mir doch mal, wo Sie zu der Zeit gewesen sind, als unser Zeuge Sie beim Verlassen der Wohnung gesehen hat.«
»Ich war natürlich zu Hause.« Sie stutzte. »Moment. Über welche Zeit reden wir eigentlich?«
Annika hatte sich so hingesetzt, dass sie aus einer Zimmerecke alles beobachten konnte, aber selbst nicht im Blickfeld saß. Über den Kopf von Britt Rahlsen hinweg wechselten Mikkel und sie einen Blick. Der erste Punkt ging eindeutig an die Ermittler. Leider hatte Frau Rahlsen ihren Fehler zu schnell bemerkt und ein guter Anwalt würde die Aussagen entsprechend zurechtbiegen.
Rieke atmete scharf ein. Unwillkürlich musste Mikkel an das Gespräch mit Katharina von Wotersen denken. Seine Kollegin konnte ihre Gefühle einfach nicht verbergen. Offenes Entsetzen zeigte sich in ihrer Miene, ehe sie sich im Griff hatte. Mikkel konnte nur hoffen, dass Britt Rahlsen davon nichts mitbekam, weil sie nebeneinandersaßen und sich bisher die Aufmerksamkeit ihrer Tatverdächtigen auf ihn konzentrierte.
Nun griff Rieke nach ihrer Hand. »Britt, die Aussage war eindeutig. Du warst am Morgen in Erics Wohnung und hast dort einige Sachen entwendet. Warum? Um deine Tochter zu schützen? Das versteht doch jeder, der Kinder hat. Aber wir wissen trotzdem mittlerweile, dass Eric und Marlene ihre Beziehung wieder aufgenommen haben.«
Britt Rahlsen wandte sich Rieke zu. »Es gab keine Beziehung mehr zwischen ihnen. Das ist lange Vergangenheit und aus und vorbei. Zum Glück, denn er war nicht gut für Marlene. Er konnte einfach nicht treu sein. Meine Tochter hat was Besseres verdient. Und egal, wer nun was behauptet: Ich war nicht in Erics Wohnung. Das ist einfach nicht wahr.«
Mikkel glaubte ihr kein Wort, konnte ihr aber auch nicht das Gegenteil beweisen. »Gut, dann kommen wir zu Ihrem zweiten Besuch an dem Tag in der Straße: Ihren angeblichen Einkauf in der Bäckerei und Ihre angebliche Beobachtung, dass Ellie dort weggefahren ist. Da frage ich mich schon, wieso Sie eine Ex-Freundin von Eric und gute Freundin Ihrer Tochter nicht erkannt haben wollen.«
Britt Rahlsen entriss Rieke ihre Hand und sah Mikkel kalt an. »Was ist damit? Ich wollte Ihnen nur helfen. Dass das Ellie war, habe ich nicht gesehen.«
»Nun, es kann aber nicht Ellie gewesen sein, weil sie nachweislich woanders war. Warum haben Sie behauptet, die junge Frau dort gesehen zu haben?«
»Sie tun ja so, als ob ich Ellie etwas anhängen wollte. Das ist eine Unverschämtheit!«
»Nein, das ist die Wahrheit. Wenn Sie Ellie in den Mittelpunkt schieben, um von Marlene abzulenken, machen Sie Ihre Tochter nur noch verdächtiger.«
»Was heißt denn noch verdächtiger ?«
Erstmals wirkte eine ihrer Reaktion auf Mikkel ehrlich. Das deutliche Entsetzen konnte nicht gespielt sein. Mikkel lehnte sich zurück und lächelte grimmig. »Die Formulierung heißt genau das, was Sie offenbar korrekt daraus ableiten. Ihre Tochter hatte als letzte vor seinem Tod Kontakt zu Eric, was sie uns verschwiegen hat. Der Beziehungsstatus der beiden ist höchst interessant. Soll ich noch weitermachen? Sie haben also versucht, Marlene zu schützen, indem Sie den Verdacht auf Ellie gelenkt haben?«
Einen Moment breitete sich Schweigen aus, dann schüttelte Britt Rahlsen den Kopf. »Nein. Wenn es nicht Ellie war, habe ich sie verwechselt. Ich wollte nur helfen.«
Interessant, sie war mit keinem Wort auf die Vorwürfe gegenüber Marlene eingegangen. Er wollte gerade nachhaken, als er Annikas warnenden Blick bemerkte.
»Sie haben in der Bäckerei also Joghurtschnitten gekauft«, sagte er stattdessen.
Frau Rahlsen fühlte sich nun offenbar wieder sicher. »Ja genau. Die sind dort immer sehr lecker und nicht so fett und süß.«
Mikkel nickte Rieke zu, die die Aufforderung sofort richtig deutete. Sie stand auf und warf die Hände in die Luft. »Warum lügst du uns denn pausenlos an? Die Schnitten sind sehr wohl ordentlich süß und mit ganz viel Sahne verfeinert. Du kennst sie also gar nicht. Und viel wichtiger: An dem Tag haben wir die letzten Stücke aufgekauft. Was wolltest du dort also wirklich? Und noch einmal Britt: Wir wissen, dass du dort schon zum zweiten Mal an dem Tag warst. Nun rede doch endlich mit uns.«
Britt Rahlsen kniff die Lippen zusammen und stand auf. »Ich muss mich hier nicht rechtfertigen. Für gar nichts! Ich habe nichts Falsches gemacht. Wenn jemand noch einmal mit mir reden will, dann nur mit einem Anwalt.«
»Einverstanden«, stimmte Mikkel zu und stand ebenfalls auf. »Wissen Sie eigentlich, wie sehr Ihre Tochter unter Erics Tod leidet?«
Sie funkelte ihn an. »Marlene wird darüber hinwegkommen, denn er war nicht gut für sie!«
Sie verließ den Raum ohne ein weiteres Wort.
Mikkel wartete, bis sie das Revier verlassen hatte, und sah dann Annika fragend an. »Nun bin ich auf deinen Eindruck gespannt.«
Dass er als Erstes ihre externe Beraterin fragte, passte Rieke sichtlich nicht, aber Mikkel wollte den frischen Eindruck von Annika erfahren.
»Sie lebt in einer Scheinwelt und glaubt das selbst, was sie sagt. Das deutet auf erhebliche psychische Probleme hin, dazu passt auch diese merkwürdige Einrichtung, die Tjark erwähnt hat. Ich bin kein Psychologe, aber wir haben es hier auf jeden Fall mit Verlustängsten zu tun, die sie im wahrsten Sinne des Wortes Amok laufen lassen. Wenn du mich fragst, hat sie die drei Männer umgebracht. Das Motiv war, zumindest bei Eric, die Angst, Marlene zu verlieren. Sie denkt aber, sie tut was Gutes, weil sie verhindert, dass ihre Tochter an einen falschen Mann gerät. Dabei ist sie schlau und brandgefährlich, das zeigt die kaltblütige Art, wie sie die Verkäuferin ausgeschaltet hat. Allerdings hält sie sich auch für extrem clever und das könnte ihr noch zum Verhängnis werden, das hoffe ich jedenfalls. Denn wir haben ein gigantisches Problem: Wie weisen wir ihr das nach? Wir haben außer ein paar Lügen nicht einmal Indizien. Ich muss euch ja nicht sagen, in wie vielen Fällen die Täter davonkommen, weil die Beweislage nicht ausreicht und das Gefühl eines Polizisten nun mal nicht zählt.«
Mikkel nickte langsam. »Das weiß ich, aber das wird hier nicht geschehen. Das lasse ich nicht zu.« Er wandte sich an Rieke, die bei Annikas Einschätzung blass geworden war. »Nun du.«
Rieke rieb ihre Handflächen einander, als ob ihr kalt war. »Es klingt alles plausibel, aber ich kann und will es eigentlich nicht glauben. Das liegt aber nur daran, dass ich beide schon seit vielen Jahren kenne. Wenn ich mir die Fakten und ihr Verhalten ansehen, kann ich Annika nicht widersprechen.« Sie atmete tief durch und setzte sich gerader hin. »Solange wir nichts gegen Britt in der Hand haben, würde ich mich auf Marlene konzentrieren. Vielleicht locken wir so ihre Mutter aus der Reserve. Außerdem dürfen wir den Angriff auf Katharina von Wotersen und …« Sie lächelte flüchtig. »… auf meine Haustür nicht vergessen.«
»Ist dir denn aus der Vergangenheit noch etwas eingefallen?«
Rieke schüttelte den Kopf. »Nein, dabei raucht mir schon der Schädel. Klar, eine gewisse Sonderbarkeit hat man Britt zurecht nachgesagt, aber nichts, das uns heute hilft. Außer vielleicht der Hinweis, wie penibel sie ist.«
Annika reckte sich. »Ich habe noch was. Darauf war ich gerade gestoßen, als der Reporter hereinschneite. In direkter Nachbarschaft von Britt und Marlene wohnt ein älterer Herr um die siebzig, der früher ein bekannter Motocross-Fahrer war. Auf ihn sind gleich drei Motorräder zugelassen und auf eins passt die Beschreibung perfekt. Ich könnte mir vorstellen, dass Marlene sich da bedient hat. Am besten, ich fahre mal hin und sehe mich um.«
Mikkel nickte. »Tu das – aber nicht alleine!«
Annika schnaubte, widersprach aber nicht.
Unschlüssig überlegte Mikkel kurz. »Je nachdem, was Annika über die Maschine rausfindet, nehmen wir uns Marlene heute Abend vor. Bis dahin hoffe ich auf weitere Ergebnisse, insbesondere, was mögliche Aufenthalte von Mutter und Tochter auf Sylt oder Fehmarn angeht.«
»Chef, Rieke, kommt ihr mal? Hier ist jemand für euch«, rief Tobi laut und beendete damit die Zusammenkunft.