Tobi stoppte den Streifenwagen vor dem Haus, in dem sich Ellies Wohnung befand. Das Halteverbotsschild ignorierte er. Wer sollte ihn aufschreiben? Seine Kollegen waren beschäftigt. Er zögerte, auf die Haustür zuzugehen, denn er kannte Ellie seit Jahren. Allerdings beschränkte sich ihr Kontakt auf einen kurzen Gruß und maximal einen unverbindlichen Small Talk, dennoch konnte er sich nicht vorstellen, dass sie kaltblütig einen Mann ermordet hatte. Für Marlene galt dies jedoch auch. Er zog den Gürtel seiner Uniform zurecht, überprüfte, ob alles an seinem Platz war – vom Pfefferspray bis hin zu seiner Waffe, die er natürlich nicht einzusetzen gedachte. Als ihm kein weiterer Grund für eine Verzögerung einfiel, setzte er sich in Bewegung und klopfte an die Tür, neben der ein Schild mit Ellies Namen angebracht war. Sie hatte also einen direkten Zugang zum Garten und damit auch zu dem kleinen Holzhäuschen, in dem sich vermutlich ihre Vespa befand.
Ellie öffnete und sah ihn müde an. »Ich habe auch eine Klingel. Aber komm doch rein.«
Verlegen folgte Tobi ihr. Der sehr kurze Flur führte ins Wohnzimmer, an das sich eine offene Küche anschloss. Auf der Couch lag eine zerknüllte Decke. »Habe ich dich geweckt?«
»Nein, das ist noch von Olav, der hier gepennt hat. Aber er musste los. Nachher kommt er dann wieder.«
»Es ist gut, dass du nicht alleine warst. Deswegen bin ich hier. Ist bei dir alles in Ordnung? War irgendwas?«
»Nö, eigentlich nicht«, erwiderte Ellie, strich sich eine Haarsträhne zurück und wich seinem Blick aus. »Möchtest du ein Glas Wasser oder einen Kaffee?«
»Nee. Ich möchte wissen, was uneigentlich los war.«
»Versprichst du mir, dass du mich nicht für bescheuert hältst?«
Er hatte sie immer für tough gehalten, die unerwartete Unsicherheit berührte ihn. Plötzlich freute er sich darüber, dass ihr Freund offenbar nur ein Freund war und auf dem Sofa geschlafen hatte. »Natürlich. Sag schon.«
Ellie ließ sich aufs Sofa fallen. »Wir haben hier im Dunkeln gesessen, das Rollo war fast komplett unten. Von außen konnte man kaum sehen, dass wir hier jeder an einem Handy gezockt haben, denn draußen sind ein paar Solarleuchten. Gegen halb eins haben wir gedacht, dass jemand am Schuppen war. Als wir nachgesehen haben, konnten wir aber niemanden finden. Trotzdem war es komisch, dass das Schloss offen war, denn ich hatte es ganz bestimmt abgeschlossen.«
»Nutzt du den Schuppen alleine?«
»Ja. Ich mache dafür den Garten. Da drin sind alle möglichen Geräte und eben meine Vespa.«
»Deine Vespa«, wiederholte er nachdenklich. »Hast du dir den Roller mal angesehen?«
»Ja, vorhin, als ich Olav zum Auto gebracht habe. Da war ja heller Tag. Die sah ganz normal aus.«
»Wie viel Ahnung hast du denn von Technik?«
»Ähm …«
»Dann sehe ich sie mir mal an. Bleib besser hier.«
»Nee. Ich komme mit. Was soll denn schon passieren, wenn du auf mich aufpasst?«
Ihre Worte berührten ihn. Vielleicht sollte er in seiner Freizeit doch mal bei den Surfern vorbeigucken. Zeit genug hatte er seit dem Tod seiner Mutter.
Ellie musterte ihn prüfend. »Wieso hast du eigentlich damals mit dem Surfen aufgehört? Ich habe dich vermisst.«
Tobi spürte, dass seine Wangen warm wurden. Hoffentlich lief er nicht gerade rot an. »Ich wusste nicht einmal, dass ich dir aufgefallen bin.«
»Bist du. Du warst so elegant auf dem Brett.«
»Meine Mutter war an MS erkrankt. Sie brauchte mich«, erklärte er schlicht.
Er musste die Krankheit Multiple Sklerose nicht weiter erklären. Ellie verstand offenbar auch so, welche Folgen das gehabt hatte. »Das tut mir leid. Das wusste ich überhaupt nicht. Wie kann das sein? Sonst erfährt man hier doch schon, wenn jemandem ein Pups quer sitzt.«
Die Beschreibung des Dorfklatsches von Büsum brachte ihn zum Lachen. »Wir sind damals nach Niebüll in eine barrierefreie Wohnung umgezogen. Ich bin hier nur weiter zur Schule gegangen.«
Ellie pustete sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Puh, das nenne ich einen Schulweg und dazu noch die Pflege deiner Mutter. Respekt, Tobi. Das war mir nie klar. Da merkst du mal wieder, wie egoistisch wir alle sind und nicht sehen, was direkt vor uns ist. Wie geht’s deiner Mutter?«
Spontan berührte er sie am Arm und genoss die Wärme ihrer Haut. »Alles gut. Ich habe kein Mitleid erwartet. Meine Mutter hat es hinter sich.«
»Oh, das tut mir leid!«
»Muss es nicht. Sie hat die Prognose der Ärzte deutlich übertroffen und am Ende war es eine Erlösung. Wer weiß, wenn der Fall vorbei ist, komme ich vielleicht mal bei euch vorbei. Jedenfalls, wenn ihr mich noch mitsurfen lasst.«
»Na logisch. Ich würde mich freuen! Sogar sehr.« Nun röteten sich ihre Wangen leicht, was ihr außerordentlich gut stand. »Versteh das bitte nicht falsch. Vorgestern dachte ich noch, ich wäre über Eric nicht hinweg und nun …« Sie lächelte verlegen.
Forschend sah er sie an, fand aber keinerlei Mitleid bei ihr. Gut. »Du musst nichts erklären. Ich verstehe dich.«
Und das tat er wirklich. Mal sehen, was sich ergab. Er hatte einige Ideen, wie sie ihren Kontakt vertiefen konnten, doch zunächst hatte er eine Aufgabe zu erledigen.
Auf dem Weg zum Schuppen verflog seine gute Stimmung und er fragte sich, ob er zu leichtgläubig war. Was war, wenn Ellie doch ein falsches Spiel spielte und ihn nur einlullte? Er warf ihr einen Seitenblick zu. Nein, ausgeschlossen. Das konnte und wollte er nicht glauben.
Die Vespa sah auf den ersten Blick unbeschädigt aus. Doch das würde er genauer überprüfen. »Was dagegen, wenn ich sie mal rausschiebe?«
»Natürlich nicht. Du wirst sie ja kaum klauen!«
»Habe ich nicht vor.«
Es war für ihn eine enorme Erleichterung gewesen, als er erst mit einer 80er und dann mit einer 125er zur Schule fahren konnte und nicht mehr auf den Bus angewiesen war, der eigentlich nie fuhr, wenn er es brauchte. Daher kannte er sich ganz gut mit Motorrädern aus. Tobi zog an der Handbremse und wurde sofort misstrauisch. Er hockte sich neben dem Roller hin, folgte mit der Hand dem Seilzug bis zum Rad und stieß auf ein loses Ende, das notdürftig mit einem Stück Klebeband am Rahmen befestigt war.
Tief durchatmend stand er auf. »Das ist nicht gut. Beschreib mal, wie du hier losfährst.«
»Was ist denn?« Sie versuchte, an ihm vorbeizusehen.
»Erkläre ich dir gleich. Also?«
»Ich mag deinen Befehlston. Da komme ich auf richtig gute Ideen, was wir mit deinen Handschellen machen könnten.«
Nun war er sicher, dass er rot anlief. »Ellie! Das ist kein Spaß!«
»Weiß ich. Aber dein Blick war genial. Also, ich schiebe sie hier raus, bis auf die Straße und fahre dann los. Da es immer geradeaus geht, gebe ich ordentlich Gas und bremse erst hinten an der Kreuzung.«
»Tja, das wäre dieses Mal nichts geworden. Der Bremszug ist gekappt. Und ich wette …« Tobi drückte auf die Fußbremse, die ungewöhnlich locker wirkte. »… dass die Bremse auch nicht geht. Ihr habt euch heute Nacht nichts eingebildet. Da hat jemand an deiner Kiste rumgeschraubt.«
Es dauerte einige Sekunden, bis die Botschaft angekommen war. Dann wich Ellie zurück und stieß gegen die Wand des Schuppens. Sie war kreidebleich geworden.
»Ich habe dich vorhin angelogen. Olav kommt nachher nicht wieder. Seine Oma wird heute achtzig. Meinst du, ich sollte ins Hotel ziehen?«
»Entweder das oder du akzeptierst mich als Leibwächter, denn alleine bleibst du hier heute Nacht nicht. Falls es dir nicht aufgefallen ist: Deine Fenster sind ein Witz! Die bekommt man innerhalb von Sekunden auf.«
»Das würdest du tun? Ich möchte aber nicht … Stimmt nicht, ich würde mich freuen, wenn du den Job übernimmst. Eine neue Decke habe ich noch und alles im Kühlschrank, um dir Nudeln mit meiner berühmten Paprikasoße zu machen.«
»Dann bringe ich den Wein mit. Ein Glas ist auch für Leibwächter erlaubt.« Unschlüssig sah er den Roller an. »Ich könnte ihn nach Heide schleppen lassen, aber derjenige, der daran herumgeschraubt hat, wird kaum Fingerabdrücke hinterlassen haben. Ich denke, wir nehmen das zu Protokoll und ich rufe einen Kumpel an, der die Kiste repariert. Ich kann gegen sieben hier sein. Was machen wir so lange mit dir?«
»Bringst du mich zu Levke und holst mich da nachher wieder ab? Mit meinem Laptop kann ich auch bei ihr arbeiten.«
»Gute Idee. Das gefällt mir.« Wieder berührte er sie leicht am Arm. »Wir bekommen das hin. Mach dir nicht zu viele Sorgen.«
Zu seiner Überraschung stürzte sie sich in seine Arme und er schaffte es gerade noch, sie aufzufangen. »Danke. Ich danke dir«, flüsterte sie, ihre Lippen waren nur Millimeter von seinem Hals entfernt.
Er drückte sie an sich, bis sie sich beruhigt hatte. Als sie sich von ihm löste, wirkte sie kein bisschen verlegen. »Noch ein Danke. Das habe ich jetzt gebraucht. Bitte löse den Fall ganz schnell, damit ich alles inklusive Eric hinter mir lassen kann. Ich bin schon gespannt, wo das mit uns hinführt.«
Die Erwähnung von Eric hatte den gleichen Effekt auf Tobi wie eine kalte Dusche, aber das »uns« klang dennoch verheißungsvoll.