Kapitel 29                         

Hörte die Frau denn niemals auf zu reden? Annika würde das Gespräch gerne auf einem freundlichen Weg beenden, doch bisher war jeder Versuch schon im Ansatz fehlgeschlagen. Emilia Krücksen hatte die Nachbarschaft fest im Blick und war auf sie zugestürzt, kaum dass sie ihre Enduro abgestellt hatte. Zunächst war die Frau eine wertvolle Hilfe gewesen. Von ihr hatte Annika erfahren, dass Marlene und der ältere Herr häufig Zeit miteinander verbracht hatten und dass der ehemalige Motorradweltmeister schon seit drei Wochen auf Mallorca weilte, während Marlene sich vorbildlich um die Hühner im Garten und die Blumen im Haus kümmerte.

Nun brannte Annika darauf, sich auf dem Grundstück oder genauer gesagt in dem großen Holzschuppen umzusehen. Sie war sicher, dort auf die Geländemaschine zu stoßen, mit der die Anschläge verübt worden waren. Wenn Rieke oder Katharina von Wotersen das Motorrad wiedererkannten, hatten sie endlich ein Druckmittel gegen Marlene in der Hand. Mikkel hatte sie zwar für den frühen Abend aufs Revier vorgeladen, doch sie wussten alle, dass sie kaum etwas gegen die Frau in der Hand hatten. Das könnte sich entscheidend ändern.

Frau Krücksen erzählte nun wortreich von den Anwohnern, die in den letzten Jahren weggezogen waren. Es reichte! Allmählich wurde Annika in ihren Motorradklamotten gekocht. Sie hob eine Hand und unterbrach sie einfach. »Sie haben mir wirklich sehr geholfen, aber nun muss ich mal gucken, ob auf dem Grundstück auch alles in Ordnung ist. Tut mir wirklich leid, aber sonst bekomme ich noch Ärger mit meinem Chef, der sich bestimmt fragt, warum ich so lange brauche.«

»Also diese Jugend heutzutage! Immer auf dem Sprung. Das liegt doch garantiert an dem ganzen elektronischen Firlefanz! Die Marlene hat auch nie Zeit, wenn sie kommt.« Die ältere Dame sah auf die Uhr. »Ich wundere mich gerade, wo sie heute bleibt. Sonst war sie um diese Zeit immer schon hier. Sie nutzt immer die Mittagszeit, wissen Sie. Aber vielleicht war sie ja auch gestern da, denn sie kommt ja nur alle zwei Tage. Das reicht den Blumen und den Hühnern. Und gestern, da war ich ja beim Doktor. Die Gelenke machen ja auch nicht mehr so mit wie früher.«

»Äh ja. Und vielen Dank noch mal.« Das fehlte Annika gerade noch, dass sie hier mit Marlene zusammentraf. »Einen schönen Tag und bleiben Sie gesund!«, fügte sie noch hinzu, wandte sich ab und lief um das Haus herum in den Garten.

Sie pfiff beim Anblick der weitläufigen Rasenfläche leise. Das war mal ein Grundstück! Rechts bildeten hohe Büsche eine natürliche Hecke, links war eine große Voliere mit einem Freilauf, in dem sich eine Handvoll Hühner und ein prächtiger Hahn tummelten. Ein gepflasterter Weg führte an den Büschen entlang zu einem Schuppen, an dem sich ein Doppelcarport anschloss. Annika lief dorthin und spähte durchs Fenster. Wie erwartet standen im Inneren gleich drei Motorräder. Leider war das Glas für ein vernünftiges Foto zu dreckig und außerdem war es im Inneren zu dunkel. Die Tür war versperrt, aber für das Schloss reichte ihr Taschenmesser. Mit einem leisen Klick sprang es auf. Annika sah sich rasch um und entdeckte niemanden. Ihre Aktion war zwar haarscharf am Rand der Legalität oder vielleicht auch schon auf der anderen Seite, doch sie sah sich ja nur um und wollte ein Motorrad fotografieren. Das konnte eigentlich nicht wirklich verboten sein. Oder wenn, dann nur ein bisschen.

Vorsichtig drückte Annika die Tür auf und ging in den Schuppen. Das Holzgebäude war viel größer, als sie gedacht hatte. An der Rückwand war ein Regal, in dem in akribischer Ordnung Werkzeuge lagen, daneben war noch Platz für zwei Motorradjacken und zwei Helme. Die Motorräder standen so weit auseinander, dass man bequem rangieren oder gleich aufsteigen und losfahren konnte. Sie entdeckte einen Lichtschalter und drückte ihn. Neonröhren an der Decke tauchten den Schuppen in helles Licht.

Neugierig musterte Annika den Fußboden. Die mittlere Maschine war eindeutig vor Kurzem bewegt worden, denn es gab eine gut sichtbare Spur aus Sand, während der restliche Bereich sauber war. Die Beschreibung passte auch. Sie ging um das Motorrad herum und pfiff erneut leise. Das Nummernschild war abgeschraubt worden. Sie entdeckte es im Regal neben einem Sortiment Bohrer. Damit war die Sache so gut wie klar. Mit ihrem Handy schoss sie eine ganze Serie Fotos. Die hätten zwar keinen künstlerischen Wert wie die Aufnahmen von Tjark, würden ihnen aber ordentlich weiterhelfen.

Ein leises Knacken alarmierte sie. Sie fuhr herum. Die Tür war eingeschnappt, dabei hatte sie die absichtlich angelehnt gelassen. Rasch lief sie hin und zog an der Klinke. Nichts, die Tür rührte sich nur wenige Millimeter. Auch kräftiges Zerren und Rütteln brachte nichts. Sie überprüfte das Schloss. Das war geöffnet. Etwas musste von draußen den Ausgang blockieren. Das war nicht gut. Sie spähte aus dem Fenster, entdeckte jedoch niemanden. Ihr Puls beschleunigte sich, sie glaubte keine Sekunde daran, dass dies ein unglücklicher Zufall war. In der Nähe der Tür hatte es nichts gegeben, das sie hätte blockieren können.

Annika hätte einiges darauf gewettet, dass Marlene sich draußen herumtrieb. Doch was sollte die davon haben, sie hier einzusperren? Annika betrachtete nachdenklich das Handy. Gerne bat sie nicht um Hilfe, aber in diesem Fall blieb ihr wohl nichts anderes übrig. Sie schickte zunächst die Fotos an Tjark und Mikkel und bat dann möglichst unverfänglich darum, dass sie ihr halfen, aus dem Schuppen herauszukommen.

Sie hatte die Nachricht kaum auf den Weg gebracht, da hörte sie ein leises Knistern. Ehe sie es richtig einordnen konnte, sah sie Rauch an der Wand vor den Motorrädern. Im nächsten Moment loderten Flammen an gleich drei Seiten des Schuppens empor. Das Gebäude brannte wie Zunder! Kein Wunder, trockenes Holz und vielleicht noch ein bisschen Benzin als Brandbeschleuniger waren eine tödliche Mischung. Sie überlegte, die Feuerwehr anzurufen, aber bis die hier war, war sie tot. Sie musste hier raus, und zwar sofort!

Annika lief zu dem Regal, dort war die einzige Wand, die noch nicht brannte, und schlug heftig gegen das Holz. Das war zu stabil. Keine Chance, dort ein Loch reinzuhauen, nicht einmal, wenn sie den Hammer oder einen der Schraubenzieher nutzen würde. Die Flammen kamen näher, die Luft war stickig und sie musste husten. Sie hockte sich hin und atmete tief durch. Sie verfügte zwar über gewisse Grundkenntnisse im Umgang mit Bränden, aber das half ihr auch nicht viel weiter, sondern brachte ihr nur wenige Sekunden. Wenn sie nicht sofort eine Idee hatte, dann … Vielleicht hätte sie doch auf Mikkel hören sollen und wäre mit einem Partner losgezogen, doch dafür war es nun zu spät.