Dieser Ort hatte gute Chancen, Mikkels Lieblingsort zu werden – gleich nach dem Strand direkt hinter Tjarks Haus. Der Hafen war so klein, dass er mit den beiden Kuttern und einer Handvoll Segelbooten schon überfüllt wirkte. Das Hafenbecken war nur durch eine schmale Durchfahrt zu erreichen, die den Deich teilte. Für den Fall eines Hochwassers befanden sich riesige Stahltore rechts und links der Einmündung. Einige Radfahrer hatten sich hierher verirrt, ansonsten war der Ort vor Touristen offenbar weitestgehend sicher. Neben einem kleinen Haus mit Reetdach war ein Räucherofen im Einsatz und es roch einfach köstlich.
Tjark und er gönnten sich gleich drei der dick belegten Brötchen. Als Mikkel um ein weiteres mit Makrelenfilet bat, verzichtete er darauf, Rasmus’ umfangreiche Sonderwünsche zu erwähnen. Sollte dem Galeriebesitzer die Wahl missfallen, so würde Mikkel sich opfern und es essen.
Tjark hatte ihn bis zum Hafenbecken gelotst und Mikkel gebeten, direkt neben einer Bank zu parken. Das war der perfekte Ort, um die Brötchen ihrer Verwendung zuzuführen. Er hätte zu gerne ein kühles Bier getrunken, aber Alkohol und Dienst passten nicht zusammen, sodass er sich für ein Mineralwasser entschieden hatte, das wenigstens eiskalt war.
Außer dem leisen Plätschern des Wassers, das an die Boote schwappte, und einem gelegentlichen Knarren von irgendwelcher Takelage war es still.
Die Radfahrer waren weit genug entfernt und widmeten sich ihrem eigenen Essen. Perfekt. Wie erwartet schmeckten die Brötchen genauso gut, wie sie aussahen.
Eine Zeit lang aßen sie schweigend und achteten lediglich darauf, dass die großen Möwen ihnen nicht zu nahe kamen. Die Vögel ließen ihr Essen nicht aus den Augen und warteten auf ihre Chance. Doch die würde nicht kommen.
»Ich dachte, die Brötchen, die du gestern mitgebracht hattest, wären nicht mehr zu toppen. Ich habe mich geirrt. Gut, dass dieser Geheimtipp noch geheim ist und sich keine Scharen von Touristen hierher verirren.«
Tjark brummte zustimmend. »Was machst du mit Marlene?«
»Ich nehme sie mir vor. Einiges habe ich ja mittlerweile in der Hand, leider fehlen noch richtige Beweise.«
Überzeugt wirkte Tjark nicht.
»Hast du eine bessere Idee?«
»Lass Rieke mit ihr reden.«
Mikkel dachte über den Vorschlag nach, während er sich den Rest des ersten Brötchens schmecken ließ. »Sie waren mal enge Freundinnen, aber das liegt lange zurück. Sie haben sich total entfremdet.«
»Ich habe das Gefühl, die Vergangenheit ist bei beiden plötzlich wieder sehr präsent.«
Ohne nachfragen zu müssen, wusste Mikkel sofort, was Tjark meinte, allerdings war er noch nicht so weit gewesen, es zu formulieren und die richtigen Schlüsse ziehen zu können. »Stimmt. Dann probiere ich es so. Denn eins ist sicher: Wir müssen Marlene stoppen, ehe noch etwas passiert und sie jemanden verletzt.«
»Jo!«
Die nächsten beiden Brötchen verschlangen sie in Rekordzeit. Tjark tippte auf die Tüte mit der Bestellung von Rasmus. »Du weißt schon, dass er sich was anderes vorstellt?«
»Sicher. Aber ich mache mich doch hier nicht zum Affen! Was soll denn Fiete von mir denken?«
Tjark grinste breit. »Und genau deswegen habe ich Rasmus ignoriert. Du wirst ja sehen, was passiert, wenn du damit ankommst.«
»Lass mich raten: Er wird mit Todesverachtung und mit ganz viel Geseufze das Brötchen so akzeptieren und es dann mindestens so schnell aufessen wie wir.«
Tjark lachte. »Exakt so und nicht anders.«
»Lass uns mal zurückfahren«, schlug Mikkel schließlich vor, obwohl er gerne den Rest des Tages hier gesessen hätte. Doch so würde er Marlene oder ihre Mutter niemals überführen.
Tjark brummte eine Zustimmung, stand auf, suchte ihren Müll zusammen und stopfte alles in eine Papiertüte, die er im Mülleimer entsorgte.
Mikkel hätte schwören können, dass die große Möwe, die sich betont unauffällig in ihrer Nähe aufgehalten hatte, sie beleidigt ansah.
Mikkel war gerade in die Straße eingebogen, über die sie in einer Viertelstunde Büsum erreichen würden, als sein Handy vibrierte. Tjark hielt sein eigenes Smartphone bereits in der Hand und wischte übers Display. »Planänderung. Fahr mal zu Fabian. Annika hat uns Bilder von einem Motorrad geschickt. Die Beschreibung passt, aber Fabian kann die Kiste bestimmt sicher identifizieren.«
»Wo muss ich hin?«
»Ich sag dir rechtzeitig Bescheid, wenn du …« Das Handy vibrierte wieder. »Nächste Planänderung! Gib Gas. Annika ist in Schwierigkeiten!«
Mikkel trat das Gaspedal durch. Als vor ihm ein Kombi langsam dahin tuckerte, sorgte er mit Hupe und Fernlicht dafür, dass der Fahrer ihm Platz machte. Als er das Ziel erreicht hatte, stoppte er Hedwig mitten auf dem Fußweg direkt neben Annikas Motorrad. Tjark sprang raus, als der Wagen noch rollte und Mikkel folgte ihm nur einen Sekundenbruchteil später.
Eine ältere Dame stellte sich ihm in den Weg. »Es riecht hier so angebrannt. Das ist ja schon ein bisschen merkwürdig, denn …«
»Rufen Sie die Feuerwehr«, brüllte Mikkel ihr zu und sprintete an ihr vorbei.
Im Garten standen ein Schuppen und ein angrenzender Carport bereits in Flammen. Wenn Annika da noch drin war, dann …
Tjark und Mikkel ließen sich weder von der Hitze noch dem Qualm aufhalten und rannten über den Rasen. Plötzlich tauchte mitten in dem Flammenmeer ein schwarzer Umriss auf, der direkt auf sie zuflog.
Tjark warf sich zur Seite und in letzter Sekunde gelang auch Mikkel ein Hechtsprung, der ihn außer Reichweite des Geschosses brachte, das auf sie zuraste.
Ein Geländemotorrad bremste dicht neben ihm so stark, dass es umkippte. Tjark erreichte den Fahrer als Erster und riss ihm den Helm herunter.
»Annika!«
Hustend versuchte sie sich aufzurichten und schaffte es mit Tjarks Hilfe. »Das war knapp«, brachte sie halbwegs verständlich hervor.
Mikkel fehlten noch die Worte. Schließlich legte er ihr eine Hand leicht auf die Schulter. »Genialer Stunt, aber in Zukunft nur noch mit Partner. So was halten meine Nerven nicht aus. Lass mich raten, du hast dich drinnen umgesehen und dann hat jemand gezündelt.«
»Ganz genau. Ich hätte auch einen Tipp. Marlene soll sich regelmäßig um die Blumen kümmern und mittags hier vorbeischauen.«
Da das Heulen von Martinshörnern stetig lauter wurde, musste er die Feuerwehr wohl nicht mehr alarmieren. Er holte dennoch sein Handy hervor, wählte die Nummer des Hotels und erkundigte sich nach Marlene. Wie erwartet war sie nicht im Haus. An ihnen rannten Feuerwehrmänner in voller Montur vorbei, die einen Schlauch mit sich führten.
»Macht mal Platz«, rief ihnen einer zu.
Tjark hob das Motorrad auf und schob es zur Seite.
»Brauchst du einen Arzt?«, erkundigte sich Mikkel mit reichlicher Verspätung.
»Nee. Bis auf ein paar blaue Flecken geht’s mir gut, aber mein Stolz hat ziemlich was abbekommen. So ein Mist.«
»Ach was. Ich bin einfach nur froh, dass du da heil rausgekommen bist. Das hätte auch schiefgehen können.«
Ihr Lächeln war reichlich wackelig. »Ist es aber nicht.«
Sie schielte zu dem Schuppen hinüber, den die Feuerwehrleute gerade löschten.
»Wie gut, dass das Ding weit genug von den Hühnern und dem Haus weg ist«, stellte Tjark fest. Mikkel fand die Reihenfolge richtig und nickte. »Kannst du Annika nach Hause fahren? Ich schnappe mir ihr Motorrad und sehe bei deinem Kumpel vorbei?«
Tjark sah ihn verblüfft an. »Andersrum. Du fährst sie nach Hause und ich checke, ob das da unser gesuchtes Motorrad war. Bis ich dir erklärt habe, wo du das Ferienhaus findest, ist Weihnachten.«
Annika verschränkte die Arme vor der Brust. Die drohende Geste wurde allerdings durch einen Hustenanfall stark abgeschwächt. »Hallo? Ich bin hier! Redet nicht, als ob ich nicht anwesend wäre! Und ich kann wunderbar alleine nach Hause fahren.«
Mikkel ignorierte sie und blickte Tjark an. »So können wir es auch machen. Alternativ stecken wir sie wegen Verdacht auf Rauchvergiftung in einen Krankenwagen und …«
Annika schnaubte. »Ist ja gut. Ich habe es verstanden. Da draußen ist so eine Nachbarin, die alles weiß. Wir sollten sie fragen, ob sie Marlene gesehen hat.«
»Guter Punkt«, lobte Mikkel. »Ich wette, sie steht vorm Haus und beobachtet die Feuerwehr.«
Wenige Minuten später hatten sie die gewünschte Bestätigung, dass Marlenes Motorroller noch vor wenigen Minuten neben Annikas Enduro geparkt hatte, ehe sie dann sehr schnell wieder weggefahren war. Nun noch eine Identifizierung der Geländemaschine, mit der Frau von Wotersen bedroht worden war, und sie hatten genug Argumente für einen Durchsuchungsbeschluss.