Kapitel 31                         

Rieke war länger als geplant geblieben und es wurde Zeit, dass sie sich im Revier zurückmeldete. Besonders, nachdem Heiko ihr eine kurze Zusammenfassung über das gefundene Motorrad und den Brandanschlag gemailt hatte. Das Gespräch mit Konrad und ihrer Mutter hatte sie nicht direkt weitergebracht, doch sie sah die Vergangenheit nun klarer. Vieles war bisher verschwommen gewesen – eine Mischung aus verfälschten Erinnerungen, Ärger und tatsächlichen Ereignissen. Sie hatte es richtiggehend verdrängt, wie eng Marlene und sie befreundet gewesen waren. Damals hatte Marlene häufig die Nachmittage und auch die Nächte bei Rieke verbracht. Sie hatten sich so nahe gestanden wie Schwestern und alles geteilt. Dann hatte es plötzlich geendet. Statt die Sache zu hinterfragen und vielleicht in Ordnung zu bringen, war Rieke einfach nur verletzt gewesen und hatte sich neuen Freunden zugewendet. Dann war ihr Vater gestorben und die Monate nach seinem Unfall waren wie in einem dichten Nebel verborgen. Rieke hatte seit Jahren nicht mehr daran gedacht, doch da war diese eine Nacht gewesen, als Marlene weinend an der Hintertür gestanden hatte. Rieke hatte sie schroff abgewiesen, weil die Trauer um ihren Vater alles beherrscht hatte. Danach waren sie sich aus dem Weg gegangen und es hatte nur für oberflächliche Floskeln gereicht. Daran hatte sich bis heute nichts geändert. Doch nun musste Rieke herausfinden, was ihre ehemalige Freundin damals gewollt hatte. Ihr Gefühl sagte ihr, dass dies die Antwort auf viele Fragen war.

Rieke verabschiedete sich von den beiden, winkte auf dem Parkplatz einem Feriengast zu und fuhr los. Sie hatte es so eilig, dass die Reifen im Sand durchdrehten. Doch kaum war sie von der Stichstraße, die zu dem alten Haus führte, auf die breitere und gut ausgebaute Landstraße abgebogen, bremste sie wieder und sah nachdenklich zu dem Gebäude hinüber, in dem früher Marlene und ihre Mutter gewohnt hatten. Spontan setzte sie den Blinker und fuhr zu dem reetgedeckten Haus. Als sie den Mini sah, der dort parkte, atmete sie tief durch. Der Wagen gehörte Marlene. Damit war wohl die Zeit für ein klärendes Gespräch gekommen. Sie stoppte neben dem Kleinwagen.

Kurz überlegte sie, ob sie tatsächlich aussteigen sollte, denn ihre Dienstwaffe lag sicher verstaut im Schließfach auf dem Revier. Im Gegensatz zu Mikkel hatte sie keinen Grund gesehen, die Pistole zu tragen. Nun bereute sie ihre Entscheidung. Tief durchatmend stieg sie aus. Schließlich war sie auch ohne Pistole nicht komplett wehrlos und außerdem war sie es sich und auch ihrer alten Freundin schuldig, die Sache zu klären.

Vor dem Haus war niemand. Rieke musterte den Vorgarten und die Tür. Alles war neu und sah sehr gepflegt aus. Soweit sie wusste, hatte ein Paar aus Hamburg das alte Gebäude gekauft und mit viel Aufwand renoviert. Rieke ging den Weg entlang, der zum Eingang führte, und umrundete dann das Haus, um in den Garten zu gelangen. Dort fand sie Marlene, die auf einem Holzstuhl saß und auf einen blühenden Busch starrte, der mitten auf dem Rasen wuchs.

Rieke ging zu ihr und setzte sich auf den Stuhl neben ihrer ehemaligen Freundin. Die Gartenmöbel samt dem dazu passenden Tisch sahen genauso teuer aus wie eigentlich alles. Nichts erinnerte mehr an die Umgebung, in der Marlene ihre Kindheit verbracht hatte.

»Hat sich alles ganz schön verändert«, begann sie das Gespräch.

»Es stinkt nach Geld, aber ich muss zugeben, dass die neuen Besitzer Geschmack haben. Es gefällt mir.«

Rieke nickte. »Mir auch. Denkst du noch oft an früher? Mir ist erst heute bewusst geworden, wie viel ich verdrängt habe.«

Marlene ballte die Hände zu Fäusten. »Ich habe versucht, nicht mehr an früher zu denken.«

»Das heißt aber nicht, dass es dir gelungen ist.«

»Manchmal ja, manchmal nein. Warum bist du hier?«

»Weil ich wissen will, was mit dir los ist. Du und Eric?« Rieke betonte die Frage exakt so, wie sie früher über ihre Schwärmereien für Filmstars gesprochen hatten.

Marlene stieß einen Laut aus, der irgendwo zwischen Lachen und Schluchzen lag. »Ja. Ich hatte gedacht, alles wird jetzt gut.«

»Und was ist passiert, nachdem du den Schlafstrandkorb verlassen hast?«

Marlene sprang so schnell auf, dass der Stuhl hinter ihr zu Boden krachte. Ihre Unterlippe zitterte. »Das klingt so, als ob du nicht glaubst, dass ich ihn getötet habe.«

Rieke hatte Mühe, ruhig zu bleiben. Sie war so kurz davor. »Ich weiß, dass du ihn nicht getötet hast, weil du ihn geliebt hast. Wir wissen beide, wer ihn ermordet hat. Warum? Und wie lange soll das noch so weitergehen?«

Jede Trauer oder Unsicherheit verschwand aus Marlenes Miene. »Du weißt gar nichts!«

»Dann erkläre es mir!« Rieke stand auf und stützte die Hände auf den Tisch. »Eine Frau mit dem Motorrad und einem Messer zu bedrohen?« Sie schnaubte verächtlich. »Früher wäre dir was Besseres eingefallen!«

Marlene drehte sich um, hob den Stuhl auf und setzte sich wieder. »Ich habe Mist gebaut, weil ich Angst hatte und sauer war.«

»Erklär es mir! Wieso sind Katharina von Wotersen und ich an Erics Tod schuld? Weil ich dich damals weggeschickt habe? Ich konnte nicht mehr klar denken und stand komplett neben mir.«

Das Flackern in Marlenes Blick verriet ihr die Wahrheit. Rieke nickte langsam. »Gut, dann haben wir einen Punkt geklärt. Den haken wir ab, die kaputte Tür ist repariert. Haken wir ebenfalls ab.«

Sichtlich überrascht sah Marlene sie nun direkt an. Rieke nickte noch einmal bewusst kräftig. »Mein Wort drauf. Das war damals falsch von mir. Ich hätte zumindest später zu dir gehen müssen. Dass ich selbst komplett neben der Spur war, ist zwar eine Erklärung, aber dennoch kein Grund. Es tut mir leid, dass ich nicht für dich da war.«

»Ich bin ja zuerst gegangen.«

»Stimmt. Und ich habe nie begriffen, warum.«

Marlene fuhr wieder hoch. »Ich hatte nach der Ausbildung so viele Jobangebote! Weißt du eigentlich, dass ich Hotel-Management studiert habe? Ich hätte ins Ausland gehen können. Aber nein, ich bin brav hiergeblieben und arbeite an der Rezeption. Wenn ich gegangen wäre, dann wäre ich heute so ähnlich wie Katharina von Wotersen drauf. Nicht ganz so reich, aber schon sehr ordentlich. Und was habe ich stattdessen?« Sie warf die Hände in die Luft. »Den Mann verloren, mit dem ich noch einmal neu anfangen wollte! Und ich habe ziemlichen Mist gebaut, der mich endgültig meine Zukunft kosten wird. Erreicht habe ich damit exakt nichts, denn meine Mutter ist nun trotzdem alleine und ich kann sie nicht …« Eine einzelne Träne lief ihre Wange hinab. Sie kniff die Lippen zusammen. »Ist auch egal. Ich soll nachher auf dem Revier erscheinen und dein neuer Chef wird mich garantiert nicht mehr gehen lassen.«

»Wegen des Angriffs auf Katharina von Wotersen?«

»Ja. Mir ist schon klar, dass sie mich wiedererkannt hat. Ich will es aber auch gar nicht leugnen. Das ist schon okay, denn mittlerweile weiß ich, dass ich nur einen Sündenbock gesucht habe, und da bot sich Katharina von Wotersen eben an.«

Rieke verbarg ihre Überraschung. Das war ein lupenreines Geständnis, doch wie passte das zu dem Anschlag auf Annika? »Das verstehe ich und du hast gute Chancen, mit einem blauen Auge davonzukommen, wenn du dem Richter und dem Staatsanwalt beschreibst, wie es dir ging. Aber was ist mit dem Brand?«

»Was für ein Brand?«

»Marlene! Wenn ich dir helfen soll, musst du ehrlich zu mir sein. Annika wäre beinahe in dem brennenden Schuppen umgekommen.«

Entweder lieferte Marlene gerade eine oscarreife Vorstellung ab oder sie hatte das Feuer nicht gelegt. Sie wirkte durch und durch ehrlich ratlos. »Warst du heute bei Harald Wilfang, dem ehemaligen Motorradweltmeister?«, fragte Rieke schließlich gezielt nach.

»Nein. Wieso denn auch? Ich war gestern da und habe die Tiere gefüttert und die Pflanzen gegossen.« Verständnis dämmerte in ihrer Miene. »Hat es dort gebrannt? Ich war das nicht. Aber ich sag dann lieber nichts mehr.«

»Wenn du es nicht warst, wissen wir beide, wer es war. Du musst jetzt alle Karten auf den Tisch legen.«

»Das kann ich nicht.«

»Wenn du es nicht tust, sterben noch mehr Menschen.«

Marlenes verschlossene Miene sprach für sich.

Seufzend breitete Rieke die Hände aus. »Fahr mit mir aufs Revier. Ich versuche alles, damit dir die U-Haft erspart bleibt.« 

Wie erwartet nickte Marlene sofort. So war es schon früher gewesen. Zu dem Mist, den sie verzapft hatte, stand sie, aber sie war keine Petze. Leider war das hier eine andere Dimension als ein harmloser Schülerstreich.