Mikkel verbarg sein Staunen, dass im Revier nicht nur Rieke, sondern auch Marlene bereits auf ihn wartete. Obwohl es Annika nicht gepasst hatte, hatte er sie bei ihrem Mann abgeliefert und dafür gesorgt, dass sie sich den Rest des Tages freinahm und sich ausruhte. Egal, wie sehr sie es herunterspielte, weder die ausgestandene Angst noch die höllische Fahrt mit dem Geländemotorrad durch die Flammen waren etwas, das man mal eben so abschüttelte. Jakob hatte das genauso gesehen und erstaunlicherweise hatte Annika auf ihn gehört und ihre Proteste eingestellt.
Er nickte Rieke zu und musterte Marlene prüfend. Ein Gedanke nagte an ihm, den er zunächst nicht zu fassen bekam, dann fiel ihm ein, was ihn störte. Vor dem Revier stand der Mini, der auf sie zugelassen war. Da Heiko Marlene bereits durch alle Datenbanken gejagt hatte, wusste er, dass sie auch noch einen Roller fuhr. Für ihn hatte sich damit der Verdacht gegen sie erhärtet, denn sie hätte gewusst, wie sie die Bremsleitung manipulierte, und natürlich besaß sie auch eine Fahrerlaubnis für Motorräder.
»Ich dachte, wir wären später verabredet«, begann er das Gespräch.
Marlene nickte stumm, stattdessen antwortete Rieke. »Wir haben uns zufällig getroffen und ich habe sie überredet, mitzukommen. Sie möchte dir, also uns, etwas sagen.«
»Meinetwegen. Eine Frage vorweg: Sie sind mit dem Wagen hier? Nicht mit Ihrem Roller?«
»Ja. Ich musste heute Morgen ein paar schwere Sachen mit ins Hotel nehmen, da ist es praktischer, wenn ich …« Sie stoppte mitten im Satz. »Wieso ist das wichtig?«
»Hier läuft es heute so, dass ich die Fragen stelle. Haben Sie Ihren Roller heute bewegt?«
»Nein. Ich war nur im Hotel, bin in der Mittagszeit etwas durch die Gegend gefahren und habe dabei Rieke getroffen.«
Nun hatte Mikkel Mühe, zu verbergen, dass gerade sein Bild von ihr gehörige Risse bekommen hatte. Doch sofort passte er ihre Theorie an die neuen Erkenntnisse an. Wenn nicht Marlene mit dem Roller unterwegs gewesen war und den Brand gelegt hatte, dann blieb nur eine Person übrig: Britt Rahlsen.
»Geht schon mal in mein Büro. Ich habe noch etwas für Heiko.«
Mikkel wartete, bis die Tür geschlossen war. »Fahr bitte zum Brandort. Dort gibt es eine ältere Dame, die behauptet hat, Marlene und ihren Roller gesehen zu haben. Hake da mal bitte nach.«
»Ist klar. Ich weiß, was du meinst. Ich werde sie besonders nach der Figur der Fahrerin fragen! Schließlich hat die Mutter ein paar Kilos mehr, die sie auf die Waage bringt. Nebenbei wette ich einen ordentlichen Betrag darauf, dass der Roller noch heute von der alten oder der jungen Rahlsen als gestohlen gemeldet wird.«
»Da halte ich nicht gegen.«
»Wat’ nen Schlangennest. Ich beneide dich nicht um dein Gespräch mit der Tussi.«
Mit einem Nicken in Richtung Sönke verabschiedete sich Heiko und verließ das Revier.
So ganz unrecht hatte Heiko mit seiner Einschätzung nicht. Die vor ihm liegende Vernehmung würde kein Vergnügen werden.
Er betrat sein Büro und setzte sich hinter den Schreibtisch. Die beiden Frauen wirkten auf ihn plötzlich wieder befreundet und beinahe vertraut. Diese Entwicklung überraschte ihn.
»Kann ich anfangen?«, fragte Marlene überraschend zurückhaltend.
»Sicher.«
»Ich war wieder mit Eric zusammen, auch in der Nacht, bevor er ermordet wurde. Ich war das nicht. Ich habe ihn geliebt und hätte ihm nie wehtun können. Wir haben Zukunftspläne gemacht. Ja, ich war mit seinem Job nicht einverstanden, aber er hatte mich davon überzeugt, dass ich keinen Anlass zur Eifersucht hatte.«
»Wenn Sie mit ihm zusammen waren, als er ermordet wurde, müssen Sie etwas gesehen haben.«
»Nein, da war ich nicht mehr dort. Ich hatte irgendetwas gegessen, dass mir nicht bekommen war. Der Abend war wunderschön, bis mein Magen verrückt spielte. Gegen halb eins hat Eric mir ein Taxi gerufen und ich bin nach Hause gefahren. Er wollte unbedingt mit, doch das wollte ich nicht. Es war mir peinlich, dass ich ständig am Würgen war und zur Toilette stürzen musste. Ich wollte einfach nicht, dass er mich so sieht. Wir mussten ziemlich lange warten, bis der Wagen kam, aber Eric ist nicht von meiner Seite gewichen. Dann bin ich nach Hause und er zurück zum Korb.«
»Wann haben Sie von seinem Tod erfahren?«
Ein Schleier schien sich über ihre Miene zu legen.
Rieke sprang auf. »Marlene! Es hat doch keinen Sinn. Du musst jetzt die Wahrheit sagen.«
Ehrliches Bedauern zeigte sich bei Marlene, doch sie schüttelte den Kopf. »Nein, das muss ich nicht. Ich kann auch einfach die Aussage verweigern. Es tut mir leid, Rieke. Ich würde es gerne tun, dir zuliebe, aber ich kann es einfach nicht. Es geht nicht.«
Mikkel interpretierte ihre Worte so, dass sie ihre Mutter nicht beschuldigen wollte. In der Tat war es so, dass der Gesetzgeber vorsah, dass man gegen engste Familienangehörige nicht aussagen musste, wenn man sie dadurch belastete. »Dann weiter im Text. Was war das auf dem Deich mit dem Motorrad?«
»Das war ich und es tut mir ganz fürchterlich leid. Den ganzen Tag war ich zwischen Trauer und Wut hin- und hergerissen. Ich wollte sie aber nicht wirklich verletzen oder anders ausgedrückt: Ich bin wirklich und ehrlich froh, dass der Mann dazwischen gegangen ist. Das war, als ob jemand einen Schleier von meinen Augen entfernt hat. Ich hätte ja theoretisch das Messer werfen können, habe ich aber nicht.«
Mikkel beugte sich etwas vor. Merkwürdigerweise glaubte er ihr jedes Wort und erinnerte sich an eine Situation, in der er selbst einmal beinahe falsch abgebogen wäre. »Was war denn das für eine Waffe?«
»Ich weiß nicht, wie das Ding heißt. Es hängt sonst bei uns am Kamin.«
Riekes Kopf fuhr hoch. »Das Teil in der geschnitzten Scheide, das deinem Vater gehört hat?«
»Ja, genau das. Es stammt aus Marokko und ist höllisch scharf.«
»Wie ist dein Verhältnis zu Wilfang, dem ehemaligen Motorradweltmeister?«
Marlene grinste Rieke spöttisch an und einen Moment lang bekam Mikkel einen Eindruck, wie die Mädchen früher miteinander umgegangen waren. »Ich weiß, was er ist. Wir haben uns durch Zufall kennengelernt, als ich mit meinem Roller mal nachts liegen geblieben bin. Wir haben uns gut verstanden und angefreundet. Er hat mir eine Menge Tricks mit dem Motorrad beigebracht und ich habe ihm beim Schrauben geholfen. Ich hätte mit ihm nach Mallorca fahren sollen, aber da war ja Eric. Harald hat mich übrigens überzeugt, ihm eine Chance zu geben. Tja, da hat er wohl falschgelegen. Und nun würde ich gerne wissen, was es mit dem Schuppen und meinem Roller auf sich hat.«
Rieke sah ihn fragend an. Langsam nickte er.
Ohne auf Details einzugehen, fasste Rieke die Ereignisse zusammen. Mit jedem Wort wurde Marlene blasser.
Mikkel gab ihr keine Möglichkeit, sich zu erholen, sondern tippte heftig auf sein Notebook. »In amerikanischen Serien dauert es nur Minuten, bis die Spurensicherung alles ausgewertet hat, in Deutschland ungefähr vierundzwanzig Stunden. Wir haben schon jede Menge Indizien, die auf Ihre Mutter hindeuten. Nicht mehr lange und wir haben Beweise. Wollen Sie wirklich so lange warten? Sie wissen doch selbst, dass es jederzeit noch mehr Tote geben kann!«
»Sie übertreiben!«, schrie Marlene und in ihren Augen funkelten Tränen.
»Wenn ein Kollege nicht zufällig ein wenig Ahnung von Technik hätte, wäre Ellie jetzt auch tot!«, schoss Mikkel zurück.
»Ellie?«, keuchte Marlene.
Mikkel lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. »Es bringt nichts, wenn Sie sich die Realität zurechtlügen. Wir wissen alle, was tatsächlich passiert ist.« Er stieß sich mit Schwung ab, sprang auf und stemmte die Hände auf die Tischplatte. »Hier, auf Fehmarn und auf Sylt!«
Marlene zuckte zurück, als ob er sie geschlagen hätte. »Ich kann nicht …Ich muss …« Sie verstummte.
Rieke fasste nach ihrer Hand. »Du musst nur eins tun: Dich von allem befreien. Wir helfen dir.«
Marlene schüttelte den Kopf, aber das wirkte mechanisch, einstudiert, nicht mehr überzeugt. »Kann ich heute Nacht bei dir schlafen? Ich möchte nicht nach Hause.«
Rieke nickte, deutete aber auf Mikkel. »Wenn mein Chef zustimmt, geht das klar.«
»Kommt drauf an. Was war das gestern mit der Haustür von Rieke? Wollen Sie heute das ganze Haus auseinandernehmen?«
Marlene lief knallrot an. »Nein, für den Schaden komme ich natürlich auch auf. Ich fühlte mich von Rieke für eine Sache verraten und habe ihr in gewisser Weise eine Mitschuld an allem gegeben. Aber das ist geklärt.«
»Rieke?«, fragte Mikkel. Rieke nickte und er entnahm ihrem Blick, dass er zustimmen sollte. »Na gut. Meinetwegen. Aber der Mini bleibt hier stehen. Du nimmst deine Waffe mit und passt auf, dass sie nicht in falsche Hände gerät. Ich möchte nicht, dass irgendjemand weiß, wo sich Marlene aufhält. Ist das klar?« Das Unausgesprochene ›vor allem die Mutter nicht‹ war überlaut zu hören.