Kapitel 38                         

Riekes Gedanken überschlugen sich, während sie sich das ins Gedächtnis zurückrief, was sie über traumatische Erlebnisse und verdrängte Erinnerungen wusste. Sie spürte, dass dies bei Marlene zutraf und vieles erklären würde. Doch ihre ehemalige Freundin brauchte noch einen gehörigen Schubs, ehe auch sie die Realität so sah, wie sie nun einmal war.

Innerlich korrigierte Rieke sich und strich das Wort ›ehemalig‹. Eigentlich waren sie auf dem besten Wege, wieder Freundinnen zu werden, doch sie fragte sich, wie Marlene darauf reagieren würde, wenn Rieke sämtliche Ereignisse zu einem Gesamtbild zusammenfügte, dass Marlenes Mutter als das zeigte, was sie war: Eine Serienkillerin, wenn auch eine psychisch gestörte. Doch keine Krankheit der Welt rechtfertigte diese Taten.

Zunächst bemühte sie sich um einen ruhigen, gelassenen Ton. »Ich weiß, wie wir alle deine Fragen zu deinem Vater beantworten und klären können.«

Jedenfalls hoffte sie, dass sie das tun konnten. Denn letztlich hatte sie die Nachricht von Konrad nur überflogen, in der er die Akte und den brisanten Inhalt beschrieben hatte.

Marlene sah sie ungläubig an. »Wie soll denn das gehen? Meine Mutter hat ihn vertrieben und mit irgendwelchen Lügengeschichten von mir ferngehalten.«

Es kostete Rieke einige Anstrengung, ihre gelassene Miene beizubehalten. Sie war definitiv auf dem richtigen Weg. Marlene hatte sich einige Dinge so zurechtgebastelt, dass sie in ihre Realität passten. Doch sie war sicher, dass Marlene viel zu intelligent war, um ihr Lügengebilde nicht zumindest unterbewusst zu durchschauen. Rieke nahm ihr Handy vom Tisch und wählte Konrads Nummer. Als er sich meldete, verzichtete sie auf jede Begrüßung. »Passt es dir, wenn Marlene und ich uns mal die Unterlagen ansehen, die du heute geholt hast?«

»Ja, natürlich. Wir sitzen noch bei einem Glas Wein auf der Terrasse. Kommt einfach dazu.«

Rieke trennte die Verbindung, stand auf und steckte das Telefon in die Tasche ihrer Jeans. »Komm. Unten gibt’s Wein, frische Luft und die Wahrheit über deinen Vater.«

Marlenes leichtes Zusammenzucken verriet Rieke, dass sie den ersten empfindlichen Treffer gelandet hatte. Sie rechnete schon damit, dass Marlene zurückrudern würde, doch obwohl ihre Hand deutlich zitterte, erhob sie sich ebenfalls.

»Ja. Lass uns alles klären«, sagte sie so leise, dass Rieke sie kaum verstand.

 

Auf der Terrasse sah Konrad ihnen entgegen. Vor ihm lag ein Pappordner, der einen ganzen Stapel Blätter enthielt.

»Setzt euch«, bat er. »Martha ist drinnen, um Gläser und eine neue Flasche zu holen.« Er tippte auf die leere Flasche neben seinem Stuhl. »Diese haben wir schon geleert.« Mit einem herzlichen Lächeln sah er Marlene an. »Ich freue mich, dass du runtergekommen bist. Das ist sehr mutig. Und eins möchte ich dir schon jetzt sagen: Wir alle, damit meine ich Martha, Rieke und natürlich mich, sind für dich da. Ganz egal, was heute Abend passiert.«

Diese Art, auf andere einzugehen und ihnen ein Gefühl von Sicherheit zu geben, war schon immer eine seiner größten Stärken gewesen. Rieke hatte in den letzten Jahren unzählige Male verfolgt, wie kleine Straftäter am Ende eines Gespräches froh waren, ihre Verbrechen zugegeben zu haben. Plötzlich war sie sicher, mit Konrad an ihrer Seite, den Fall endgültig klären zu können – und Marlene zu helfen.

Martha kehrte mit einem voll beladenen Tablett zurück, stellte Marlene und Rieke zwei Gläser hin und füllte sie.

»Es ist unglaublich, dass ihr nun schon alt genug seid, um mit uns ein Glas Wein zu trinken. Mir kommt es vor wie gestern, dass ich euch mit einem warmen Kakao verwöhnt habe.«

Sie prosteten sich zu und dann war es Marlene, die auf die Akte deutete. »Was hat das mit meinem Vater zu tun?«

Konrad zog ein Bild aus dem Stapel hervor und legte es vor ihr auf den Tisch. »Kommt dir dieses Gesicht bekannt vor?«

Marlenes weit aufgerissene Augen beantworteten die Frage, noch ehe sie nickte. »Ja, ich kenne ihn. Wenn ich an meinen Vater denke, habe ich dieses Gesicht vor Augen. Es verschwimmt alles. Es gibt da Szenen, in denen er mit mir lacht, dann lange nichts. Irgendwann verspricht er mir, dass alles gut wird, doch dann ist er einfach weg. Ich habe so lange gehofft, dass er wiederkommt, aber das ist er nicht.«

Konrad stellte sein Weinglas zur Seite und sah Marlene direkt an. »Das hat er bestimmt vorgehabt, doch er konnte es nicht.«

Marlene war blass geworden und wich Konrads Blick aus.

Rieke schlug mit der flachen Hand leicht auf den Tisch. »Keine Ausflüchte und keine Ausreden, Marlene! Du wirst die Augen nicht länger vor der Wirklichkeit verschließen!«

»Wieso konnte er nicht?«, fragte Marlene und schien Riekes Worte gar nicht wahrgenommen zu haben.

Konrad beugte sich etwas vor. »Eigentlich müsste ich dich das doch fragen. Du weißt doch, was damals passiert ist. Erinnere dich an den Freitag vor nun mehr fast fünfundzwanzig Jahren. Dein Vater ist zu euch ins Haus gekommen. Er hat sich gefreut, dich zu sehen, aber auch deiner Mutter Vorwürfe gemacht, dass er sie so lange suchen musste. Und jetzt bist du dran.«

Etliche Sekunden starrte Marlene an Konrad vorbei, dann sackte sie ein wenig zusammen. »Sie haben sich gestritten. Ich musste ins Kinderzimmer und sie sind in die Küche. Doch ich bin ganz leise die Treppe wieder herunter und habe sie gehört. Mama wollte, dass er geht, doch er hat sich geweigert. Er hat zu ihr gesagt, dass sie krank wäre und dass er mich mitnehmen würde.« Ihre Stimme klang wie die eines Kindes. Marlene hielt die Tischplatte so fest umklammert, dass ihre Knöchel weiß hervortraten. »Es wurde immer lauter. Dann hat Papa gebrüllt, als ob er sich wehgetan hat und dann hat es gepoltert. Ich habe vor Schreck ganz laut geschrien. Plötzlich war Mama da und hat mit mir geschimpft. Ich musste hoch. Mama hat mich am Arm gepackt und es hat wehgetan. Dann hat sie mich bis zum nächsten Morgen eingeschlossen. Danach durfte ich nie wieder von Papa reden, weil er uns verlassen hat.« Sie sog heftig Luft durch die Nase ein. »Ich habe die ganzen Jahre nicht mehr daran gedacht. Aber das Bild. Es hat alles zurückgebracht. Nun erinnere ich mich an den Tag.«

Konrad fasste über den Tisch nach Marlenes Hand und löste behutsam ihren Griff. »Du warst damals gerade fünf Jahre alt. Sei nicht zu streng zu dir.«

Marlenes Unterlippe zitterte. »Er ist nie zurückgekehrt, weil sie ihn umgebracht hat.«

Rieke ging auf das Offensichtliche nicht ein. »Was war auf Sylt? Du erinnerst dich doch noch an Björn, den Surflehrer?«

»Natürlich. Er hat mich an Eric erinnert. Aber damit lag ich falsch. Wir haben nur einen Abend miteinander verbracht, denn mir war sofort klar, dass er der falsche Typ für eine richtige Beziehung ist. Er hat sich von älteren Damen aushalten lassen, also so richtig, und ansonsten auch nichts anbrennen lassen. Es war lustig mit ihm, wir haben gelacht und viel Spaß gehabt. Und das war es auch, was wir beide wollten: Einfach ein bisschen Spaß haben. Mehr nicht.«

Marlene schwieg und starrte an Konrad vorbei in die Ferne.

Überraschenderweise war es Martha, die nun die Initiative ergriff. »Spaß ist erlaubt, daran ist nichts Böses. Was ist dann passiert?«

Marlene räusperte sich. »Ich weiß es nicht genau. Es gab da einen Abend, an dem er einen Gast ins Hotel begleitet hat. Also nur bis ins Foyer. Ich kam da zufällig lang. Und Björn hat mich so begrüßt, wie man es eben tut, und gefragt, ob wir uns noch sehen könnten. Ich habe gar nicht bemerkt, dass sie auch da war und auf mich gewartet hat. Am nächsten Tag ist Björn ermordet worden, den Täter hat man nie gefasst.«

Rieke biss sich auf die Lippen, um nicht nachzufragen, ob Marlene da keinen Verdacht geschöpft hatte. »Und später dann auf Fehmarn war es das Gleiche?«

»Nicht ganz. Ich hatte mich mit Thies verabredet, denn er war sehr um mich bemüht, sah gut aus und gefiel mir. Aber am Abend habe fürchterliche Magenschmerzen bekommen und bin ins Bett gegangen. Am nächsten Tag dann …« Ihre Stimme brach.

»Magenschmerzen«, wiederholte Rieke. »Wie bei Eric.«

Marlene nickte. »Auf Fehmarn hatte ich das erste Mal einen Verdacht, den aber als Hirngespinst abgetan. Schließlich war sie damals noch auf ihren Rollator angewiesen.«

Martha nickte energisch. »Natürlich hast du das! Das ist ja auch so absurd, dass man es nicht wahrhaben will. Das ist völlig verständlich. Aber nun ist doch wohl alles klar, oder?«

Rieke wagte es nicht zu atmen, doch Marlene nickte. »Ja. Ich weiß, dass sie panische Angst davor hatte, dass ich sie verlasse, aber ich hätte nie gedacht, dass sie so weit gehen würde. Als es mit Eric ernst wurde, habe ich alles getan, um das vor ihr zu verbergen. Vielleicht habe ich es doch geahnt. Aber es hat nicht gereicht.«

Langsam stieß Rieke die angehaltene Luft aus. »Es war kein Zufall, dass dir schlecht geworden ist.«

Marlene ballte die Hände zu Fäusten. »Nein. Sie hatte mich zum Abendessen eingeladen und einen Salat gemacht.«

»Warum hatte sie es jetzt auf Eric abgesehen und damals nicht, als ihr das erste Mal zusammen gewesen seid?«

Nachdem sie einen großen Schluck Wein genommen hatte, atmete Marlene tief durch. »Es hat erst nach der Diagnose angefangen. Vorher hat sie nur gegen Eric gehetzt. Mit Worten. Das war alles. Sylt war zwei Wochen, nachdem der Arzt ihr das Ergebnis der Untersuchung mitgeteilt hat. «

Mehr musste sie nicht sagen. »Ich verstehe«, sagte Rieke, und das meinte sie auch so. Natürlich hatte sie keinerlei Verständnis für die Morde, doch Auslöser und Motiv waren nun deutlich erkennbar.

Impulsiv fasste sie nach Marlenes Hand. »Es tut mir so unendlich leid für dich. Das Ganze. Ich begreife gar nicht, wie du bei unserem Treffen im Hotel die Fassung behalten konntest.«

»Habe ich gar nicht. Ich war total schockiert und habe nur noch geheult, nachdem ihr weg wart. Es ging ja nicht nur um Eric, plötzlich war alles klar, aber ich wollte es nicht sehen. Bis heute habe ich erfolgreich verdrängt, was ich eigentlich wusste. Trotzdem war es natürlich da und lauerte im Hintergrund. Ich bin heilfroh, dass es nun raus ist. Was passiert mit ihr?«

Rieke fiel auf, dass Marlene ihre Mutter kein einziges Mal mehr so bezeichnet hatte. Sie räusperte sich und sah Konrad an, der ihr leicht zunickte. »Nun, wir werden …«

Weiter kam sie nicht. Wie aus dem Nichts stürmte eine Gestalt hinter dem alten Apfelbaum hervor und kam erst direkt hinter Martha zum Stehen. Ehe Rieke reagieren konnte, presste Britt Rahlsen ihrer Mutter ein Messer an den Hals.

»Es wird Zeit, dass wir gehen, mein Kind«, sagte Britt und klang so normal, als ob es sich um einen Freundschaftsbesuch handeln würde.