Es war stockdunkel. Nur die flackernde Flamme einer Petroleumlampe, deren Docht Tjark jedoch maximal heruntergedreht hatte, spendete etwas Licht. Der Wind hatte zugenommen und die Wellen schlugen hinter dem Deich lautstark an den Strand.
Mikkel und Tjark saßen schweigend auf der Terrasse. Es war alles zwischen ihnen gesagt und in stiller Einigkeit saßen sie hier und warteten darauf, dass auf Mikkels Handy eine Nachricht einging. Sie wollten wissen, ob Marlene ihre Verletzung überleben würde. Erst dann war an Schlaf zu denken. Die Entwarnung bezüglich des Zustands von Britt Rahlsen war bereits vor über einer Stunde erfolgt. Tjark hatte die Information nicht einmal mit einem Brummen gewürdigt. Das sagte alles.
Mikkel war erstaunt gewesen, wie offen Tjark seiner Frau sämtliche Ereignisse des Abends erzählt hatte, war jedoch nicht eingeschritten. Nachdem er sie darauf hingewiesen hatte, dass er Hansi die Exklusivstory versprochen hatte, war sie sehr nachdenklich geworden und schließlich reingegangen.
Im Wohnzimmer hinter ihnen ging das Licht an. Blinzelnd setzte Mikkel sich gerader hin, als Silvia mit ihrem Notebook in der Hand die Terrasse betrat. Sie platzierte das Gerät vor Mikkel. »Bitte einmal querlesen und freigeben.«
Erstaunt las Mikkel die Überschrift. Silvia hatte den Artikel im Namen von Hansi geschrieben und wollte ihn auf seiner Seite veröffentlichen. Fragend sah er sie an. »Ist das denn überhaupt erlaubt? Ich meine wegen Urheberrecht und so.«
»Weiß ich nicht, aber mir erscheint es fair. Und er hat sich so gefreut, dass er fast aus dem Bett gesprungen wäre. Allerdings ist er mitten in der Diskussion mit Heiko eingeschlafen. Ich soll dir ausrichten, dass Heiko und Heike nun auch nach Hause fahren und er sich morgen früh meldet.«
Mikkel sah auf die Uhr. Bereits halb eins und er hatte noch keine Sekunde geschlafen. Gähnend machte er sich daran, den Artikel zu lesen, und hatte keinerlei Einwände. »Passt für mich.« Er wollte das Gerät hochheben, drückte dabei aber aus Versehen eine Taste des Mausfelds und stellte es schnell wieder ab. »Ups. Ist jetzt was passiert?«
Silvia lachte leise. »Nun ja, du kannst es jetzt einfach zuklappen, denn du hast den Artikel gerade online gestellt. Das System ist ein wenig doof. Frag mich aber nicht, was das rechtlich heißt: Hansis Name steht drüber, ich hab’s geschrieben und du gepostet.«
Mikkel zog es vor, nicht darüber nachzudenken. »Das ist eine wirklich nette Geste von dir«, sagte er stattdessen.
»Reine Notwehr. Morgen werden sich alle Medien auf den Fall stürzen und Hansi hätte keine Chance gehabt, da mitzuhalten.«
»Und was ist mit dir? Wolltest du nicht auch darüber schreiben?«
Silvia winkte lässig ab. »Ich kloppe mich doch nicht mit den anderen um die Nachrichten und bringe die neunzigste Fassung des gleichen Sachverhalts. Mir geht es um andere Aspekte und darum kümmere ich mich, wenn ihr zur Ruhe gekommen seid. Mich reizt zum Beispiel diese Vermisstengeschichte, also wie alles begann.«
Mikkel seufzte. »Morgen geht die Suche auf dem Grundstück von Marlene und Britt los, also dort, wo sie früher gewohnt haben. Wir sind sicher, dass wir auf die Leiche von Marlenes Vater stoßen werden, der wohl Britts erstes Opfer war. Es ist mir ein Rätsel, dass der Sache damals nicht richtig nachgegangen wurde.«
Silvia stand auf. »Ich hole Getränke und komme dann wieder. Was deine Frage angeht, habe ich eine Theorie.«
Als sie zurückkehrte, balancierte sie ein gefülltes Rotweinglas und zwei kleinere Gläser mit einer braunen Flüssigkeit in den Händen.
Mikkel schnupperte an dem Getränk und nickte. Das roch wie ein hochklassiger Rum. Er prostete den beiden zu und sie tranken zunächst in Ruhe einen Schluck. Der Rum war so gut, wie er es gehofft hatte. Eine milde Schärfe, kombiniert mit einem Hauch Honig und irgendwie auch einem Holzaroma. Er musste unbedingt nach der Marke fragen.
Als Silvia ihr Glas abgestellt hatte, atmete sie tief durch. »Ich kannte Britt nur vom Sehen, ich hätte nicht mal ihren Namen gewusst, aber diese Verbrechen hätte ich ihr niemals zugetraut. Ich wette, so ging es damals dem zuständigen Polizisten auch. Ich glaube, der Fall hat’s gar nicht bis zur Kripo geschafft. Wer sollte sich schon für einen unbekannten Mann, den niemand richtig gesehen hatte, interessieren? Es gab doch nur die Nachfrage seiner Schwester, die lediglich die Adresse kannte, zu der er unterwegs gewesen war. Ich finde das damalige Verhalten zwar schlampig, aber auch nachvollziehbar. Vermutlich werden wir die Geschichte dahinter nie erfahren, aber ich will wenigstens versuchen, herauszufinden, woher Britt und Marlenes Vater sich kannten, wieso sie sich getrennt haben und so weiter. Mich interessiert das wirklich.«
Ihn weniger, aber ihm gefiel es, dass Silvia weder wie einer dieser Sensationsreporter unterwegs war, noch einfach nur Reuters-Meldungen abtippte. »Meinst du, die Leute wollen das lesen?«
»Ja, ich denke schon. True Crime und deren Hintergründe zieht ordentlich und ich habe einen guten Draht zum Stern .«
»Na dann. Viel Glück bei deinen Recherchen. Wenn ich dir helfen kann, sag es.«
»Mache ich.«
Bisher hatte Tjark schweigend getrunken, nun beugte er sich etwas vor und durchbohrte Mikkels Handy förmlich mit Blicken. »Für Marlene wäre es wichtig, das alles zu erfahren.«
Da gab Mikkel ihm sofort recht. Er wollte ihn gerade damit aufziehen, dass er das Gerät nicht zwingen konnte, eine Nachricht anzuzeigen, als eine eingeblendet wurde.
Drei Köpfe schossen nach vorne und drohten zusammenzustoßen. Mikkel entsperrte lediglich das Display und ließ das Handy auf dem Tisch liegen, sodass jeder mitlesen konnte. Die Worte stammten von Konrad und waren denkbar knapp: »Stabil. Noch 24 h unsicher, aber Ärzte sind optimistisch. Rieke schläft hier auf den Bänken im Wartebereich. Wir sehen uns morgen.«
»Das war’s dann und ihr könnt auch endlich ins Bett«, stellte Silvia fest.
Tjark brummte und Mikkel schloss sich ihm an. An diese Art der Verständigung konnte er sich durchaus gewöhnen. Schließlich war damit alles gesagt.