Silvia starrte auf das Display ihres Notebooks. Das Bild bei google earth war nicht misszuverstehen. Klein Wöhrde war … klein. Sehr klein.
Sie lehnte sich in dem Gartenstuhl zurück und genoss die spätsommerliche Sonne. Die Terrasse von Anna und Andi war ein buntes Durcheinander von Töpfen mit blühenden Pflanzen. Zum Garten gehörte ein Rasen, der gemäht werden musste, das Ganze war umgeben von Büschen und Stauden, deren Namen sie nicht kannte. Alles ein wenig unordentlich und wild und gerade deshalb mit einem ganz eigenen Charme. So ähnlich würde sie ihren Garten auch haben wollen. Aber eins nach dem anderen. Haus und Garten standen gemeinsam mit passendem Partner ganz hinten auf ihrer persönlichen To-do-Liste. Erst mal musste sie ihr Leben ordnen und das nach Möglichkeit in Klein Wöhrde, dem Ort mit Hafen und geschätzten fünf Häusern.
Einige Mausklicks später atmete sie auf. Eigentlich war es ein Wunder, dass dort eine Übernachtungsmöglichkeit existierte. Aber laut google gab es eine Pension, sogar mit eigener Homepage und einigen sehr netten Bildern. Und einen alten Gasthof, der allerdings nicht sonderlich einladend wirkte. Die Bilder von einem Hafen und der rote Krabbenkutter, der dort lag, gefielen ihr jedoch auf Anhieb. Und Schafe am Deich. Das musste ein Zeichen sein, dass ihre Entscheidung richtig war. Sie würde nach Klein Wöhrde fahren. Ehe sie es sich anders überlegen konnte, wählte sie die Nummer der Pension.
Eine Frau, nett, aber außer Atem meldete sich. Es gab noch genau ein freies Zimmer, aber bei der Frage nach ihrer Ankunft geriet Silvia ins Stottern. »Ähm, übermorgen?«
Das klang zwar mehr nach einer Frage als einer Auskunft, aber ihre Gesprächspartnerin war zufrieden. »Und wie lange möchten Sie bleiben?«
Dieses Mal musste sie keine Sekunde überlegen. »Vier Wochen. Vielleicht auch länger.«
Schweigen. Sehr langes Schweigen. Dann die Bestätigung. »Falls es zu einer Verlängerung kommt, können wir auch gerne über die Konditionen reden«, bot die Dame an, deren Namen sie nicht richtig mitbekommen hatte. Müller? Meier?
»Das wäre schön. Bis übermorgen«, verabschiedete sich Silvia kurz angebunden. Das war vielleicht nicht nett, aber notwendig, denn sonst überlegte sie es sich doch noch anders und beobachtete Krähen. Aber was wollte sie eigentlich in Klein Wöhrde? Vielleicht Möwen – weiße statt schwarzer Vögel – beobachten? Objektiv betrachtet war ihr Vorhaben Wahnsinn. Einen Plan hatte sie nicht, nicht einmal eine Vorstellung, was sie dort machen sollte. Vielleicht wäre es besser … Stopp, es war wieder Zeit für ihr Hilfsmittel.
Sie holte aus der Notebooktasche die Postkarte mit dem Schaf. Wieder nahm sie die friedliche und vor allem zufriedene Stimmung gefangen. Wenn schon ein Foto dieses Gefühl auslöste, müsste die merkwürdige kleine Stadt der ideale Ort sein, um ihr Leben wieder in den Griff zu bekommen. Zeit genug hatte sie, sechs Wochen, um genau zu sein. Diese Zeitspanne hatte sie Anna zu verdanken, die mit einer Ärztin befreundet war.
Einen Vormittag hatte sie in einer luxuriösen Privatklinik direkt an der Ostsee verbracht, unzählige Fragen beantwortet und einen gründlichen Gesundheitscheck überstanden. Um die nervigen Untersuchungen war Silvia nicht herumgekommen, obwohl sie sämtliche Register gezogen hatte. Aber Anna war erbarmungslos gewesen und für einen richtigen Streit hatte Silvia die Energie gefehlt. Am Ende hatte eine Diagnose gestanden, die irgendwo zwischen totaler körperlicher Erschöpfung und Burn-out lag. Als Belohnung für ihre Geduld beim Blutdruck messen, Blut abnehmen, der mörderischen Stippvisite auf dem Hometrainer und was sonst noch auf dem Programm gestanden hatte, erhielt sie die benötigten gelben Zettel, die ihr den Job sicherten – sofern sie ihn dann noch haben wollte. Ihr Job … nicht einmal für eine kurze Mail mit »Gute Besserung« hatte es bisher gereicht. Nur für eine knappe Nachfrage nach der letzten Version ihrer Präsentation über Kosteneinsparungen. Es war Zeit für einen weiteren Blick aufs Schaf!
Als sie Schritte hörte, rechnete sie mit Anna, die bisher in der Küche gewerkelt und keinerlei Hilfe akzeptiert hatte. Irrtum, es war Andi, ihr Mann. Mit den feuchten Haaren, der Tarnhose und dem schwarzen T-Shirt verkörperte er alles, was sie ablehnte. Bundeswehr. Aber er sah dabei verdammt gut aus. Mit einer Flasche Bier in der Hand setzte er sich auf einen freien Stuhl ihr gegenüber.
»Störe ich?«, erkundigte er sich mit reichlicher Verspätung.
»Und wenn? Soll ich dich von deiner eigenen Terrasse vertreiben?«
Er grinste und sah dabei noch besser aus. Ihre Freundin hatte mit ihm wirklich Glück gehabt. In jeder Beziehung. Sie war nie neidisch gewesen, aber so etwas hätte sie auch gerne. Später!, ermahnte sie sich. Erst einmal standen Schafe in Klein Wöhrde auf dem Programm. In vier oder sechs Wochen würde sie dann hoffentlich wissen, was sie mit ihrem Leben anfangen wollte. Dann konnte sie sich Gedanken über einen Wohnort, ein Haus, einen Hund und vielleicht auch über einen Mann machen. Und das alles genau in dieser Reihenfolge.
Als sie bemerkte, dass Andi sie immer noch ansah, wurde sie verlegen. »Du störst natürlich nicht!«, versicherte sie für alle Fälle. »Bist du auch aus der Küche geflogen?«
»Ja, hochkant. Ich überlege, wie ich dich etwas frage.«
»Schieß einfach los.«
»Also gut. Schreibst du wieder?«
Einen Moment lang wusste sie nicht, was er meinte. Schon viel zu lange hatte Anna ihren gemeinsamen Blog alleine mit Beiträgen gefüttert. Dabei hatte es auch Silvia immer unheimlich viel Spaß gemacht, auf Missstände bei der Bundeswehr hinzuweisen. Vielleicht war das ihr erster und entscheidender Fehler gewesen: Sie hätte niemals die Seiten wechseln sollen! Von denen, die schreiben, zu denen, die den Verlag steuerten oder wohl eher verwalteten.
»Noch nicht, aber ich werde wieder beginnen.« Dass sie sich dazu erst in dieser Sekunde entschlossen hatte, erwähnte sie nicht.
»Gut. Ich hätte da ein Thema. Was sagt dir PTBS?«
»Posttraumatische irgendwie- oder irgendwas Störung. Betroffen davon sind überwiegend Soldaten, die im Kampfeinsatz waren, aber auch Polizisten, Opfer von Straftaten und so weiter.«
»Richtig. Diese Krankheit ist mittlerweile einigermaßen bekannt und anerkannt. Aber es wird nirgendwo darüber geredet, wie viele Soldaten unter den Folgen ihres Job leiden und die Symptome eben nicht für PTBS ausreichen. Ohne Diagnose keine Behandlung.« Er breitete die Hände aus. »Da gibt es alle möglichen Ausfallserscheinungen, vom Quartalssäufer, den die Bilder aus Afghanistan regelmäßig einholen, bis hin zum Feldwebel, der zwei Monate vor Erreichen des Dienstendes alles hinschmeißt und auf seine Pension verzichtet.«
Oder denjenigen, die im Bett liegen blieben und einen entscheidenden Termin verpassten, weil sie lieber Krähen beobachteten. Die Parallelen lagen auf der Hand. »So ähnlich wie bei mir. Es reicht nicht für ein richtiges Burn-out oder bei deinen Fällen für ein richtiges PTBS.«
»Genau daran dachte ich. Ich würde mich nie in euren Blog einmischen, aber falls du ein Thema suchst, wäre das vielleicht was und ich wäre froh, wenn das mal angesprochen wird.«
Früher hatte sie das Gefühl geliebt, mit ihren Artikeln etwas zu bewegen. Wann hatte sie das zum letzten Mal gehabt? Es war so lange her, dass sie sich nicht daran erinnern konnte. Erst durch Andis Frage erkannte sie, wie sehr ihr das Schreiben gefehlt hatte. Sie nickte, so heftig, dass ihre Haare durch die Gegend flogen.
»Die Story bekommst du«, versprach sie.
»Story? Ich hatte an einen Beitrag auf eurem Blog gedacht.«
»Mal sehen, das Thema ist wichtig. Nicht jeder hat eine Freundin, die sie aus dem Bett zerrt. Ich denke darüber nach.«
Andi lächelte und blickte dann auf die Postkarte mit dem Schaf. »Willst du immer noch an die Nordsee? Du kannst gerne hierbleiben, so lange du willst.«
»Das ist lieb, aber ihr habt schon genug getan, den Rest muss ich alleine schaffen. Ich habe eben gerade das Zimmer gebucht.«
Überrascht sah Andi sie an. »Und wo?«
»In Klein Wöhrde.«
»Kenn ich nicht.«
Silvia grinste schief. »Kein Wunder, das Kaff hat einen Hafen, eine Pension und eine Handvoll Häuser. Und Schafe. Und das Meer.«
»Hört sich nicht so schlecht an, wenn man in Ruhe nachdenken will. Aber hast du dir auch überlegt, wie du da hinkommen willst?«
Nein, hatte sie natürlich nicht. Da Beamen ausschied, brauchte sie eine andere Möglichkeit. »Ich, äh … Bahn?«
Andi winkte ab. »Das dürfte dann eine Tagestour werden. Wie wäre es, wenn wir dich hinfahren? Abholservice auf Anruf inklusive.«
»Das ist nett, aber …«
Andi ließ sie nicht ausreden, sondern hob entschieden eine Hand. »Keineswegs ein großes Opfer, sondern ein netter Ausflug, denn ich mag das Meer.«
Die Ausrede war dann doch zu billig. »Das du rein zufällig jeden Tag siehst, weil ihr in Rostock stationiert seid.«
Andi verzog keine Miene, aber seine blauen Augen funkelten amüsiert. »Es kann auch nur jemand aus München die Ostsee mit der Nordsee vergleichen. Das sind zwei völlig unterschiedliche Sachen oder hast du an der Ostsee schon mal Deiche und Schafe gesehen?«
Mit einem voll beladenen Tablett betrat nun auch Anna die Terrasse und hatte offenbar die letzten Worte gehört. »Natürlich fahren wir dich hin. Und wenn mir das Kaff nicht gefällt, nehmen wir dich auch gleich wieder mit.«
Das klang, als ob sie ein unmündiges Kind wäre. Eigentlich hätte sie dazu einiges zu sagen gehabt, aber Anna knallte ihr schon das Geschirr und das Besteck vor die Nase. »Verteilen. Bitte«, befahl ihre Freundin.
Silvia verdrehte die Augen. »Du hast dir eindeutig den Offizierston deines Mannes angewöhnt!«, beschwerte sie sich, griff aber bereits nach den Tellern.
Anna grinste nur. »Von wegen, den konnte ich schon vorher, das lernt man als Mutter in Rekordzeit.«
Ein weiteres Mal gratulierte sie ihrer Freundin gedanklich. Als alleinerziehende Mutter einen Mann zu finden, der die Tochter wie ein eigenes Kind liebte und behandelte, war nicht selbstverständlich. Dass er dazu auch noch verdammt gut aussah, eine nette und charmante Art hatte, ließ sie über den einzigen Kritikpunkt hinwegsehen: Wieso musste er ausgerechnet bei der Bundeswehr sein? Anna und sie hatten sich durch ihren Blog einen Namen als Kritiker des Ladens gemacht und nun hatte ihre Freundin ausgerechnet einen Soldaten geheiratet.
Als sie sämtliches Geschirr auf dem Tisch arrangiert hatte, fiel ihr auf, dass ein Punkt nicht geklärt war, der sie schon immer interessiert hatte. Fragend sah sie Andi an. »Bei welcher Einheit bist du eigentlich? Marine, denn Rostock ist doch ein Marinestützpunkt, oder?«
Statt ihr zu antworten, drehte Andi sich um und schien sich zu vergewissern, dass sie keine Zuhörer hatten. Unwillkürlich lachte Silvia. »Was kommt denn jetzt? Du tust ja, als ob du beim KSK wärst und es keiner erfahren soll«, zog sie ihn auf.
Überraschenderweise blieb Andi ernst. »Genauso ist es und Charlie und Michi sollten das besser nicht wissen. Noch nicht jedenfalls.«
Silvia starrte ihn mit offenem Mund an. Sie war so überrascht, dass sie ihn fast gefragt hätte, wer denn Charlie und Michi sind. Dabei kannte sie natürlich Annas Tochter, zugleich ihre Patentochter, und deren Freund. Sie schluckte und räusperte sich sicherheitshalber. »Das sollte ein Scherz sein! Ich hätte nicht gedacht, dass … ausgerechnet Anna, die doch …« Spezialeinheiten oder genauer deren Mitglieder hasste. Aber das sagte sie besser nicht. Dennoch schien Andi zu ahnen, was sie gemeint hatte.
»Für mich hat sie eine Ausnahme gemacht«, erklärte er und zwinkerte ihr zu.
Zum Glück kehrte Anna mit zwei Schüsseln zurück und pfiff laut. »Ich hätte nicht gedacht, dass du es ihr sagst. Aber ein Glück, dass ich endlich wieder offen mit meiner ältesten und liebsten Freundin reden kann. Ich habe schließlich nicht nur für dich, sondern auch einer ganzen Menge deiner Freunde meine Prinzipien über Bord geschmissen. Aber nun lasst uns das Thema wechseln. Das Gepoltere auf der Treppe heißt, dass die Kinder gerochen haben, dass das Essen fertig ist.«
Die Kinder sorgten mit Kommentaren über Annas Kochexperiment für reichlich Ablenkung, die Silvia gut gebrauchen konnte. Sie wusste nicht, ob sie sich über Annas bisherige Verschwiegenheit ärgern oder über Andis Offenheit freuen sollte. Andererseits war es ja ihre Schuld gewesen, dass sie die Hochzeit der beiden versäumt hatte, weil ihr eine Geschäftsreise wichtiger gewesen war.
»Mist, ich hätte damals nie nach Brüssel fahren dürfen«, stellte sie fest. Erst als sich alle Blicke auf sie richteten, merkte sie, dass sie ihren Gedanken laut ausgesprochen hatte.
Anna prostete ihr mit ihrem Weinglas zu. »Stimmt, aber das ist Vergangenheit, die kannst du nicht ändern. Konzentrier dich auf die Zukunft und sei nicht sauer auf mich. Es war seine Sache, nicht meine.«
»Was ist los?«, fragte Charlie nach.
»Nichts!«, wehrte ihre Mutter ab. »Hast du dir eigentlich deine Hände vorm Essen gewaschen?«
Auch diese Ablenkung funktionierte, aber im Gegensatz zu dem Mädchen hatte Silvia die Botschaft verstanden und konnte mit Annas Verschwiegenheit leben.
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Liebe & Meer - Silvie und Tjark