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Masken
»Ich sage das nicht leichthin«, erklärte Magnus, »aber … Ta-daa!«
Magnus hatte sie zu den Läden der Mercerie mitgenommen und ihnen ein extravagantes Shopping-Erlebnis in Aussicht gestellt. Alec war schon zuvor mit Magnus einkaufen gewesen, sodass er sich mit dem Ablauf inzwischen recht gut auskannte. Er wartete in jedem Geschäft mit einem halben Dutzend Tüten, während der Hexenmeister so gut wie alles anprobierte, was das Sortiment hergab – von traditionellen Herrenanzügen über den Traje de luces
der Stierkämpfer bis hin zu etwas, das verdächtig an eine mexikanische Mariachi-Tracht erinnerte. Da einfach jeder Stil und jede Farbe mit seinen dunklen Haaren und den goldgrünen Katzenaugen harmonierten, war Alec sich nie sicher, wonach genau Magnus suchte. Doch für was auch immer er sich letztendlich entschied: Es würde definitiv gut aussehen.
Das jetzige Outfit stellte keine Ausnahme von dieser Regel dar. Magnus trug eine schwarze Lederhose, deren Material sich so eng um seine langen, athletischen Beine schmiegte, dass es aussah, als hätte man sie in Tinte getaucht. Sein Gürtel wirkte wie eine Metallschlange, wobei die Glieder an Schuppen erinnerten und die Schnalle den Kopf einer Kobra nachbildete,
mitsamt Augen aus Saphir. Sein mit indigoblauen Pailletten besetztes Shirt war nachtblau, und der Wasserfallausschnitt fiel so tief, dass er nicht nur den Blick auf Magnus’ Schlüsselbeine freigab, sondern auch auf einen langen Streifen nackter Haut.
Magnus drehte sich im Kreis und betrachtete sich dann prüfend im Spiegel. Dabei wandte er Alec den Rücken zu, dem bei diesem Anblick buchstäblich die Spucke wegblieb.
»Ich finde, du siehst … gut aus«, brachte er schließlich hervor.
»Irgendwelche Bedenken?«
»Na ja, die Hose würde vermutlich bei einem Kampf deine Bewegungsfreiheit einschränken. Aber du musst ja auch nicht kämpfen. Ich kann für dich kämpfen, wenn es dazu kommen sollte«, sagte Alec.
Magnus wirkte so verblüfft, dass Alec sich fragte, ob er etwas Falsches gesagt hatte. Doch dann entspannten sich Magnus’ Gesichtszüge. »Ich weiß dein Angebot zu schätzen! Und jetzt«, fügte er hinzu, »werde ich nur noch eine Sache anprobieren.« Er verschwand wieder in der Umkleidekabine.
Als Nächstes erschien er in einem kragenlosen Anzug mit dazu passendem asymmetrischem kurzem Cape, das lässig von seinen Schultern hing. Shinyun präsentierte sich in einem Gewand, das wie eine Kombination aus Rüstung und Hochzeitskleid aussah.
Fünf Minuten nachdem sie den ersten Laden betreten hatten, war Alecs Wahl auf einen von Magnus als Gehrock bezeichneten Mantel gefallen, lang und schwarz, mit mittellangen Schößen. Der Gehrock war flexibel genug, um sich damit ungehindert bewegen und kämpfen zu können, und locker genug, um darunter Alecs Stele und Seraphklingen zu verstauen. Magnus hatte vorgeschlagen, dass Alec etwas Farbenfreudigeres anprobieren sollte, doch auf seine ablehnende Reaktion hin hatte Magnus das Thema fallen gelassen. Das Hemd, das Alec sich ausgesucht hatte, war aus Seide und tiefblau – die Farbe seiner Augen
.
Nachdem Shinyun einige eher dezente Kleider anprobiert hatte, war ihr Blick auf Magnus gefallen, der gerade aus der Umkleidekabine stolziert kam – in einem goldenen Anzug, dessen Design vage an die Grabkammer eines ägyptischen Pharaos erinnerte. Daraufhin hatte sich Shinyun in einem raffinierten pfirsichfarbenen Hanbok
gezeigt. Magnus machte ihr ein paar Komplimente, und damit war das Rennen eröffnet.
Shinyun schien auf einen Wettbewerb mit Magnus aus zu sein – und vielleicht war es ja typisch für Hexenwesen, miteinander konkurrieren zu wollen. Allerdings hatte Alec noch nicht viele kennengelernt, daher konnte er es natürlich nicht genau sagen.
Er versuchte, sich wegen Shinyun keine allzu großen Gedanken zu machen. Es war klar, dass Magnus sie mochte, aber Alec kam sich in Gegenwart von Fremden immer unbeholfen vor – und er legte keinen Wert darauf, während ihrer romantischen Reise noch unbeholfener zu wirken als sonst schon. Wie sollten Magnus und er sich besser kennenlernen, wenn immer ein fünftes Rad am Wagen dabei war?
Wahrscheinlich war der Vorsatz, sich keine Sorgen zu machen, von vornherein zum Scheitern verurteilt. Doch Alec tat sein Bestes, sich seine Besorgnis wenigstens nicht anmerken zu lassen.
Jetzt stupste er die staunende Verkäuferin neben sich an. »Woher haben Sie diese Kostüme?«
Die junge Frau schüttelte den Kopf und antwortete in vorsichtigem Englisch: »Keine Ahnung. Ich habe keines dieser Kleidungsstücke je zuvor gesehen.«
»Ach«, sagte Alec, »wie seltsam.«
Zu guter Letzt erschien Magnus in einem glänzenden weißen Anzug, der mit schimmernden Drachenschuppen besetzt zu sein schien und ihn in ein schillerndes Licht hüllte. Darüber trug er einen elfenbeinfarbenen Umhang, der ihm bis zu den Knien reichte. Der Kragen seines Hemds war geöffnet, und der
gekräuselte perlweiße Stoff hob sich deutlich von seiner braunen Haut ab.
Auch Shinyun hatte beschlossen, alle Register zu ziehen, und trug jetzt ein reich verziertes schwarzes Kleid mit breiten Bändern, die um ihre Hüften geschlungen waren. Kunstvolle silberne Ranken hingen von ihrem Hals bis zum Boden, und hinter ihrem Kopf stieg eine Blumenfontäne empor.
Die beiden baten Alec um Hilfe bei der endgültigen Auswahl ihrer Masken. Magnus musste sich zwischen einer goldenen Maske mit halbkreisförmig aufgefächerten orangefarbenen Federn und einer spiegelnden silbernen Augenmaske entscheiden, die fast zu grell war, um sie anzusehen. Shinyun konnte zwischen einer schlichten Vollmaske aus Marmor oder einer dünnen, schmucklosen Maske aus Draht wählen, die kaum etwas verbarg – beides ironische Alternativen. Alec entschied sich bei Magnus für die silberne Maske und wählte für Shinyun das Drahtgeflecht aus, was diese mit einem Hauch von Befriedigung über ihrem teilnahmslosen Gesicht befestigte.
»Du siehst gut aus«, teilte Magnus ihr mit. Dann wanderte sein Blick zu Alec, und er reichte ihm eine seidene Halbmaske in der tiefblauen Farbe der Dämmerstunde. Alec nahm sie entgegen, woraufhin Magnus lächelte und erklärte: »Und du bist einfach perfekt. Lasst uns aufbrechen!«
Die Dämmerung lag wie ein Schleier über der Stadt. Der Palazzo war mit Fackeln geschmückt, die hoch oben an den Wänden flackerten. Weißer Nebel hing in der Luft, schlängelte sich um die Säulen und legte sich wie eine Decke über die Kanäle, was der Stadt einen unheimlichen Glanz verlieh. Alec konnte nicht sagen, ob es sich um Magie handelte oder ob der Nebel natürlichen Ursprungs war.
An der Marmorfassade des Gebäudes funkelten unzählige
kleine Lichter, die im Minutentakt die Worte NIE WIEDER VALENTINSTAG bildeten.
Auch wenn Alec kein Fan großer Partys war, konnte er den Anlass für dieses Fest nachvollziehen.
Er hatte gekämpft, um Valentin Morgenstern aufzuhalten, und hätte sein Leben dafür geopfert. Allerdings hatte er sich kaum Gedanken darüber gemacht, welche Einstellung Schattenweltler im Allgemeinen zu Valentin hatten – der sie für unrein gehalten und versucht hatte, den Makel ihrer Existenz von der Erde zu tilgen. Jetzt erst erkannte Alec, wie verängstigt und verbittert die Schattenweltler gewesen sein mussten.
In den Reihen der Schattenjäger gab es viele gefeierte Krieger. Aber Alec hatte sich bisher gar nicht bewusst gemacht, wie es für die Schattenwesen sein musste, einen Schattenweltlersieg und eigene Sieger zu haben – nicht nur aus einem Clan oder einer Familie oder einem Rudel, sondern Kriegshelden, die der gesamten Schattenwelt gemeinsam gehörten.
Allerdings hätte er noch mehr Verständnis aufgebracht, wenn das Werwolf-Sicherheitsteam nicht darauf bestanden hätte, ihn abzutasten. Zweimal! Die Sicherheitsleute schienen nicht allzu streng zu sein, bis sie Alecs Runenmale entdeckten.
»Das ist lächerlich«, fauchte er. »Ich habe in dem Krieg gekämpft, dessen Sieg ihr feiert. Und zwar auf der Seite der Sieger«, fügte er schnell hinzu.
Man hatte den Sicherheitschef herbeigerufen, den größten der Werwölfe – vermutlich eine sinnvolle Wahl, dachte Alec – , der jetzt mit leiser Stimme verkündete: »Wir wollen einfach Ärger vermeiden.«
»Ich habe nicht vor, Ärger zu machen. Ich bin einzig und allein zum Feiern hier«, erklärte Alec nachdrücklich.
»Und ich dachte, es würden gleich zwei von euch auftauchen«, murmelte der Werwolf
.
»Was?«, fragte Alec. »Zwei Schattenjäger?«
Der Werwolf zuckte seine kräftigen Schultern. »O Gott, hoffentlich nicht.«
»Bist du endlich fertig mit meinem Tanzpartner?«, mischte Magnus sich ein. »Ich verstehe ja, dass es nicht leichtfällt, die Finger von ihm zu lassen, aber ich muss jetzt wirklich darauf bestehen.«
Der Sicherheitschef zuckte erneut die Achseln und winkte sie durch. »Na gut, dann rein mit euch.«
»Danke«, sagte Alec leise und wollte nach Magnus’ Hand greifen. Die Sicherheitskräfte hatten Alecs Pfeil und Bogen beschlagnahmt. Das störte ihn jedoch nicht allzu sehr, da sie die sechs Seraphklingen und vier Dolche übersehen hatten, die er ebenfalls verdeckt am Körper trug. »Diese Leute sind unmöglich.«
Magnus machte einen Schritt zur Seite, sodass Alecs Hand ins Leere griff.
»Ein paar von diesen Leuten sind meine Freunde«, sagte Magnus. Doch dann zuckte er die Achseln und fuhr mit einem kurzen Lächeln fort: »Ein paar von meinen Freunden sind allerdings unmöglich.«
Alec war nicht ganz überzeugt. Der Abstand zwischen ihren Händen verstörte ihn. Gemeinsam betraten sie die glitzernde Villa – allerdings mit einer unterschwelligen, kühlen Distanz zwischen sich.