12
Schreite sanft
Im großen Ballsaal wurde der Kaiserwalzer von Johann Strauss gespielt. Magnus sah Hunderte maskierter Personen in prächtigen Kostümen. Sie drehten sich im Takt der Musik, die um sie herum nicht nur zu hören, sondern auch zu sehen war: Als hätte man sie von einem Notenblatt gepflückt und freigelassen, schwebten schwarze Noten auf geschwungenen Notenlinien durch die Luft und wanden sich um die glitzernden Masken und kunstvollen Frisuren der tanzenden Paare.
Auch die Sternbilder an der Decke bewegten sich zum Rhythmus – nein, sie bildeten das Orchester und formierten sich zu Konstellationen, die Personen und Instrumente darstellten. Die Waage spielte die erste Geige, mit dem Großen Bären direkt daneben an der zweiten Geige. Der Adler hatte die Bratsche übernommen, während der Skorpion sich über die Bassgeige beugte. Orion spielte das Cello, und Herkules hatte die Schlaginstrumente vor sich. Die Sterne spielten, während die maskierten Paare tanzten und die Musiknoten zwischen ihnen schwebten.
Magnus betrat die breite Treppe aus Carrara-Marmor, die vom Foyer in den Ballsaal hinabführte, während Alec und Shinyun ihm wie zwei Leibwächter nicht von der Seite wichen
.
»Prinz Adaon!«, rief Magnus, als er einen Freund in der Menge erkannte.
Prinz Adaon, dessen Schwanenmaske sich wundervoll von seiner dunklen Haut abhob, schenkte Magnus über die Köpfe seiner Höflinge hinweg ein freundliches Grinsen.
»Du kennst einen Elbenprinzen persönlich?«, fragte Alec.
»Mit den meisten Prinzen des Dunklen Hofs würde ich kein Wort wechseln«, erklärte Magnus. »Du kannst dir nicht vorstellen, was sie alles aushecken. Sie können nur froh sein, dass es im Feenreich keine Boulevardpresse gibt. Adaon ist der Beste der gesamten Truppe.«
Als sie sich dem Fuß der Treppe näherten, kam ihnen ein weißhaariger Mann in einem lavendelblauen Smoking und El-Muerto-Vollmaske entgegen. Magnus grinste.
»Unser Gastgeber, wie ich vermute?«
»Wie kommst du darauf?«, fragte der Mann mit leicht britischem Akzent.
»Wer sonst könnte so eine Party schmeißen? Alle Achtung – du hast wirklich alle Register gezogen. Aber nur die Hälfte aller Register zu ziehen wäre im Grunde ja auch nicht der Mühe wert.« Magnus beugte sich vor und schüttelte ihm die Hand. »Malcolm Fade. Es ist lange her, dass wir uns gesehen haben.«
»Kurz vor der Jahrtausendwende. Ich erinnere mich daran, dass du damals eine besonders abgerissene Modephase in deinem Leben durchgemacht hast.«
»Ja. Man nannte das ›Grunge‹. Es hat mich überrascht, als ich hörte, dass du nach Los Angeles gezogen bist. Wo man dich zum Obersten Hexenmeister gemacht hat.«
Malcolm hob die Maske an, sodass Magnus sein Lächeln sehen konnte: immer freundlich – und zugleich von tiefer Traurigkeit erfüllt.
»Ich weiß. Diese Narren.
«
»Nachträglich meinen herzlichsten Glückwunsch«, sagte Magnus. »Wie geht’s dir? Ich sehe dir an, dass du an irgendetwas gearbeitet hast – aber ganz eindeutig nicht an deiner Sonnenbräune.«
»Ach, ich beschäftige mich mit vielen Dingen, darunter auch mit der Planung von Partys.« Malcolm deutete auf die Szenerie im großen Ballsaal. Obwohl er den geistesabwesenden Gastgeber hervorragend gab, kannte Magnus ihn schon viel zu lange, um ihm das abzunehmen. »Es freut mich, dass dir meine kleine Soiree gefällt.«
Zwei Personen kamen hinter Malcolm die Stufen hinauf: eine blauhäutige Elfe mit lavendelfarbenen Haaren und Schwimmhäuten zwischen den Fingern sowie ein vertrautes Gesicht. Johnny Rooks Sonnenbrille thronte auf seiner Nasenspitze – was vernünftig war, sofern man Sonnenbrillen im Inneren eines Gebäudes und bei Nacht generell für eine vernünftige Idee hielt. Magnus sah, dass sich Rooks Augen weiteten, als er sein Gegenüber erkannte; dann wandte er hastig den Blick ab.
»Ach, kennt ihr euch? Falls nicht, müsst ihr einander unbedingt kennenlernen«, sagte Malcolm abgelenkt. »Das hier ist Hyacinth, meine unentbehrliche Partyplanerin. Und Johnny Rook. Ich bin mir sicher, dass auch er für irgendjemanden unentbehrlich ist.«
Magnus deutete auf seine Begleiter. »Alexander Lightwood, Schattenjäger, vom New Yorker Institut, und Shinyun Jung, geheimnisvolle Kriegerin mit geheimnisvoller Vergangenheit.«
»Wie geheimnisvoll …«, setzte Malcolm an, doch dann wurde seine Aufmerksamkeit durch die Ankunft mehrerer Paletten Frischfleisch abgelenkt. Hilflos schaute er sich um. »Weiß irgendjemand, was mit all diesem rohen Fleisch geschehen soll?«
»Das ist für die Werwölfe.« Hyacinth winkte den Lieferanten zu sich heran. »Ich kümmere mich darum. Allerdings wird deine Anwesenheit im Salon dringend benötigt.
«
Sie legte die Hand an eine schimmernde Muschel in ihrem Ohr und raunte Malcolm etwas zu. Sofort wich sämtliches Blut aus dem Gesicht des ohnehin sehr blassen Obersten Hexenmeisters von Los Angeles.
»Du meine Güte! Bitte entschuldigt mich. Unsere Sirenen haben es sich neben dem Champagnerbrunnen bequem gemacht und versuchen jetzt, die Gäste darin zu ertränken.« Er hastete davon.
»Du warst auf dem Schattenmarkt«, wandte Alec sich an Johnny Rook, als er ihn wiedererkannte.
»Du hast mich noch nie zuvor gesehen«, entgegnete Johnny. »Selbst jetzt siehst du mich nicht.« Und damit hastete er aus dem Ballsaal.
Alec beobachtete den gesamten Raum mit verschlossener, argwöhnischer Miene. Viele Gäste erwiderten seinen Blick mit mindestens ebenso großem Misstrauen.
Magnus verstand das durchaus – schließlich hatte er einen »Gesetzeshüter« zur Party mitgebracht. Umgekehrt konnte er Alec keine Vorwürfe machen, weil er misstrauisch war. Fast alle Schattenweltler hatten eine blutbefleckte Vergangenheit: Vampire saugten Blut, die Magie von Feen- und Hexenwesen lief gelegentlich aus dem Ruder, Werwölfe verloren manchmal die Beherrschung und andere Leute dadurch ihre Gliedmaßen. Andererseits konnte Magnus es seinen Mitschattenweltlern nicht verübeln, dass sie auf der Hut waren: Vor nicht allzu langer Zeit hatten die Nephilim ihre Wände noch mit den Köpfen »erlegter« Schattenwesen geschmückt.
»Hey, Magnus!«, rief eine Hexe in einem schlichten, grünen Kleid und mit weißer Pestdoktormaske über der dunkelblauen Haut.
Magnus wirkte höchst erfreut über ihre Anwesenheit.
»Hallo, Liebes«, sagte er und umarmte sie herzlich. Nachdem
er sie von den Füßen gehoben und wieder abgesetzt hatte, stellte er sie voller Stolz seinen Begleitern vor: »Alec, Shinyun, das hier ist Catarina Loss. Sie zählt zu meinen ältesten Freunden.«
»Ah, ich habe schon eine Menge über dich gehört, Alexander Lightwood«, sagte Catarina.
Alec zog eine beunruhigte Miene.
Magnus wünschte sich so sehr, dass sie einander mochten. Angespannt beobachtete er, wie sich die beiden beäugten. Aber gut – solche Dinge brauchten nun mal Zeit.
»Kann ich dich kurz sprechen, Magnus?«, fragte Catarina. »Unter vier Augen?«
»Ich mach mich mal auf die Suche nach unserer Steinziege«, sagte Shinyun und marschierte davon.
Catarina sah ihr verwirrt nach. »Das ist nur eine ihrer blumigen Redensarten«, erklärte Magnus. »Du musst wissen, sie hat eine geheimnisvolle Vergangenheit.«
»Ich sollte mich ebenfalls auf den Weg machen«, sagte Alec. Er trabte los, schloss zu Shinyun auf und beriet sich mit ihr. Magnus hatte den Eindruck, dass sie darüber sprachen, wer welchen Teil des Gebäudes durchsuchen sollte.
»Wir treffen uns dann wieder hier im Foyer!«, rief Magnus ihm nach. Alec hielt einen Daumen hoch, ohne sich jedoch zu ihm umzudrehen.
Catarina packte Magnus am Ellbogen und zog ihn mit sich, wie eine Lehrerin einen ungezogenen Schüler. Hinter der nächsten Ecke fanden sie einen kleinen Erker, in dem die Musik und der Partylärm gedämpfter klangen. Mit finsterer Miene schaute Catarina zu Magnus hoch.
»Ich habe vor Kurzem eine ganze Reihe von Tessas Wunden behandelt, die ihr laut ihrer Aussage von Mitgliedern eines Dämonenkultes zugefügt worden sind«, knurrte Catarina. »Sie
meinte, du würdest dich – und ich zitiere – mit diesem Kult ›beschäftigen‹. Was ist da los? Kannst du mir das mal erklären?«
Magnus zog eine Grimasse. »Ich hatte möglicherweise bei der Gründung dieses Kults die Hand im Spiel.«
»Wie viele Finger einer Hand?«
»Nun ja, ehrlich gesagt: beide Hände.«
Catarina schnaubte aufgebracht. »Und ich hatte dich noch eindrücklich ermahnt, dass du das nicht tun solltest!«
»Tatsächlich?«, fragte Magnus. Hoffnung keimte in ihm auf. »Dann erinnerst du dich daran und weißt, was passiert ist?«
Sie warf ihm einen besorgten Blick zu. »Du denn nicht?«
»Irgendjemand hat mir sämtliche Erinnerungen an diesen Kult genommen«, berichtete Magnus. »Aber ich weiß nicht, wer oder warum.«
Er klang verzweifelter, als ihm lieb war – verzweifelter, als er sein wollte. Seine alte Freundin betrachtete ihn mitfühlend.
»Leider weiß ich überhaupt nichts darüber«, sagte sie. »Ich war mit dir und Ragnor ein paar Tage weggefahren. Damals hast du einen unglücklichen Eindruck gemacht, die Situation aber mit deinen Scherzen zu überspielen versucht, wie üblich. Ihr beide hattet angeblich eine fantastische Idee zur Gründung eines Scherzkultes. Daraufhin habe ich euch gesagt, ihr solltet die Finger davonlassen. Das ist auch schon alles.«
Catarina, Ragnor und er hatten im Lauf der Jahrhunderte viele gemeinsame Reisen unternommen. Bei einem besonders denkwürdigen Ausflug hatte man Magnus aus Peru verbannt. Er hatte diese Abenteuer immer sehr genossen. Die gemeinsame Zeit mit seinen Freunden kam für ihn fast einem Zuhause gleich.
Allerdings wusste er nicht, ob es je zu weiteren Reisen kommen würde. Ragnor war tot, und Magnus hatte möglicherweise etwas Schreckliches getan
.
»Warum hast du mich nicht aufgehalten?«, fragte er. »Normalerweise bringst du mich doch zur Vernunft!«
»Ich musste mich um ein Waisenkind kümmern und es auf die andere Seite des Atlantiks schaffen, um ihm das Leben zu retten.«
»Okay«, sagte Magnus. »Das ist natürlich ein guter Grund.«
Catarina schüttelte den Kopf. »Kaum lässt man dich eine Sekunde aus den Augen …«
Sie hatte jahrzehntelang in New Yorker Krankenhäusern als Schwester gearbeitet. Sie rettete Waisenkinder und heilte die Kranken. Catarina war in ihrem Trio schon immer die Stimme der Vernunft gewesen.
»Dann habe ich also mit Ragnor die Gründung eines Scherzkultes geplant und vermutlich auch umgesetzt. Doch jetzt hat sich dieser Scherzkult zu einem richtigen Kult entwickelt, und er hat einen neuen Anführer. Allem Anschein nach beten die Kultmitglieder einen Dämonenfürsten an.«
Nicht einmal Catarina gegenüber wollte er den Namen seines Vaters erwähnen.
»Das klingt ganz so, als wäre euer Scherz ein wenig aus dem Ruder gelaufen«, sagte Catarina trocken.
»Das klingt ganz so, als ginge der Scherz zu meinen Lasten. Überall kursieren Gerüchte, dass ich
der neue Anführer bin. Ich muss diese Typen finden. Kennst du einen Mann namens Mori Shu?«
Catarina schüttelte den Kopf. »Du weißt doch, dass ich niemanden kenne.«
Eine Gruppe betrunkener Feenwesen torkelte vorbei. Die Feierlichkeiten legten an Dezibel und Wildheit eindeutig einen Zahn zu. Catarina wartete, bis die Elben verschwunden waren, bevor sie sich wieder an Magnus wandte.
»Du steckst in diesem Schlamassel und tauchst hier dennoch
mit einem Schattenjäger an deiner Seite auf?«, fragte sie in forderndem Ton. »Magnus, ich weiß zwar, dass du mit ihm zusammen bist, aber allmählich hört der Spaß auf. Es ist seine Pflicht
, dem Rat zu berichten, dass du der Gründer dieses Kultes bist. Die Ratsmitglieder werden all diese Gerüchte ohnehin irgendwann erfahren – egal ob dein Lightwood ihnen nun davon erzählt oder nicht. Und die Nephilim werden nicht lange nach einem anderen Schuldigen suchen. Sie dulden keine Schwäche. In ihren Herzen ist kein Platz für Mitleid oder Erbarmen. Ich habe selbst erlebt, wie die Kinder des Erzengels Personen aus ihren eigenen Reihen getötet haben, weil diese gegen ihr kostbares Gesetz verstoßen haben. Magnus, wir reden hier über dein Leben.«
»Catarina, ich liebe ihn«, erwiderte Magnus.
Sie starrte ihn an. Ihre Augen waren von der Farbe des Ozeans, von Stürmen aufgewühlt und mit versunkenen Schätzen tief unter den Wellen. Während verschiedener Pestepidemien hatte sie die Schnabelmaske eines echten Pestdoktors getragen. Sie hatte so viele Tragödien miterlebt – und sie beide wussten, dass die schlimmsten Tragödien aus Liebe entstanden.
»Bist du dir sicher?«, fragte sie leise. »Du hoffst immer das Beste, aber dieses Mal ist jede Hoffnung zu gefährlich. Dieses Mal könnte die Hoffnung dich schwerer verletzen als je zuvor. Diese Hoffnung könnte deinen Tod bedeuten.«
»Ich bin mir sicher«, sagte Magnus. »Ob ich mir auch sicher bin, dass wir eine gemeinsame Zukunft haben?« Er dachte an das Gefühl kühler Distanz zwischen Alec und ihm vor dem Betreten der Party. Und an all die Geheimnisse, die er noch immer hütete. »Nein. Doch ich bin mir sicher, dass ich ihn liebe.«
Catarina sah ihn traurig an. »Aber liebt er dich auch?«
»Ja, zumindest im Moment«, antwortete Magnus. »Wenn du mich jetzt entschuldigen würdest: Ich muss mich auf die Suche nach der Steinziege machen, falls du verstehst, was ich meine.
«
»Nein«, sagte Catarina. »Aber trotzdem viel Glück.«
Die nächste Stunde widmete Magnus sich ganz der Suche nach dieser blöden Ziege. Er beschloss, das Erdgeschoss zu durchstöbern, da Shinyun und Alec in andere Richtungen verschwunden waren. Gewissenhaft inspizierte er Raum für Raum: zuerst das Wohnzimmer, dann den Musiksalon und anschließend den Spielraum, wobei er seine Magie dezent einsetzte, um versteckte Riegel, Hebel oder Schalter zur Öffnung von Geheimgängen aufzuspüren. Leider war der gesamte Palazzo so von Partyzaubern erfüllt, dass sämtliche seiner Aufdeckungsformeln verzerrt und ergebnislos zu ihm zurückkehrten.
Magnus gab jedoch nicht auf und nahm sich Zeit, jeden noch so überfüllten Raum gründlich zu überprüfen. Unauffällig fuhr er mit der Hand über die üblichen Stellen, drehte Kerzenständer, zog Bücher aus dem Regal, drückte gegen Statuen. Als er an einem Klingelzug zupfte, entpuppte sich dieser als Algenstrang, der einen fast vollständig unter Wasser liegenden Raum zum Vorschein brachte. Darin vergnügte sich eine Gruppe Meerjungfrauen mit einem einzelnen Vampir.
Der Vampir – ein durchgeknallter Bekannter von Magnus namens Elliott – winkte ihm so lange zu, bis sich Schaum auf dem Wasser bildete.
»Kümmert euch nicht um mich«, rief Magnus. »Planscht einfach weiter.«
Er konnte absolut nichts Ungewöhnliches entdecken.
Schließlich erreichte er den Rauchersalon am Ende des Westflügels. Ein wuchtiger Kaminsims an der Seitenwand beherrschte den üppig dekorierten Raum, in dem sich schwere viktorianische Plüschmöbel drängten. Möbel, denen jede Proportion fehlte: Ein riesiges rotes Sofa von der Größe eines Autos stand neben zwei blauen Sesseln mit hohen Rückenlehnen, die den Eindruck erweckten, als wären sie für Kinder konzipiert. An den
Wänden wechselten sich tanzende Tapeten und Messingleuchter mit Grammofonen ab, welche Jazztöne in den Raum trompeteten.
Ein anderer Dryade als der, mit dem Magnus zuvor an der Eingangstür gesprochen hatte, saß auf einer Schaukel, die von einem Kronleuchter in der Raummitte baumelte. Eine braungraue Liege hing senkrecht an der gegenüberliegenden Wand – und darauf rekelte sich eine Vampirin, als würde das Möbelstück waagerecht auf dem Boden stehen. Magnus hatte nicht gewusst, dass Malcolm sich auch mit Antischwerkraftmagie beschäftigte. Doch er schätzte den Stil des Obersten Hexenmeisters von Los Angeles.
»Du siehst aus, als könntest du eine Zigarette brauchen, Magnus Bane«, sagte eine Frauenstimme seitlich hinter ihm.
Er drehte sich um und entdeckte eine mahagonihäutige Frau in einem eleganten Metallickleid, das perfekt zu ihren bronzefarbenen Haaren passte. Ihre Maske aus Goldsternen erstreckte sich vom Scheitel bis zum Kinn und nahm die Form ihrer sternförmigen Pupillen auf.
»Hypatia«, sagte Magnus. »Danke, aber ich habe das Rauchen vor hundert Jahren aufgegeben. Damals durchlebte ich gerade eine besonders rebellische Phase.«
Hypatia Vex war eine in London ansässige Hexe mit einer Vorliebe für profitable Geschäfte und Immobilien. Im Lauf der Jahre hatten sich ihre Wege mehrfach gekreuzt, und eine Weile hatten sie einander sehr nahegestanden – doch das lag lange zurück. Über einhundert Jahre.
Magnus ließ sich ihr gegenüber in einem der etwas zu kleinen Lehnsessel nieder. Hypatia schlug die Beine übereinander, beugte sich vor und nahm einen langen Zug von ihrer Zigarette. »Ich habe ein ziemlich hässliches Gerücht über dich gehört.«
Magnus kreuzte ebenfalls die Beine, lehnte sich aber zurück. »Schieß los. Ich liebe ziemlich hässliche Gerüchte.
«
»Stimmt es, dass du einen Kult namens die Blutrote Hand zu Ruhm und Vernichtung führst?«, fragte Hypatia. »Du böser Junge!«
Vermutlich durfte es ihn nicht überraschen, dass Hypatia von dem Kult wusste. Im Gegensatz zu dem kleinen Fisch Johnny Rook war Hypatia eine große Nummer. Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts hatte sie einen Schattenweltlersalon geführt, das Epizentrum eines jeden Londoner Skandals. Magnus erinnerte sich an all die Geheimnisse, die ihr damals schon bekannt gewesen waren – und bestimmt hatte sie seitdem nicht geruht und zahlreiche weitere gesammelt.
»Ich kann nicht leugnen, dass ich im Allgemeinen ein böser Junge bin«, räumte Magnus ein. »Aber Ruhm und Vernichtung sind so gar nicht mein Stil. Das Gerücht ist vollkommen unbegründet.«
Hypatia zuckte anmutig die Achseln. »Es erschien mir in der Tat weit hergeholt. Aber gerade in den letzten Tagen verbreitet es sich wie ein Lauffeuer. Möglicherweise solltest du mal darüber nachdenken, welchen Eindruck das macht: Du führst einen Kult an und
bist mit einem Schattenjäger zusammen? Noch dazu nicht mit irgendeinem Schattenjäger, sondern mit dem Sohn zweier ehemaliger Mitglieder von Valentins Kreis.«
»Das ist kein Gerücht …«
»Freut mich zu hören«, sagte Hypatia. »Der Junge klingt nach einer Katastrophe.«
»Sondern eine Tatsache«, fuhr Magnus fort. »Und er ist einfach hinreißend.«
Der Ausdruck auf Hypatias Gesicht war ein Bild für die Götter: Nie zuvor hatte Magnus sie so schockiert erlebt.
»Du tätest gut daran, nicht zu vergessen, dass du einer der prominentesten Hexenmeister der Welt bist«, sagte sie, als sie sich einigermaßen erholt hatte. »Da draußen gibt es viele
Schattenweltler, die dich als ein Vorbild betrachten. Auf dich sind viele Augen gerichtet.«
»Normalerweise liegt das an meinem feschen Erscheinungsbild«, erwiderte Magnus.
»Das ist kein Witz«, sagte Hypatia scharf.
»Hypatia«, setzte Magnus an, »wir kennen uns nun schon viele Jahre. Habe ich mich jemals dafür interessiert, welchen Eindruck irgendetwas erweckt?«
Ihre Goldohrringe schwangen gegen ihre dunkelbraune Haut, als sie den Kopf schüttelte. »Nein. Aber dir liegt etwas an anderen, und ganz bestimmt liegt dir etwas an diesem Alexander Lightwood. Vergiss nicht, dass ich weiß, wer dein Vater ist, Magnus. Schließlich haben wir uns einmal sehr nahegestanden.«
Magnus erinnerte sich zwar daran, erwiderte jedoch: »Ich wüsste nicht, was das mit Alec zu tun hat.«
»Hast du ihm von deinem Vater erzählt?«, fragte sie fordernd.
Magnus zögerte einen Augenblick, bevor er antwortete: »Nein.«
Hypatia entspannte sich etwas. »Gut. Und ich hoffe, das bleibt auch so.«
»Ich wüsste nicht, was es dich anginge, welche Dinge ich meinem Freund erzähle.«
Hypatia wählte ihre Worte mit Bedacht: »Sicher betrachtest du Alec Lightwood als über jeden moralischen Zweifel erhaben, Magnus. Und vielleicht liegst du damit sogar richtig. Aber stell dir einmal vor, in welche Situation du ihn bringst, wenn er erfährt, dass der Kongregationsrepräsentant der Hexenwesen gleichzeitig der Sohn des Dämons ist, den die Mitglieder der Blutroten Hand anbeten … ein Kult, der zurzeit für großes Chaos sorgt. Wenn ihm wirklich etwas an dir liegt, wird er dieses Wissen verschweigen. Und falls das jemals ans Licht kommt, wärt ihr beide durch eure Geheimniskrämerei kompromittiert. Di
e Geschichte hat gezeigt, dass die Nephilim nicht nur gegenüber Schattenweltlern zu großer Grausamkeit fähig sind, sondern auch gegenüber ihresgleichen. Vor allem gegenüber jenen, die sich ihren Regeln widersetzen.«
»Wir alle haben Dämonenväter, Hypatia. Das ist wohl kaum eine Überraschung«, sagte Magnus.
»Du weißt so gut wie ich, dass nicht alle Dämonen gleich sind. Nicht allen wird so viel Hass und Furcht entgegengebracht wie deinem Vater. Aber da du davon sprichst: Das hier geht uns alle an. Seit Jahrhunderten bewegen wir Hexenwesen uns auf einem schmalen Grat, was die Nephilim betrifft. Wir werden toleriert, weil unsere Fähigkeiten nützlich sind. Viele von uns unterhalten geschäftliche Beziehungen zum Rat. Du bist einer der berühmtesten Hexenmeister der Welt. Und ob es dir nun gefällt oder nicht: Die Art und Weise, wie du wahrgenommen wirst, färbt auf uns alle ab. Bitte unternimm nichts, das diese hart erkämpfte Sicherheit gefährden könnte.«
Magnus wäre gern wütend geworden und hätte Hypatia gesagt, dass sie sich gefälligst aus seinem Liebesleben herauszuhalten hatte.
Doch er sah ihr an, dass sie es ernst meinte. Der angespannte Ton in ihrer Stimme war echt: Sie hatte wirklich Angst.
Er räusperte sich und meinte: »Ich werde darüber nachdenken. Hypatia, da du immer so gut informiert bist: Kennst du jemanden namens Mori Shu?«
»Ja«, bestätigte Hypatia und lehnte sich zurück. Ihr emotionaler Ausbruch schien ihr jetzt etwas peinlich zu sein. »Gehört er nicht zu deinem Kult?«
»Das ist nicht mein
Kult«, beharrte Magnus.
»Mori Shu ist hier«, sagte Hypatia. »Ich habe ihn vor ein paar Stunden gesehen. Vielleicht solltet ihr zwei euch mal unterhalten und diese Kultgeschichte aus der Welt schaffen.
«
»Ja, vielleicht tun wir das ja.«
»Wenn ich dir einen Rat geben darf: An deiner Stelle würde ich danach diese Schattenjägerangelegenheit auch gleich aus der Welt schaffen«, sagte Hypatia.
Magnus schenkte ihr ein gnadenlos strahlendes Lächeln. »Ungebetene Ratschläge werden oft als Kritik aufgefasst, meine Liebe.«
»Tja, das ist ja dein Problem. Dann kannst du schon mal einen Sarg kaufen«, erwiderte Hypatia. »Ach, Moment mal: Gewähren die Nephilim dir überhaupt eine Bestattung, nachdem sie dich exekutiert haben?«
»Es war nett, dich wiederzusehen, Hypatia«, antwortete Magnus und verließ den Rauchersalon.
Er brauchte dringend einen Drink. Entschlossen bahnte er sich einen Weg durch die Menge, bis er eine Bar fand, wo er sich auf einem der Hocker niederließ. Dann bestellte er einen »Dark and Stormy«, der zu seiner Stimmung passte. Catarinas Sorge und Hypatias Angst hatten seinem normalerweise hoffnungsfrohen Herzen einen Dämpfer verpasst.
Die Bar befand sich vor einem Fenster, und hinter den Flaschen konnte Magnus eine weitere Tanzfläche in einem Innenhof erkennen. Schwache Musik drang aus der leuchtend grünen Blase, die die Tanzenden umgab. Er hatte sich vorgestellt, wie er mit Alec an den schönsten Orten in ganz Europa tanzen würde. Doch es war anders gekommen – alles aufgrund einer unschönen Geschichte aus Magnus’ Vergangenheit.
Magnus schnippte mit den Fingern, woraufhin ein Kristallglas in seine Hand fiel und sich ganz von selbst mit der bernsteinfarbenen Flüssigkeit aus einer Flasche im Regal füllte.
»Hallo, Fremder«, sagte Shinyun und schlenderte mit einem Glas Rotwein in der Hand zu ihm an die Bar.
Magnus prostete ihr zu. »Und, irgendetwas gefunden?
«
»Nein. Ich habe verschiedene Aufdeckungszauber eingesetzt, aber ohne eindeutiges Ergebnis.«
»Ist mir ähnlich ergangen«, sagte Magnus, nippte an seinem Glas und musterte Shinyuns regloses Gesicht. »Du nimmst diesen Kult sehr persönlich«, stellte er fest. »Du redest von der Dämonenjagd, aber du willst nicht über die Blutrote Hand sprechen. Deren Mitglieder haben nicht einfach nur jemanden getötet, den du geliebt hast. Du hast Schuldgefühle, die irgendwie mit dem Kult zusammenhängen. Worum handelt es sich dabei?«
Beide blickten auf die mit Partygästen gefüllte Tanzfläche im Innenhof. Mehrere Momente verstrichen.
»Kannst du ein Geheimnis wahren?«, fragte Shinyun.
»Das hängt von dem Geheimnis ab«, antwortete Magnus.
»Ich werde dir einfach mal trauen – du kannst damit machen, was du willst.« Sie sah ihn direkt an. »Ich … ich habe dem Kult einst angehört. Die Blutrote Hand ist zwar eine hauptsächlich von Menschen betriebene Gemeinschaft, aber sie werben auch Lilithkinder an.« In Shinyuns Stimme schwang ein sarkastischer Unterton mit, als sie fortfuhr: »Es hat einmal eine Zeit gegeben, in der ich dich verehrt habe – dich, den Großen Grimm, den heiligen Gründer und Propheten der Blutroten Hand, den Anhänger von Asmodeus.«
»Asmodeus?«, wiederholte Magnus leise, während jede Hoffnung, dass Johnny Rook und Hypatia sich doch irren könnten, endgültig davonsickerte wie Blut aus einer Wunde.
Er erinnerte sich daran, wie er vor Jahrhunderten das dringende Bedürfnis empfunden hatte, die Identität seines Vaters aufzudecken. Dabei hatte er auch herausgefunden, dass Feenblut zum Heraufbeschwören eines Dämonenfürsten genutzt werden konnte.
Selbstverständlich hatte Magnus keinem Schattenweltler Schaden zugefügt, sondern einen anderen Weg gefunden. Als
sein Vater vor ihm stand, hatte Magnus ihm ins Gesicht gesehen, mit ihm geredet und sich dann zu Tode betrübt abgewendet.
»Damals hatte natürlich niemand versucht, Asmodeus heraufzubeschwören«, berichtete Shinyun. »Dieser Kniff wurde erst später entwickelt. Aber wir haben die ganze Zeit von ihm geredet. Jedes verwaiste Lilithkind ist sein Kind, das hat der Kult immer gesagt. Ich habe mich als seine Tochter betrachtet. Jede meiner Handlungen geschah in seinem Dienst.«
Lilithkinder. Magnus wusste noch genau, wie er sich als Hexenkind gefühlt hatte: verzweifelt und allein. Damals hätte jeder seine Verzweiflung ausnutzen können.
Entsetzen erfasste ihn. Er hatte den Namen der Blutroten Hand im Lauf der Jahre immer wieder mal gehört – dieser Kult war eine Lachnummer, wie er es Tessa gegenüber formuliert hatte. Und Tessa hatte ihm beigepflichtet. Aber stellte nur der neue Anführer dieser Gruppe ein Problem dar – oder waren diese Leute schon viel länger ein Problem und hatten es geschafft, ihre wahre Natur geheim zu halten?
»Du hast mich verehrt?«, fragte Magnus. Er konnte den verzweifelten Ton in seiner Stimme nicht unterdrücken. »Ich bin froh, dass du von diesem Unsinn geheilt bist. Wie lange warst du denn Mitglied in der Blutroten Hand?«
»Viele Jahrzehnte«, sagte Shinyun bitter. »Eine ganze Lebenszeit lang. Ich habe … ich habe für die Blutrote Hand getötet. Dabei dachte ich, ich würde für dich töten … in deinem Namen.« Sie schwieg einen Moment und fuhr dann fort: »Bitte erzähl dem Schattenjäger – Alec – nicht, dass ich für diesen Kult getötet habe. Wenn du willst, kannst du ihm einfach nur sagen, dass ich dort Mitglied war.«
»Nein«, flüsterte Magnus, doch er wusste nicht, ob er das um Shinyuns willen oder um seiner selbst willen sagte. Shinyun hatte erzählt, dass sie sich als Kind von Asmodeus betrachtet
hatte. Magnus konnte sich ihr Entsetzen nur ausmalen, wenn sie erfuhr, dass er tatsächlich der Sohn dieses Höllenfürsten war. Er dachte an Hypatia und ihre Warnung, dass er Alec die Identität seines Vaters nicht verraten dürfe. Stell dir einmal vor, in welche Situation du ihn bringst. Die Geschichte hat gezeigt, dass die Nephilim nicht nur gegenüber Schattenweltlern zu großer Grausamkeit fähig sind, sondern auch gegenüber ihresgleichen.
»Viele weitere Lebenszeiten sind vergangen, seit ich mich aus den Klauen des Kults befreien konnte. Seitdem versuche ich, diese Leute zur Strecke zu bringen, aber allein war ich nicht stark genug dafür. Und dann tauchte plötzlich dieser geheimnisvolle neue Anführer auf. Ich hatte niemanden, an den ich mich wenden konnte. Ich habe mich so hilflos gefühlt.«
»Wie bist du der Blutroten Hand überhaupt beigetreten?«
Shinyun senkte den Kopf. »Ich habe dir schon mehr erzählt, als ich eigentlich wollte.«
Magnus drängte sie nicht weiter. Auch er redete nicht gern über seine Kindheit.
»Es ist sehr mutig von dir, zurückzukehren und dich deiner Vergangenheit zu stellen«, sagte er leise. »Ich würde ja gern sagen: ›dich deinen Dämonen zu stellen‹, aber die Formulierung erscheint mir etwas unglücklich.«
Shinyun schnaubte.
»Ich nehme an, du weißt nicht zufälligerweise, wo die Kammer der Blutroten Hand ist?« Shinyun schüttelte bereits den Kopf, als Magnus ohne allzu große Hoffnung hinzufügte: »Oder diese Roten Schriftrollen der Magie?«
»Mori könnte das wissen«, antwortete Shinyun. »Die Mitglieder der Blutroten Hand haben ihm mehr vertraut als mir. Wir haben uns einst nahegestanden, doch ich musste ihn bei meiner Flucht zurücklassen. Das Ganze liegt Jahre zurück – aber ich
würde ihn wiedererkennen, wenn ich ihn sehe. Und er würde mir vertrauen.«
»Er ist hier«, sagte Magnus, »angeblich.« Er schnippte mit den Fingern, woraufhin sein Glas in einem strahlenden Blitz verschwand. Dann nahm er eine Flasche Champagner aus einem Weinkühler auf der Theke. Diese Party war wirklich beeindruckend, aber Magnus fühlte sich elend. Er hatte weder ein Geheimversteck aufgespürt noch irgendwelche Anzeichen dieses aufreizend geheimnisvollen Mannes gefunden. Eigentlich hätte er jetzt gern getanzt und vergessen, dass es so viele Dinge gab, an die er sich nicht erinnern konnte.
»Ich werde mich mal nach ihm umhören«, sagte Shinyun.
»Mach das«, sagte Magnus und erhob sich von seinem Barhocker. »Ich muss mich um jemand anderes kümmern.«
Er liebte Alec und wollte ihm seine Vergangenheit mit der ganzen Wahrheit zu Füßen legen, wie gleißend schimmernde Seide. Er wollte Alec sagen, wer sein Vater war, und darauf hoffen, dass es keine Rolle spielte. Aber wie sollte er Alec etwas gestehen, an das er sich nicht erinnern konnte? Und wie konnte er Alec Geheimnisse anvertrauen, die das Potenzial besaßen, ihn zum Ziel des Rats zu machen, wie Hypatia gesagt hatte?
Natürlich vertraute er Alec. Er vertraute ihm bedingungslos. Doch Vertrauen konnte Alecs Sicherheit nicht gewährleisten. Außerdem hatte Magnus schon zuvor vertraut und sich in seinem Gegenüber getäuscht. Während er sich auf die Suche nach Alec machte, konnte er die Stimme seiner alten Freundin, die durch seinen Kopf hallte, nicht abstellen.
Aber liebt er dich auch?