22
Der Große Grimm
Die antike Villa ragte vor Magnus auf. Ihre eingefallenen Türme erhoben sich wie zerklüftete Zähne in den Himmel.
»Besonders subtil sind diese Kultanhänger ja nicht gerade«, bemerkte Magnus. Er warf einen Blick auf seine Uhr. »Alec müsste eigentlich längst hier sein.«
Shinyun stand neben ihm. Er konnte die Spannung spüren, die von ihrem gesamten Körper abstrahlte.
»Vielleicht wird er im römischen Institut festgehalten und verhört«, sagte sie. »Du weißt ja, dass die Nephilim seine Taten nicht gerade wohlwollend aufnehmen werden. Möglicherweise steckt er in gewaltigen Schwierigkeiten. Aber wenn wir noch länger auf ihn warten, verpassen wir unsere einzige Chance, die Anhänger der Blutroten Hand zu finden.«
Laut Shinyuns Informantin trafen sich leitende Mitglieder des Kults mit einer Gruppe potenzieller Kandidaten in dieser Villa. Vielleicht war sogar ihr Anführer anwesend.
Alec hätte gewollt, dass Magnus auf ihn wartete. Magnus wollte das eigentlich auch. Aber Shinyun hatte recht. Alec saß möglicherweise im römischen Institut fest und beantwortete Fragen, auf die er keine richtigen Antworten hatte – und das war alles nur Magnus’ Schuld .
Am besten wäre es, wenn er den Anführer schnappen und der Blutroten Hand ein Ende setzen würde. Das würde die Nephilim zufriedenstellen und bewirken, dass sie Alec von jedem Verdacht freisprachen.
»Dieses Treffen ist vielleicht unsere einzige Chance«, bekräftigte Shinyun erneut.
Magnus atmete tief durch und kam zu der Überzeugung, dass seine zögerliche Haltung absurd war. Hier gab es nichts, was er nicht allein bewältigen konnte. Schließlich war er früher auch immer gut ohne fremde Hilfe ausgekommen.
»Nach dir, Shinyun«, sagte er und zeigte auf die Villa.
Gemeinsam betraten sie das Gebäude. Bei dem Eingangsbereich musste es sich früher allem Anschein nach um einen Stall gehandelt haben. Sie machten sich daran, einen Raum nach dem anderen zu durchsuchen. Die Villa war schon vor langer Zeit geplündert worden: Zertrümmerte Schränke, zerrissene Wandteppiche und scharfe Glasscherben bedeckten die Böden. Die Natur hatte bereits damit begonnen, sich das Gelände langsam zurückzuerobern. Unkraut und Ranken waren durch Risse in Mauern und Fenstern gedrungen. In der feuchten Luft hing der penetrante Geruch von muffigem Brackwasser, der Magnus Schwindelgefühle und sogar Atemprobleme bereitete.
»Bösartigkeit kann manchmal entschuldigt werden. Aber Verwahrlosung nie«, murmelte Magnus.
»Wirst du jemals aufhören, über alles und jeden Witze zu reißen?«, knurrte Shinyun.
»Eher unwahrscheinlich«, erwiderte Magnus.
Kurz darauf erreichten sie einen lang gezogenen Raum mit niedriger Decke und zerbrochenen Regalen. Vor langer Zeit hatte er vermutlich mal als Vorratskammer gedient, doch jetzt lagen überall verrottende Holzplanken und geborstene Steine herum, und an den Wänden wucherten Ranken wie riesige Spinnweben. Wasser hatte sich an einer Stelle im Boden gesammelt, wo die Steinplatten eingesunken waren. Shinyun hielt einen Finger hoch und verharrte regungslos. Angespannt lauschte Magnus in die Stille. Da! Endlich ein Geräusch … der schwache Hall psalmodierender Stimmen.
Shinyun wies auf das andere Ende des Raums und schlich in weitem Bogen um die Wasserlache herum. In dem Moment, in dem sie den hinteren Durchgang passieren wollte, rasselte ein eisernes Fallgitter – das sich ganz offensichtlich in einem wesentlich besseren Zustand befand als der Rest des Gebäudes – vor ihrer Nase von der Decke herab.
Rasch lief Magnus zum Durchgang, durch den sie den Raum betreten hatten, doch es war bereits zu spät. Erneut ertönte ein Rasseln, und ein weiteres Fallgitter versperrte auch ihm den Weg. Magnus umklammerte die Eisenstangen und rüttelte daran, aber es rührte sich nicht. Sie saßen in der Falle.
Auch Shinyun kämpfte mit ihrem Fallgitter, und Magnus durchquerte den Raum, um ihr zu helfen. Doch es war zwecklos; das Gitter war viel zu schwer. Magnus trat einen Schritt zurück und nahm all seine magischen Kräfte zusammen, um die Eisenstangen zu Staub zu zertrümmern. Seine Hand leuchtete dunkelblau auf, und ein Energiestrahl entströmte seinen Fingerspitzen. Aber er erlosch, bevor er das Gitter erreichte.
Magnus fühlte sich unverhältnismäßig schwach, so als hätte er gerade eine gewaltige magische Formel gesprochen statt dieses Standardzaubers. Er blinzelte, weil er fühlte, wie seine Sicht immer verschwommener wurde.
»Stimmt was nicht?«, fragte Shinyun.
Magnus machte eine wegwerfende Handbewegung. »Nein, alles in Ordnung.«
Shinyun nahm einen großen Stein vom Boden und hämmerte damit gegen die rostüberzogenen Stellen der Eisenstangen. Magnus dagegen zog sich in die Mitte des Raums zurück.
»Was hast du vor?«, fragte Shinyun.
Plötzlich bildete sich ein grüner Trichter um ihn herum und peitschte seinen Mantel und seine Haare nach hinten. Magnus versammelte jedes Quäntchen Magie in seinem Körper, um dem Trichter mehr Kraft zu verleihen. Die Anstrengung war so gewaltig, dass die Zauberformel beinahe zerbarst – und mit einem lauten Schrei verlagerte Magnus seine letzten Kraftreserven auf den heulenden Tornado und richtete ihn auf den Torbogen, durch den sie den Raum betreten hatten. Das Eisen quietschte und ächzte – und dann löste sich das Fallgitter aus seiner Verankerung, flog durch den Gang, verschwand in der Dunkelheit und krachte klirrend gegen irgendeine weit entfernte Mauer.
Keuchend sank Magnus auf die Knie. Mit seiner Magie stimmte irgendetwas nicht. Und zwar ganz und gar nicht.
»Wie hast du das geschafft?«, fragte Shinyun leise. »Wie kommt es, dass du so stark bist? Aber jetzt hast du doch bestimmt keine Kraft mehr übrig.«
Magnus zwang sich aufzustehen und torkelte auf den freien Durchgang zu.
»Ich verschwinde von hier.«
In dem Moment, in dem er an Shinyun vorbeigehen wollte, streckte sie den Arm aus und packte ihn an der Vorderseite seines T-Shirts. »Ich fürchte, das wirst du nicht.«
Magnus musterte ihr regloses Gesicht im dämmrigen Licht. Sein Puls raste in seinen Ohren und signalisierte Gefahr. Doch viel zu spät.
»Wie ich sehe, ist mein vertrauensvolles Naturell mal wieder missbraucht worden«, sagte er.
Shinyun wirbelte um die eigene Achse und nutzte Magnus’ Gewicht als Schwungmasse, um ihn durch den halben Raum zu schleudern. Als er versuchte, sich aufzurappeln, traf ihn ein Tritt gegen die Brust und sandte ihn erneut derart heftig zu Boden, dass er gegen das verbliebene Fallgitter prallte. Dann hörte er das Geräusch von klirrendem Metall, und kurz darauf wurde das Gitter knirschend nach oben gehievt. Mehrere kräftige Hände schlossen sich um seine Arme. Doch seine Sicht war so verschwommen, dass er kaum noch etwas erkennen konnte.
Man hat mir einen Trank verabreicht, der mir meine Gestaltwandlungsfähigkeiten nahm, hatte Tessa ihm erzählt. Er hätte daran denken sollen.
»Du hast im Aqua Morte Gift in meinen Wein gemischt«, wandte er sich an Shinyun, obwohl ihm das Sprechen Mühe bereitete. »Und hast mich mit einer rührseligen Geschichte abgelenkt. War das alles gelogen?«
Shinyun kniete sich neben ihm auf die feuchten Steine. Er konnte nur die Umrisse ihres Gesichts ausmachen – wie eine in der Dunkelheit schwebende Maske.
»Nein«, flüsterte sie. »Ich musste dafür sorgen, dass du Mitleid mit mir hattest. Deshalb musste ich dir die Wahrheit sagen. Noch so eine Sache, die ich dir niemals verzeihen werde.«
Magnus wachte in einem Verlies auf – was ihn jedoch nicht überraschte.
Von der Decke tropfte Wasser alle paar Sekunden auf seine Stirn und erinnerte ihn wieder an die Methoden der Stillen Brüder, ihm Disziplin beizubringen, damit er im Unterricht nicht ständig dazwischenquatschte.
Ein Teil des Wassers rann in seinen Mund. Angewidert spuckte Magnus es aus. Hoffentlich handelte es sich wirklich nur um Wasser. Auf jeden Fall schmeckte es faulig. Er blinzelte und versuchte, sich in seiner Umgebung zurechtzufinden. Offenbar war er von einer runden, fensterlosen Mauer umgeben, mit einem Eisengitter, das in einen noch dunkleren Bereich führte, und einem Loch auf der anderen Seite, bei dem es sich entweder um einen alten Fluchtweg handelte oder um eine Latrine. Dem Geruch nach zu urteilen vielleicht sogar ja um beides.
»Jetzt ist es offiziell: Das ist der schlimmste Urlaub aller Zeiten«, murmelte er aufgebracht.
Als er nach oben blickte, entdeckte er schwaches Mondlicht, das durch einen runden Gitterrost fiel. Es wirkte, als wäre er auf dem Boden einer Zisterne oder eines Brunnens, doch im Grunde war es fast egal. Ob nun Grube, Verlies oder Brunnenboden – er saß hier fest.
Seine Geiselnehmer hatten seine Hände über dem Kopf an die Wand gekettet, und er saß auf einem Heuhaufen, der den Eindruck erweckte, als hätte er den Verdauungstrakt eines Pferds bereits passiert. Der Boden darunter bestand aus Steinplatten, was die Vermutung nahelegte, dass er sich noch immer auf dem Gelände der Villa befand. Magnus musste schlucken. Sein Gesicht und Hals schmerzten. Sehr sogar. Jetzt hätte er wirklich einen Drink brauchen können.
Hoffentlich steckte Alec tatsächlich im römischen Institut fest und war nicht zu dem Treffpunkt aufgebrochen, zu dem Shinyun ihn geschickt hatte. Denn dabei handelte es sich definitiv nicht um diese Villa – das war ihm inzwischen klar. Am Institut wäre Alec zumindest in Sicherheit.
Plötzlich tauchte auf der anderen Seite des Gitters eine Silhouette auf. Metall klirrte, und ein Scharnier quietschte, als das Tor aufschwang.
»Keine Sorge«, sagte Shinyun. »Das Gift wird dich nicht töten.«
»›Denn das übernehme ich‹«, psalmodierte Magnus. Shinyun starrte ihn blinzelnd an. »Das wolltest du doch gerade sagen, oder nicht?«, fragte er und schloss die Augen – er hatte schreckliche Kopfschmerzen .
»Ich habe das Gift sehr genau dosiert«, erwiderte Shinyun. »Gerade so viel, dass es dich außer Gefecht setzt und dir deine Magie nimmt. Ich will, dass du auf den Beinen und bei vollem Bewusstsein bist, wenn du deinem ach so ruhmreichen Schicksal gegenübertrittst.«
Das klang nicht gut. Als Magnus die Augen öffnete, stand Shinyun direkt vor ihm. Sie trug ein schneeweißes Gewand, mit silbernen Stickereien an Kragen und Ärmeln.
»Mein ruhmreiches Schicksal?«, fragte Magnus. »Es handelt sich immer um ein ruhmreiches Schicksal. Ist dir das schon mal aufgefallen? Niemand redet jemals von einem mittelmäßigen Schicksal.«
Shinyun schüttelte den Kopf. »Nein. Mein Schicksal wird ruhmreich sein. Du verdienst keinen Ruhm. Du hast diesen Kult zum Spaß gegründet. Hast Leute veranlasst, anderen Streiche zu spielen und die Kranken zu heilen. Du hast Asmodeus’ Namen zum Gegenstand des Spottes gemacht.«
»Spott ist die beste Verwendung, die ich für seinen Namen habe«, murmelte Magnus.
»Wir hätten beide Asmodeus treu ergeben sein müssen«, knurrte Shinyun wütend. »Du warst einer seiner Favoriten. Doch du bist seiner nicht würdig.«
»Er ist meiner nicht würdig«, bemerkte Magnus.
Doch Shinyun brüllte ihn an: »Ich bin deinen endlosen Spott und deine Missachtung so leid! Wir verdanken Asmodeus unser Leben. Ich werde niemals so sein wie du. Ich werde meinen Vater niemals hintergehen!«
»Deinen Vater ?«, wiederholte Magnus.
Shinyun schenkte seiner Frage keine Beachtung.
»Ich war fünf Tage lang lebendig begraben gewesen, als die Mitglieder der Blutroten Hand mich fanden. Sie haben mir erzählt, dass Asmodeus sie geschickt hatte, um seine Tochter zu retten. Die Anhänger meines Vaters haben mich vor dem Tod bewahrt, denn mein Vater wacht immer über mich. Meine sterbliche Familie hat mich hintergangen – und dafür habe ich sie umgebracht. Asmodeus ist der Einzige, der mich liebt … der Einzige, den ich lieben werde. Ich habe die Blutrote Hand von einer Farce in einen wahrhaften Kult verwandelt, und jetzt wird es Zeit, diese letzte Beleidigung aus der Welt zu schaffen. Jetzt ist der Moment gekommen, dich, den Großen Grimm, zu vernichten. Ich werde dich töten, weil du Asmodeus beleidigt hast. Ich werde ihm dein ewiges Leben als Opfer darbringen und ihn dann auf diese Welt loslassen und danach bis in alle Ewigkeit als seine geliebte Tochter an seiner Seite sitzen.«
»Hm, wo wir gerade davon reden …«, erwiderte Magnus. »Wenn du die Macht eines Höllenfürsten besitzen würdest, wäre mir das aufgefallen.«
»Wenn irgendein Hexenwesen die Macht eines Höllenfürsten besäße, würde er oder sie diese Welt bereits beherrschen«, schnaubte Shinyun ungeduldig. »Alle Hexenwesen sind Asmodeus’ Kinder, wenn sie sich als würdig erweisen. Das hat mich die Blutrote Hand gelehrt.«
»Dann hast du Asmodeus also … adoptiert ?«, fragte Magnus. »Oder hat er dich adoptiert?«
Schweigend betrachtete er sie. Natürlich gefiel es ihm nicht, dass er in diesem Verlies hockte. Und noch weniger gefiel ihm die Aussicht darauf, sein unrühmliches Schicksal zu erfüllen.
Dennoch konnte er Shinyun nicht hassen. Er verstand noch immer, warum sie so geworden war, erkannte deutlich die Kräfte, die sie geformt hatten, sah den Schatten, den seine eigene Hand über ihre Vergangenheit geworfen hatte.
»Sieh mich nicht so an! Ich brauche dein Mitleid nicht.« Shinyun trat einen Schritt vor und schloss ihre Hände so fest um Magnus’ Hals, dass er nach Luft schnappte und zu röcheln begann. Hexenwesen besaßen zwar ewiges Leben, waren aber nicht unverwundbar. Ohne Sauerstoff würde auch er sterben. »Du warst seiner nie würdig«, flüsterte sie, während Magnus um Luft rang. »Meine Anhänger hätten dir niemals folgen dürfen. Mein Vater hätte dich niemals anerkennen dürfen. Dein Platz steht nur mir zu.«
Offenbar wurde ihr in diesem Moment bewusst, dass sie aus dem Ritualopfer für ihren sogenannten Vater jegliches Leben herausquetschte, und sie gab Magnus frei.
Nach Luft schnappend sackte Magnus zusammen, nur gehalten von den Ketten um seine Handgelenke.
»Warum?«, krächzte er. »Während der ganzen Zeit hast du uns nur geholfen, um mich in diese Falle zu locken. Warum hast du mich nicht bereits in Paris überfallen oder im Orientexpress oder bei irgendeiner anderen Gelegenheit? Wieso hast du diese Scharade aufgeführt?«
»Alec.« Shinyun stieß den Namen aus, als wäre er giftig. »Jedes Mal, wenn ich kurz davor stand, dich zu überwältigen, hat er sich mir in den Weg gestellt. Auf dem Pariser Schattenmarkt hatte ich dich bereits in die Enge getrieben … bis er am Eingang der Gasse auftauchte. Im Orientexpress hatten wir dich gerade im Griff, als er sich plötzlich daran machte, meine Dämonen wie Unkraut niederzumähen. Alec hat sämtliche Raumdämonen und fast alle der Ravener erledigt. Mir blieb nur noch meine verstümmelte Brutmutter übrig. Aber ich konnte nicht darauf vertrauen, dass sie diese Aufgabe erfolgreich zu Ende bringen würde. Und ich durfte nicht riskieren, dich aus den Augen zu verlieren. Deshalb beschloss ich, möglichst nah bei dir zu bleiben.«
Shinyuns Lachen klang anders als zuvor: grausam, hohl und bitter.
»Im Lauf der Jahrhunderte habe ich sehr viel Erfahrung darin gesammelt, anderen im Auftrag meines Vaters etwas vorzumachen. Mein Gesicht ist ein Geschenk, damit ich Asmodeus besser dienen kann. Niemand kann sehen, was ich wirklich empfinde. Alle projizieren ihre Wünsche auf die Maske und vergessen dabei, dass ich unter der Maske echte Gefühle habe. Ich gebe ihnen, was sie sehen wollen, und sage ihnen, was sie hören wollen. Aber dieser Schattenjäger wollte nichts von mir. Und bei dir zog nur der Versuch, dein Mitleid zu erregen. Ich habe diese Scharade abgrundtief gehasst. Ich habe dich die ganze Zeit abgrundtief gehasst, aber es ist mir nicht gelungen, ihn davon abzubringen, über dich zu wachen und dich zu beschützen. Er war ständig auf der Hut. Irgendwann ist mir klar geworden, dass ich dich nur niederstrecken kann, wenn ich dich zuerst von Alexander Lightwood trenne.«
Magnus dachte daran, wie sehr er es bedauert hatte, dass Alec zum römischen Institut gefahren war. Doch jetzt war er dankbar dafür. Alec war dort in Sicherheit – und Magnus konnte sich jeder Gefahr stellen, solange Alec sich in Sicherheit befand.
Shinyun schnippte mit den Fingern, woraufhin mehrere Männer das Verlies betraten. Sie trugen alle weiße Roben, und ihre Gesichter wirkten finster.
»Bring ihn in die Grube, Bernard«, befahl Shinyun.
»Nein, bring mich nicht in die Grube, Bernard«, schlug Magnus vor. »Ich hasse das Wort ›Grube‹. Es klingt unheilvoll und dreckig. Ach ja: Hallo, bösartiges Kultmitglied Bernard!«
Bösartiges Kultmitglied Bernard warf Magnus einen verärgerten Blick zu. Er war spindeldürr; seine dunklen Haare waren so nach hinten geschleimt, dass sein spitzes Kinn mit den spärlichen Barthaaren betont wurde, was ihm eine Aura von Möchtegern-Autorität verlieh. Er löste die Fesseln von Magnus’ Handgelenken mit unnötiger Brutalität. Magnus sackte zu Boden, durch nichts mehr auf den Beinen gehalten. Im Moment stellte sogar Bernard eine ernste Bedrohung für ihn dar. Entschlossen zwang Magnus sich auf die Füße, fühlte sich aber elend, schwindlig und seiner Magie beraubt.
Shinyun war bei der Dosierung des Gifts kein Risiko eingegangen. Offensichtlich wollte sie nicht, dass Magnus in dieser ominösen Grube auch nur den Hauch einer Chance hatte.
»Ach ja, noch was«, sagte Shinyun, mit einem Unterton, als würde sie dabei lächeln.
Sie trat dicht an Magnus heran.
»Ich habe dich an einen Ort ohne Handyempfang geführt und außerdem dein Gerät außer Betrieb gesetzt. Und ich habe Alec in deinem Namen kontaktiert.« Sie lächelte. »Ich habe euch beiden eine Falle gestellt. Alec Lightwood müsste bald tot sein.«
Magnus konnte sich jeder Gefahr stellen, solange Alec sich in Sicherheit befand.
In Magnus’ Kopf explodierte etwas – ein gellender Schrei der Sorge und Wut. Eine Wut, die er sich nur äußerst selten gestattete. Eine Wut, die von seinem Vater stammte. Magnus stürzte sich auf Shinyun. Doch Bernard und die anderen Kultmitglieder ergriffen seine Arme und hielten ihn fest. Hellblaue Funken sprühten matt von seinen Fingerspitzen.
Shinyun tätschelte Magnus’ Gesicht so hart, dass es fast einer Ohrfeige gleichkam.
»Ich hoffe doch sehr, dass du dich von deinem Engelskind ordentlich verabschiedet hast, Magnus Bane«, raunte sie. »Denn ich kann mir nicht vorstellen, dass ihr euer Leben nach dem Tod am gleichen Ort verbringen werdet.«